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Kapitel 3: Die Gesellschaft der Zukunft

4.1 Die Ausgangslage in den ausgewählten Funktionssystemen

4.1.6 Medizin (Gesundheitssystem)

Halten wir noch einmal fest: Das Medizinsystem hat die Funktion, Therapien für Krankheitsbefunde bereitzustellen. Die Leistung ist die Krankheitsbehandlung.

Das Medium ist Krankheit, der Code ist nicht geheilt/ist geheilt (krank/gesund).

Zur Ausführung der Funktion werden Behandlungspläne und Therapien ver-wendet.

222 Das Beispiel Duisburg-Marxloh, ein Jahr nach dem Besuch der Kanzlerin, ist ein Beleg dafür, wie mühsam und langsam selbst geringe Veränderungen sind.

223 Neuere Umfragen (GfK 2015) thematisieren die Rückkehr der „German Angst“ (2015:

55%; 2013: 28% der Bevölkerung mit Angstgefühlen).

(a) Wie wird die Gesellschaft der Zukunft aussehen, wenn sich existierende Muster und Trends der Entwicklung des Funktionssystems unverändert fortsetzen?

Als Bestandteil des sozialen Sicherungssystems ist das Gesundheitssystem eng mit dem politischen System gekoppelt. Die komplexe Architektur dieses Systems – sowohl bezüglich der Finanzierung als auch bezüglich der Leis-tungserbringung – hat zur Kennzeichnung als „desorganisierter Sozialstaat“

beigetragen. Die Inklusion der Bevölkerung ist im Prinzip gegeben – aller-dings mit erheblichen Unterschieden in der Leistungspalette – u.a. abhängig von der Art der Versicherung. Dies wird neuerdings durch die IGeL – Muster weiter verstärkt. Schon heute gibt es für Facharzttermine z.T. lange Warte-zeiten; entsprechend belastet sind dadurch die Notfall-Ambulanzen.

* Das Gesundheitssystem wird weiter expandieren; dabei dürften die demo-grafischen Veränderungen mit einem höheren Anteil älterer Menschen in der GdZ eine untergeordnete Rolle spielen. Es geht vielmehr um die „Medikali-sierung“ der Gesellschaft. Dafür ist v. a. der Wechsel des „positiven“ Elements des binären Codes bedeutsam. An die Stelle der Krankheitsbekämpfung tritt verstärkt die Gesunderhaltung. Die Selektivität der Diagnose tritt zurück: alle Menschen sind nun jederzeit im Fokus. Für Gesundheit kann man nie genug tun bzw. nie genug Dienstleistungen, Medikamente oder Enhancement-Tools einkaufen.

* Insofern werden die Folgen der Entwicklung in immer mehr Wirtschafts-zweige hineinreichen: So gut wie jeder Konsum kann unter der Rubrik

„gesundheitsförderlich oder nicht“ (?) verhandelt werden. Die Angebotsori-entierung der kapitalistischen Konsumwelt lässt sich hierfür perfekt instal-lieren, da ihr zunehmend auch die Digitalisierung und Miniaturisierung der Monitoring-Systeme – z.B. am Handgelenk – zur Verfügung stehen. Die Daten-sammlungsökonomie ist hier der zukünftige Kooperationspartner, denn alle Gesundheitsdaten der Personen werden vermarktet: z.B. an Versicherungen, an Arbeitgeber und an eine Produktpromotion.

* Gleichzeitig wird die Ökonomisierung der die Krankheit bearbeitenden Medizin weiter fortschreiten, d.h. beide Systeme werden enger miteinander gekoppelt – z.B. durch die Einflüsse seitens der Pharmaindustrie, durch die weitere Privatisierung der Krankenhäuser, die bereits zu Kontrollen durch Kartellbehörden führen, und durch die Verstärkung der Angebotsorientierung anstelle der Nachfrage- bzw. Bedarfsorientierung. Wenn das Medizinsystem vom Wirtschaftssystem überlagert wird, ist es nur konsequent, dass die glei-chen Prinzipien wie dort Anwendung finden. Eingriffe der Politik – wie z.B.

durch die Einführung von Diagnosestandards (DRG) und Fallpauschalen tragen ebenso dazu bei. Mit Zielvereinbarungen werden die Zahl der

Hüf-toperationen pro Quartal festgelegt, das Pflegepersonal wird reduziert, die Verweildauer der Patienten reduziert, denn sie blockieren die Kundschaft für weitere Operationen.

* Neue Krankheiten werden auch weiterhin erfunden werden – so z.B. im psy-chiatrischen Bereich. Im Einzelfall kann es Medikamente geben, für die eine Krankheit erst noch gefunden werden muss. Das Medizinsystem wird zuneh-mend von der Pharmaindustrie beeinflusst oder sogar gekapert: insbesonde-re bei der Verschinsbesonde-reibung besonders teuinsbesonde-rer, ggf. nicht einmal solide getesteter Medikamente. Die Globalisierung der Medikamententest (z.B. in Indien) wird deshalb ebenso zunehmen.

* Obwohl also vieles für eine weitgehende Medikalisierung der GdZ spricht, ist auch eine Klassenmedizin zu erwarten, die sich heute zwischen Privat- und Kassenpatienten bereits andeutet und durch unterschiedlich schnelle Zu-gänge zur Versorgung oder auch durch die IGeL Strategie das ganze System beeinflussen. Besonders sichtbar ist dieser Trend auch bei der stetig wach-senden Zahl von Schönheitsoperationen. Zudem werden die präventiven Ge-sundheitsmaßnahmen nicht in gleichem Maße von Versicherungen abgedeckt werden wie die diagnostizierten Krankheiten. Schließlich gibt es dadurch so-gar noch einen „Spareffekt“: arme Menschen haben eine geringere Lebenser-wartung224.

(b) Wichtige Weichenstellungen, um die Balancierung von Funktionssyste-men zu befördern.

* Es ist nicht zu erkennen, wo sich angesichts der engen strukturellen Kop-pelungen zwischen Medizin, Ökonomie und Politik mit Blick auf die GdZ Stoppregeln etablieren lassen: es sei denn, alle Bevölkerungsmitglieder ha-ben schon größten Teil ihres Einkommens für ihre Gesundheit/Krankheit aufgebraucht – so sinngemäß die Formulierung eines früheren Repräsentan-ten der Bundesärztekammer. Es gibt eine Reihe von diskutierRepräsentan-ten Optionen, die Privatisierung und Ökonomisierung zu reduzieren: z.B. Abbau von Kran-kenhausbetten und ihre Rückführung in kommunale und freigemeinnützige Trägerschaft, die Vermeidung der regionalen Ungleichverteilung von Ärz-tInnen-Niederlassungen. Angesichts der „desorganisierten“ Architektur des deutschen Gesundheitssystems ist ein grundlegender Umbau für die GdZ eher nicht zu erwarten. Noch weniger wahrscheinlich erscheint dies für die Ge-sundheits-Wirtschaft.

224 Die GdZ wird diese These erneut bestätigen. Dies wäre auch zwingend notwendig, wenn für andere Bevölkerungsgruppen durch teures „Enhancement“ die Lebenserwartung um viele Jahre verlängert wird.

* Einige Handlungsstrategien können die Angebotszentrierung reduzieren:

Trennung von Diagnose-Zentren und Behandlungszentren, Gemeinschaft-spraxen, Zugang zu einer „zweiten Meinung“, unabhängige Prüfinstanzen für die Wirksamkeit von Therapien und „gesundheitsförderlichen“ Produkten, Medizinethik als Selbstreflexion, die Stärkung von Mitsprache durch Patien-tengruppen u.a.m. Dies wird wahrscheinlich nicht ausreichen, um das gesund-heitsbezogene Funktionssystem der GdZ neu auszurichten. Dies gilt umso mehr, wenn der generelle Wachstums- und Ökonomisierungstrend den Leis-tungsdruck in vielen gesellschaftlichen Handlungsfeldern noch vergrößern sollte. Ein Ausstieg aus dem „Hamsterrad“ der Produktion und der Konsump-tion in beachtenswerter Breite ist dann ebenso wenig zu erwarten wie der Verzicht auf Leistung steigernde Drogen. Eher wahrscheinlich ist ein Kampf um die Verteilung der benötigten gesellschaftlichen Ressourcen zwischen den Generationen.