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Zur Problematik einer idealtheoretischen Grundlage für das Verständnis von zivilem Ungehorsam das Verständnis von zivilem Ungehorsam

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 197-200)

Zweitens: Warum wir trotzdem von zivilem Ungehor- Ungehor-sam im Digitalen reden sollten

4. Digitaler ziviler Ungehorsam im liberalen Verständnis

4.2. Zur Problematik einer idealtheoretischen Grundlage für das Verständnis von zivilem Ungehorsam das Verständnis von zivilem Ungehorsam

Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit wird ausgehend vom methodologischen Standpunkt der Idealtheorie entworfen. Er geht von idealen Umständen einer Gesellschaft aus, die der Wirklichkeit bewusst nicht entsprechen, jedoch im Rahmen dessen bleiben, was zumindest theoretisch möglich sei als realisti-sches Utopia, in dem Prinzipien der Gerechtigkeit die Institutionen und Wirk-mechanismen einer Gesellschaft bestimmen. Der Ausgangspunkt einer idealen Gesellschaft ist aus Rawls’ Sicht ein notwendiger methodischer Schritt als ge-dankliche Vorstufe, um Probleme einer nicht-idealen Welt zu erörtern (vgl.

Stemplowska & Swift 2012).

Einerseits gebe die Idealtheorie der Gesellschaft ultimative Ziele als Referenz für den Umgang mit Problemen der nicht-idealen Welt vor; andererseits ermög-liche nur ein Ideal absoluter Gerechtigkeit eine Einschätzung der Schwere einer Verletzung von Gerechtigkeitsprinzipien. Eine strenge Grundannahme einer solchen Idealtheorie ist, dass den Prinzipien der Gerechtigkeit nahezu von je-dem Gesellschaftsmitglied und unter allen Umständen Folge geleistet wird. Die zweite und strukturellere Grundannahme ist die Existenz einer »well-ordered society under favorable circumstances« (Rawls 1971: 216), worunter Rawls die wirtschaftlichen wie auch sozial- und bildungspolitischen Voraussetzungen versteht, die einen Verfassungsstaat begründen und erhalten sollten (den er als einzige wohlgeordnete Gesellschaft ansieht).

Allgemein ist der Ansatz der Idealtheorie in der politischen Philosophie aus mehreren Gründen umstritten. Zunächst lässt sich bezweifeln, ob die Utopie eines Idealzustands einer gerechten Gesellschaft tatsächlich dabei behilflich ist, mit Ungerechtigkeiten der Welt umzugehen, oder auch nur dazu beiträgt, diese besser beurteilen zu können. Wie beispielsweise Amartya Sen argumen-tiert, können Ungerechtigkeiten auch durch das Abwägen von verschiedenen Handlungsoptionen gegeneinander erkannt werden, ohne dass dabei ein Ideal-zustand als Maßstab notwendig oder auch nur hilfreich wäre (vgl. Stemplowska

& Swift 2012: 7). Im Gegenteil habe der idealtheoretische Ansatz sogar einen verzerrenden Effekt auf die Auseinandersetzung mit realweltlichen Problemen, weil er aus Denkweisen stamme (oder zumindest Überschneidungen mit die-sen habe), die selbst ideologischen Verzerrungen unterliegen (wie beispielswei-se beispielswei-sexistische Diskurbeispielswei-se), und daher zu fehlgeleiteten Idealisierungen führen könne, indem diese Verzerrungen im Ideal einer gerechten Gesellschaft repro-duziert werden (vgl. Celikates 2011a: 6). Die Idealtheorie ist aus Sicht mancher nicht nur nutzlos, sondern, wie beispielsweise Charles W. Mills oder Raymond Geuss argumentieren, sogar kontraproduktiv für die Fortentwicklung zur tat-sächlichen Gerechtigkeit, weil sie falsche Prioritäten setze und sich der Aus-einandersetzung mit den tatsächlich drängenden Problemen der Welt verwei-gere (vgl. ebd.: 4; vgl. Mills 2005; vgl. Geuss 2005). Sie habe einen ideologi-schen Effekt, indem die Beschäftigung mit einer idealtheoretiideologi-schen Version der Welt in der politischen Philosophie von der Beschäftigung mit den realweltli-chen Ungerechtigkeiten ablenke und somit nicht nur deren Status unangetastet lasse, sondern zusätzlich implizit die Privilegien jener aufrechterhalte, die nicht Opfer dieser Ungerechtigkeit sind. »Ideal theory, I would contend, is really an ideology, a distortional complex of ideas, values, norms, and beliefs that re-flects the nonrepresentative interests and experiences of a small minority of the national population – middle-to-upper-class white males – who are hugely over-represented in the professional philosophical population« (Mills 2005:

172).

Celikates verbindet diese Kritik des ideologischen Effekts der Idealtheorie mit einer weiteren Problematik, die sich als methodische Schwäche darstellt. Die-ses methodologische Problem besteht in einer epistemologischen Verzerrung (vgl. Celikates 2011a: 9). Der ideologisch geprägte idealtheoretische Blick kann

entscheidende Realitäten deshalb außer Acht lassen oder verzerren, weil sie für den Betrachter oder die Betrachterin außerhalb der eigenen Erfahrung lie-gen oder als natürlich hinlie-genommen und dadurch marginalisiert werden. Dass bestimmte gesellschaftliche Realitäten für die Unterlegenen sichtbarer sind als für die Privilegierten, kann dazu führen, dass Letzteren schon die Konzepte und Begriffe fehlen, um die Realität jenseits der eigenen Perspektive treffend zu be-schreiben (vgl. Mills 2005: 175).

Eine verwandte Kritik bringt David Lyons vor, indem er hinter der Pflicht zum Gehorsam, die Rawls proklamiert, einen systematischen Defekt der Argumenta-tion erkennt. Lyons argumentiert, dass sich hinter der kategorischen Forderung nach Gehorsam gegenüber dem Gesetz eine problematische Grundhaltung verbirgt, deren Kritik an die Kritik der Idealtheorie als Ideologie anschließt. In-dem die liberale Theorie zivilen Ungehorsam kategorisch als moralisch proble-matisch ansieht und eine moralische Rechtfertigung verlangt, die für den Ge-horsam gegenüber dem Gesetz nicht notwendig zu sein scheint, favorisiert diese Haltung ohne kontextuelle Grundlage den Gehorsam gegenüber dem zi-vilen Ungehorsam. Dieser Defekt resultiere, wie Lyons argumentiert, im Kern aus der Diskriminierung von minderprivilegierten Gruppen. Die Diskriminierung bestehe darin, dass diese Gruppen ihren Ungehorsam, der geschichtlich häufig in der Auflehnung gegen ihre Benachteiligung bestanden habe, gegenüber pri-vilegierteren Mitbürgern, denen dieselbe Ungerechtigkeit nicht widerfährt, zu begründen hätten (vgl. Lyons 1998: 48).

Das Problem der voreingenommenen Ablehnung des Ungehorsams führt Lyons am Beispiel des Holocaust vor: Der kategorische Vorzug der Gesetzestreue im nationalsozialistischen Deutschland hat zum Genozid und nicht zu einem höhe-ren Maß an Gerechtigkeit geführt (vgl. ebd.: 34). Je nachdem, in welchem poli-tischen Kontext eine Entscheidung zu fällen ist, kann gerade der Gehorsam gegenüber dem Gesetz moralisch verwerflich sein. Im Kontext gravierender Demokratiedefizite wird die Unhaltbarkeit einer kategorischen Pflicht zum Ge-horsam gegenüber dem Gesetz deutlich.

Auch wenn die Idealtheorie als methodische Vorstufe für andere philosophi-sche Vorhaben hilfreich sein mag, ist sie in Bezug auf die Erörterung des zivilen Ungehorsams eine problematische und widersprüchliche Argumentations-grundlage und verfehlt so ihren Anspruch, eine tragfähige und

handlungsorien-tierte Hilfestellung für den tatsächlichen Umgang mit zivilem Ungehorsam zu sein.

Infolgedessen lassen sich in Rawls’ idealtheoretischem Verständnis von zivilem Ungehorsam schwerwiegende Probleme identifizieren, deren Kritik auf ver-schiedenen Ebenen ansetzen kann. Ich möchte im Folgenden auf die gravie-rendsten Schwachstellen des liberalen Verständnisses eingehen, die zumindest teilweise aus der idealtheoretischen Fundierung des Rawls’schen Verständnis-ses von zivilem Ungehorsam resultieren. Wie ich im weiteren Verlauf genauer zeigen werde, ist insbesondere auch eine mögliche Applikation von Rawls’ Auf-fassung auf den digitalen zivilen Ungehorsam von dieser Problematik betroffen.

Die Schwachstellen, um die es zunächst gehen wird, sind die epistemologische Verzerrung der Definitions- und Rechtfertigungskriterien, die Rawls für zivilen Ungehorsam aufstellt, und letztlich die eingeschränkte Rolle, die zivilem Unge-horsam in der Gesellschaft zugestanden wird.

4.3. Zur Problematik der liberalen Definition zivilen

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 197-200)