• Keine Ergebnisse gefunden

Zur Entstehung und Entwicklung des Begriffs des zivilen Unge- Unge-horsams

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 25-29)

Der Begriff des Ungehorsams hat eine beeindruckende Vorgeschichte, die bis in die Antike zurückreicht (vgl. Laudani 2013). Dies gilt zumindest in einem wei-ten Sinne, insofern nämlich die Frage nach der Pflicht des Bürgers zum Gehor-sam und nach einem moralischen Recht auf UngehorGehor-sam die Philosophie von Anbeginn beschäftigt hat. 3

Das erste tatsächliche Auftreten von zivilem Ungehorsam im engeren Sinne auszumachen, ist hingegen eine historische Interpretationsaufgabe. Lewis Per-ry behauptet, dass der erste Akt, der aus heutiger Sicht als ziviler Ungehorsam aufzufassen ist, in Amerika stattfand, und zwar im Jahr 1829. »[O]ver a dozen Presbyterian-Congregationalists missionaries refused to cooperate with Geor-gia laws aimed at removing the Cherokees« (Perry 2013: preface).

Auch wenn dies historisch richtig sein mag, wurde der Begriff des civil disobe-dience erst etwa 30 Jahre später geprägt. Sicher ist jedoch: Die Zusammen-führung der Worte ›zivil‹ und ›Ungehorsam‹ erfolgte zuerst im Englischen.

Henry David Thoreau beschrieb in seinem Essay »Resistance to Civil Govern-ment« seine Überzeugungen, die ihn zwei Jahre zuvor dazu gebracht hatten, der amerikanischen Regierung gegenüber den Gehorsam kurzzeitig zu verwei-gern, indem er seine Steuern nicht zahlte. Nach einer Nacht im Gefängnis löste

Ein Beispiel der frühen Auseinandersetzung findet sich in Platons Dialog Kriton. Dieser the

3

-matisiert das Schicksal des Sokrates, der aufgrund der Verbreitung seiner philosophischen Ideen der Gottlosigkeit und Verführung der Jugend bezichtigt wird. Obwohl Kriton, der ihn im Gefängnis besucht, Sokrates

zur Flucht zu bewegen versucht, zieht dieser den Tod als Konsequenz seines geistigen Unge-horsams vor (vgl. Eigler 1990). Ein weiteres relativ frühes Beispiel, welches die Debatte über den Ungehorsam des Menschen in der vormodernen politischen Theorie indirekt weiterführt, ist Étienne de la Boeties Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft des Menschen (vgl. Boe-tie 1968).

ihn eine Verwandte aus. Auch wenn er selbst nicht die Begrifflichkeit des zivilen Ungehorsams prägte, wird sie oft fälschlicherweise auf ihn zurückgeführt (vgl.

Celikates 2014a: 207; Laker 2005: 162). Tatsächlich wurde der Begriff anschei-nend nachträglich von amerikanischen christlich-abolistischen Aktivisten mit Thoreaus Essay in Verbindung gebracht. Der Essay erhielt erst postum 1866 in der Ausgabe »A Yankee in Canada, with Anti-Slavery and Reform Papers« den Titel Civil Disobedience (vgl. Laker 2005: 162; Laker 1986: 21; Laudani 2013:

94). Dennoch schuf Thoreau mit seinem Essay einen amerikanischen Klassiker, der später nicht zuletzt auf Gandhis Leben und Werk und damit auf die aktivis-tische Tradition des zivilen Ungehorsams starken Einfluss ausübte (vgl. Laker 2005: 162). 4

Der deutsche Begriff des zivilen Ungehorsams ist auf das englische ›civil dis-obedience‹ zurückzuführen (vgl. Laker 2005: 162). Das im Englischen zugrun-deliegende Verb ›to obey‹, das im Deutschen meist als ›jemandem gehorchen‹

übersetzt wird, ist vom Lateinischen oboedire herzuleiten, das ebenfalls ›ge-horchen‹ bedeutet; das entsprechende Sustantiv im Lateinischen ist oboedien-tia.

»The ›disobedience‹ of civil disobedience effectively stipulates the existence of an authority that has power (though not unlimited power, and not necessarily legitimate power) to require obedience to a directive or directives in the form of rule(s), law(s), custom(s), etc.« (Schroeder 2007), schreibt Steven Schröder zur Bedeutung dieses Begriffsbestandteils. Weiter führt Schroeder aus, dass im Begriff des Ungehorsams die Möglichkeit des Gehorsams stets mitgedacht ist und somit dem Begriff eine Entscheidung des Akteurs zwischen Ungehorsam und Gehorsam inhärent ist.

Heinz Kleger schreibt dem Begriff des Ungehorsams im Deutschen einen nega-tiveren Charakter als im Englischen zu (vgl. Kleger 1993: 185). Dem kann man jedoch hinzufügen, dass dem Begriff zugleich etwas Emanzipatorisches anhaf-tet. Das Wort Ungehorsam meint ein absichtliches Nicht-Befolgen oder Verlet-zen von bestimmten Rechtsnormen oder Befehlen (vgl. ebd.: 185).

Nicht nur dieser Begriffsursprung beruht auf einem historischen Missverständnis. Häufig wird

4

aus theoretischer Sicht auch Thoreaus Akt des Ungehorsams nicht als ziviler Ungehorsam ver-standen, etwa bei Rawls (vgl. Rawls 1979: 405) und Arendt (vgl. Arendt 2000: 289).

Das Wort ›zivil‹ hat im Deutschen wie im Englischen mehrere Bedeutungen. Es stammt etymologisch vom lateinischen civilis ab und bedeutet dort »den Bür-ger betreffend oder bürBür-gerlich« (ebd.: 185). Hinsichtlich der Bedeutung des Wortes ›zivil‹ im Zusammenhang mit dem Ungehorsam sind verschiedene In-terpretationen zu finden: Hugo Adam Bedau sieht eine begriffliche Nähe zu ›ci-vic‹ und meint: »Hence the disobedience is properly called ›civil‹ because it is part of the civil life of society« (Bedau 1991: 7). Steven Schroeder ergänzt, dass dem Begriff ›civil‹ im Englischen bereits die Dimension des Öffentlichen anhaf-te: »[C]ivil disobedience has the sense of civilis, relating to a citizen or to public life« (Schroeder 2007). Gandhi hingegen verstand das Zivile des Ungehorsams als Moderatheit in der Durchführung: »It signified the resister’s outlawry in a ci-vil, i.e., non-violent manner. […] It is civil in the sense that it is not criminal« (Gandhi 1987: 7).

Für andere Autoren ist diese Auslegung als moderate Handlungsart die weniger tragende. Ihrer Ansicht nach geht es nicht darum, dass der Ungehorsam be-sonders angenehme Formen annimmt (vgl. Celikates 2010: 294). Bedeutsam sei hingegen die Abgrenzung von zivil gegen militärisch. Zivil Ungehorsame nutzen keine Waffen, agieren nicht mit einer militärischen Strategie oder mit ei-nem militärischen Ziel, sondern ihre Beweggründe gehen gänzlich aus eiei-nem bürgerlichen, nicht-militärischen Interesse hervor, selbst wenn einzelne Hand-lungen (wie eine Blockade) auch in einem militärischen Kontext vorkommen können.

Was sich schon früh zeigt und bis heute bewahrheitet: Die Frage nach dem Ungehorsam ist keineswegs eine nebensächliche, sondern stellt im Gegenteil eine paradigmatische Kernfrage der Politik dar, deren Relevanz von der Antike bis zu den heutigen Demokratien unbestritten ist. Wie Laudani in seiner be-griffsgeschichtlichen Auseinandersetzung meint, kann Ungehorsam jedoch ge-rade als exemplarisches Symptom des widersprüchlichen gedanklichen Fun-daments der modernen Politik gesehen werden. »The same experience of obedience that allows modern law to host a conscience motivated by princi-ples such as reason, freedom, and equality also imposes fundamental checks on that same conscience, limiting its ability to fully or completely realize any of its motivating principles« (Laudani 2013: XI).

Zivilen Ungehorsam in seiner gedanklichen Tradition und seiner heutigen Rele-vanz zu verstehen, bedeutet daher immer auch, die Frage nach der politischen Notwendigkeit des Gehorsams und der moralischen Güte des Ungehorsams neu zu stellen. Hinterfragt werden damit nicht nur die situativen Begebenheiten eines einzelnen Falles von zivilem Ungehorsam, sondern zugleich das politi-sche System, die zugrundeliegenden Machtstrukturen, in denen es zu diesem Konflikt kommt, und die aus dem politischen System abgeleitete Berechtigung, Gehorsam einzufordern.

In den letzten Jahren erlebt der Begriff und auch die Praxis des zivilen Unge-horsams eine regelrechte »Renaissance« (Papst 2012). Der Begriff ist in den letzten Dekaden weltweit immer häufiger zu finden (vgl. Roberts & Garton Ash 2009: 25). Man begegnet ihm in politisch-sozialen Debatten, weil er als Be-schreibung von bestimmten Protesthandlungen verwendet wird, er bezeichnet also eine spezifische politische Protestform (vgl. Hahn 2008: 1365). Allgemein lässt sich sagen, dass ziviler Ungehorsam als eine spezielle Form kritischer Partizipation und bürgerlichen Widerstands zu sehen ist (vgl. Roberts & Garton Ash 2009: 4). Ziviler Ungehorsam überschreitet als Protestform die Grenze des positiven Rechts und stellt sie in Frage; insofern ist er ein ambivalentes Phä-nomen, das sich zwischen legalem Protest auf der einen Seite und militantem Protest oder organisierten gewaltsamen Aufständen gegen Regierungen auf der anderen Seite bewegt (vgl. Brownlee 2007).

Bei dem Stichwort ziviler Ungehorsam denkt man vermutlich zuallererst an ein-zelne historische Protestereignisse. Bekannte und viel zitierte Beispiele sind der Bus-Boykott von Rosa Parks sowie im Allgemeinen die amerikanische Bür-gerrechtsbewegung um Dr. Martin Luther King oder der Salzmarsch von Ma-hatma Gandhi im Kontext der indischen Unabhängigkeitsbestrebungen (vgl.

Bruhn 1985). In Deutschland wird der Begriff seit den späten 1970er Jahren verwendet (vgl. Laker 2005: 162). Hier sind es möglicherweise Beispiele aus der Friedens- und Umweltbewegung wie die Proteste gegen die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland oder in jüngster Zeit gegen den Bahnhofsbau in Stuttgart (bekannt geworden als Stuttgart 21), die mit dem Begriff des zivilen Ungehorsams assoziiert werden. Abseits dieser öffentlichen Debatten findet der Begriff jedoch auch in den Diskursen verschiedener Wissenschaften, im Besonderen der Rechtswissenschaft Beachtung.

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 25-29)