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Kapitel 3: Die Gesellschaft der Zukunft

4.1 Die Ausgangslage in den ausgewählten Funktionssystemen

4.1.3 Wissenschaft

Halten wir noch einmal fest: Die Funktion von Wissenschaft ist die Erzeugung von neuem Wissen, die Leistung ist also die Bereitstellung solchen Wissens. Das Medium ist die Wahrheit, der binäre Code ist wahr/falsch. Zur Ausführung der Funktion werden Theorien und Methoden genutzt.

(a) Wie wird die Gesellschaft der Zukunft aussehen, wenn sich existierende Muster und Trends der Entwicklung des Funktionssystems unverändert fortsetzen?

Das Wissenschaftssystem in Deutschland ist ebenfalls breit aufgestellt und vielfältig in den Organisationsformen und Fachgebieten. Trotz der engen strukturellen Koppelung mit dem Politiksystem durch öffentliche Finanzie-rung ist die Freiheit von Forschung und Lehre durch das GG (Art. 5) gesichert.

Da dieses Funktionssystem schon seit langem durch Globalisierung gekenn-zeichnet ist, lässt sich seine Qualität nicht leicht bestimmen. Mit Blick auf die Universitäten ist die Landschaft ausgewogen und gut positioniert. Dazu trägt auch die Zuständigkeit der Bundesländer bei. Exzellenzstrategien, wie in den USA üblich, sind in Deutschland neueren Datums. Nach langen Pha-sen der „Auswanderung“ von ForscherInnen gibt es inzwischen häufig auch

„Rückwanderungen“. Die Inklusion der Bevölkerung ist indirekt über Studium

213 Zumindest in den Medien werden diese Beispiele durch Gegenbeispiele relativiert: zu-letzt mit Blick auf die Containerschiffe und ihre Umweltbelastung, die Kreuzfahrtschiffe und ihr prekär beschäftigtes Personal oder auch die Tatsache, dass die deutschen Schiffskapitäne in Deutschland de facto keine Steuern zahlen – obwohl es seit einigen Jahren eine Steuerpflicht gibt.

(Erziehungssystem), Forschungsbeteiligung etc. gewährleistet, wozu geringe oder keine Studiengebühren beitragen214.

* Die expansive Eigenlogik des Wissenschaftssystems wird häufig als „Verwis-senschaftlichung“ der Gesellschaft bezeichnet. Die moderne Gesellschaft gilt als Wissensgesellschaft. Dies signalisiert eine wachsende Bedeutung wissen-schaftlicher Kommunikation für viele andere Funktionssysteme. Im histori-schen Rückblick ebenso wie im breiten internationalen Vergleich kann man sogar Beispiele für eine grundlegende Umgestaltung von Funktionssystemen durch die Resonanz auf den „Wissenschaftlichen Fortschritt“ aufzeigen: Re-ligion, Erziehung, Medizin, Wirtschaft u.a. Gegenwärtig ist das Kriterium sachlicher Richtigkeit (Wahrheit) ein kontinuierlicher Aspekt der Umweltbe-obachtung fast aller anderen Funktionssysteme. Ohne ein wissenschaftliches Gutachten werden viele Entscheidungen in diesen Funktionssystemen nicht getroffen215.

* Allerdings darf nicht übersehen werden, dass dabei zwischen den wissen-schaftlichen Disziplinen erhebliche Unterschiede bestehen. Vereinfacht kann man hierzu zwischen naturwissenschaftlich-technischen und sozialwissen-schaftlich-geisteswissenschaftlichen Forschungsfeldern unterscheiden. Die Begutachtung der Statik einer Brückenkonstruktion und die Begutachtung von Wahlpräferenzen der Wählerschaft unterscheiden sich hinsichtlich der Striktheit und der Konsensfähigkeit der Ergebnisse. Bedeutung gewinnt dies vor allem bei der Differenz von Grundlagenforschung und angewandter For-schung – wobei letztere häufig in andere Funktionssysteme ausgewandert ist:

beispielsweise in „Denkfabriken“ für die Politik oder Entwicklungslabors der Pharmaindustrie. Daraus ergeben sich häufig widersprüchliche Anforderun-gen, die den Code des Wissenschaftssystems in Frage stellen: z.B. in der Rolle als Befürworter oder als Zweifelstreuer – durch Gefälligkeitsgutachten mit ho-hen Honoraren. Wo das Etikett Wissenschaft verwendet wird, wird schon seit langem nicht immer das Wahrheits-Medium zur Geltung gebracht. Die Mani-pulation von Dr.-Titeln und die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse des wissenschaftlichen Nachwuchses tragen zusätzlich zur Ambivalenz oder sogar zur „Entkernung“ des Wissenschaftssystems bei. Dies betrifft vor allem die Sozial- und Geisteswissenschaften, die in anderen Ländern (UK, US, Japan u.a.) schon drastisch reduziert wurden. In autoritären Staaten werden sie als erste abgeschafft oder bevormundet.

* Wie wird sich das Wissenschaftssystem in der GdZ darstellen? Ein zentra-ler Trend wird in der sich weiter entwickelnden engen Koppelung mit Teilen 214 Damit wird zumindest die Tendenz zur Rekrutierung der Studierenden aus den

„höhe-ren“ bzw. den vermögenden Schichten gedämpft.

215 Offen bleibt dabei stets, wie die diesbezüglichen Informationen in die internen Kommu-nikationen Eingang finden.

des Wirtschaftssystems bestehen. Technikbasierte Innovationen werden den Prozess befördern. Ausbildungsgänge nach Wirtschaftsbedarf (insbesonde-re beim Bachelor), Privatisierung von Universitäten, Existenzgründungen in Universitätsstädten und der Wettstreit um Drittmittel sind ein typischer Indikator dieser Entwicklung. Forschung wird immer mehr unter dem Ge-sichtspunkt ökonomischer Verwertbarkeit beurteilt. Beachtenswert ist dabei auch die Tatsache, dass damit die „Freiheit der Forschung“ zunehmend zum

„Geschäftsgeheimnis“ degeneriert, dass also der in diesem Funktionssystem übliche, auch internationale, Austausch gebremst wird.

* Die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften werden ihrer Standards be-raubt216 und/oder ausgedünnt – ggf. nur noch in Verbindung mit dem System der Massenmedien beachtet – solange das Medium Wahrheit nicht vollstän-dig durch „meine persönliche Meinung ist…..“ ersetzt wird217: „postfaktisches Zeitalter“.

* Eine besondere Rolle spielen wahrscheinlich die Fachgebiete Wirtschafts-wissenschaft und Psychologie – nun in Verbindung mit der Hirnforschung, weil sie sich quasi als Naturwissenschaft etablieren konnten – allerdings höchst umstritten. Sie dürften in der Zukunft eine besondere Bedeutung für den Fortbestand des deregulierten, wachstumsorientierten, Konsum antrei-benden Kapitalismus haben.

* Weniger beachtet sind die intern wirkenden Mechanismen der Ökonomisie-rung – z.B. die Anwendung des New Public Management auf die Universitäten:

Rankings nehmen zu; Zielvereinbarungen zur Drittmittel-Akquise sind inzwi-schen weit verbreitet; der Citation Index hat die gleiche Bedeutung wie die Zahl der Klicks auf der Homepage – einschließlich der Betrugsmöglichkeiten durch Zitierkartelle.

* Die GdZ wird nicht mehr über ein kompaktes Wissenschaftssystem sondern allenfalls über einen kleinen Kern an Grundlagenforschung (Leibniz-Gesell-schaft, Max Planck Institute, einige Universitätsinstitute u.ä.) verfügen. Einzel-ne Fragmente werden als Subsysteme in anderen Funktionssystemen Bestand haben. Sie werden allerdings hauptsächlich durch die Funktionen dieser Sys-teme gesteuert und nicht mehr primär durch den Code des Wissenschaftssys-tems.

216 Ein instruktives Beispiel lieferte vor einigen Jahren die Evaluation der Soziologie durch den Wissenschaftsrat, in dem Fachvertreter dafür kämpfen mussten, dass Fachbücher zu einem Thema (Monographien) als wissenschaftliche Leistung anerkannt werden: das Argument war u.a., dies sei ja im Fach Chemie auch nicht üblich.

217 Man vergleiche zu diesem Zweck repräsentative Umfrageergebnisse mit TED Umfragen im Fernsehen, Leserbriefen, Tweets im Internet. Unter dem Stichwort „Faktencheck“

wird teilweise versucht, gegenzusteuern.

(b) Wichtige Weichenstellungen, um die Balancierung von Funktionssyste-men zu befördern.

* Wie in anderen Zusammenhängen auch sind die wissenschaftsbezogenen Entwicklungstendenzen für die GdZ vor allem dann wenig zu beeinflussen, wenn sie in enger Koppelung mit anderen Funktionssystemen expandieren.

Entscheidend ist daher die Resonanz des politischen Systems, also seine Bereitschaft, öffentliche Mittel für ein breites Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen bereitzustellen und dabei zugleich ein Mindestmaß an Grundla-genforschung und die Freiheit von Forschung sowie ihre Kombination mit der Lehre zu garantieren. Um den Herausforderungen der komplexer werdenden Weltgesellschaft gerecht zu werden, ist eine weitergehende Unterstützung der inter- und transdisziplinären Forschung notwendig. Insgesamt würde da-durch auch der Gemeinwohlbezug des Wissenschaftssystems betont.

* Die Veränderung der Wirtschaftsstruktur im digitalen Zeitalter könnte zudem dazu beitragen, dass Startups eng an Einrichtungen des Wissen-schaftssystems gekoppelt bleiben (können), so dass die Forschung nicht in Unternehmen auswandern muss.

* Für interne Steuerungsfragen gibt es erprobte Strategien, die eine Resonanz gegenüber anderen Funktionssystemen bzw. gegenüber der Bevölkerung (Zi-vilgesellschaft) befördern und interne Offenheit, Pluralität und Konkurrenz einer Hierarchie und Dominanz einzelner Positionen (Mainstream) entge-gensetzen218: verschiedene Theorieansätze in Konkurrenz und Forschungs-methoden im Vergleich, Peer-Reviews, externe Zertifizierung etc. Schließlich könnten auch Studierende eine wichtige Rolle bei der internen Beobachtung übernehmen, wenn sie nicht durch allzu eng geführte Studiengänge das kriti-sche Denken verlernen müssen.

* Auch im Hinblick auf mögliche Grenzüberschreitungen gibt es Kontroll-möglichkeiten oder lassen sich dementsprechend Stoppregeln entwickeln:

Risikobewertung, Technikfolgenabschätzung – wie zuletzt beim Fracking, er-forderlich aber auch bei der Nanotechnologie und bei der Gentechnik, Gren-zen bei Medikamententests in Indien (Menschenrechtsverletzungen) oder bei Tierversuchen etc. Dies schließt letztlich auch die Feststellung ein, dass mit dem Wissenszuwachs auch das Wissen über das Nichtwissen ansteigt. Die Herausforderung für die Wissenschaft besteht dann darin, sich den Anforde-rungen anderer Funktionssysteme, „Wahrheiten“ und „Alternativlosigkeit“ zu attestieren, nicht zu beugen, wenn diese durch die Standards des Kommuni-kationsmediums Wahrheit nicht gedeckt sind.

218 Es ist zumindest irritierend, wenn Nobelpreisträger bei der Preisverleihung schon über 70 Jahre alt sind und ihre Arbeit nur gegen den erbitterten Widerstand der Mainstream-Advokaten (Gatekeeper) durchführen konnten.