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5 Analyse charakteristischer Elemente der digitalen Erlebnisräume

5.1 Materiale und dispositive Spiele

5.1.2 Wiederverwertungen

Bei den Wiederverwertungspraktiken entsteht ein Videoclip aus Materialien und me-dialen Prinzipien von anderen meist audiovisuellen Medien. Es werden bereits exis-tierende Videoclips, Materialien aus dem Fernsehen oder anderen Medien remediatisiert.

Bild-, Film- und Fernsehmaterial

Der Videoclip ‚Thilo Sarrazin redet Klartext über Ausländer‘ (H25) von SaviorAgent verdeutlicht die materiale Wiederverwertung sehr gut.647 Die auditive Einstellung ent-hält einen Ausschnitt aus der Tonspur des Films American History X.648 Sie gibt die griffige Ansprache des Neonazis Derek an seine Mitstreiter wieder. Sie sollen etwas gegen die, seiner Meinung nach nutznießenden, Migranten tun, bspw.: „Wir haben 2 Millionen illegale Einwanderer, die sich bei uns hier nur auf die faule Haut legen“.649 Die visuellen Einstellungen bestehen aus sich abwechselnden dokumentarischen Bildern öffentlicher christlicher und politischer Veranstaltungen. Die Aufnahmen christlicher Veranstaltungen stammen von einer Prozession, einer Messe und dem ökumenischen Kirchentag 2010. Die Trachtenkleidung der Personen und das Sen-derlogo des Bayerischen Rundfunks lassen auf einige Veranstaltungen in Bayern schließen (s. Abb. 5). Des Weiteren werden politische Veranstaltungen und Politiker auf christlichen Veranstaltungen gezeigt und durchgängig mit Aufnahmen Thilo Sarrazins an einem Rednerpult durchbrochen.

647 H25: SaviorAgent (5.4.2012): Thilo Sarrazin redet Klartext über Ausländer. In: YouTube, online:

<http://www.youtube.com/watch?v=W6oVQNbURpc>, letzter Zugriff 22.8.2015.

648 American History X, USA 1998, Tony Kaye, 120 Minuten. Es geht in dem Film um Neonazis in Amerika. In dem Film läutert sich die Hauptfigur Derek und möchte seinen Bruder dazu bewegen, aus der Szene auszusteigen, um ihn davor zu bewahren, seine Fehler zu wiederholen.

649 H25, TC 00:00:31-00:00:35.

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Abb. 5 H25: Start – Prozession

Der Bildwechsel erfolgt auf bestimmte Worte in den jeweiligen Einstellungen abge-stimmt, was zu einer teilweise illustrierenden und teilweise konträren Bedeutung führt.

Zu Beginn des Videos sieht man eine katholische Prozession mit Frauen in Dirndln, während die auditive Einstellung unterstützend „schließt euch zusammen“ abspielt.650 Danach folgt die Aufnahme einer öffentlichen Veranstaltung, bei der die Teilnehmer wie bei Wahlen den rechten Arm heben zum Text „und alle fraßen ihm aus der Hand“.651 Auf diese Weise entsteht hier im Kontext des Films eine ironische Parallele zur Reichstagswahl 1933 oder Massenveranstaltungen der NSDAP. Mit Einsetzen der Rede, „also hört zu. Wir müssen die Augen aufmachen“, wird ein Bewegtbild von Sarrazin an einem Rednerpult eingeblendet.652 Die Parallelisierung von Sarrazins Re-de mit Re-der HassreRe-de Dereks erfolgt durchgängig. Das Bild von Sarrazin wird im Laufe des fast drei minütigen (2:53 Minuten) Videoclips mit Bildern weiterer kirchlicher Open-Air-Treffen und einem Bild vom politischen Aschermittwoch der CSU unterbrochen.

Dabei lässt das Video offen, ob es sich um die Entlarvung Thilo Sarrazins als Rassis-ten oder um die Aufdeckung als Politiker, der unbequeme WahrheiRassis-ten ausspricht, han-delt. Am Ende der Rede heißt es in der auditiven Einstellung „oder raffen wir uns auf und unternehmen was dagegen“ und es werden in der visuellen Einstellung der ehe-malige Bundespräsident Köhler und der bayerische Ministerpräsident Seehofer ge-zeigt, wie sie während einer Veranstaltung des ökumenischen Kirchentages in einer

650 H25, TC 00:00:06-00:00:07.

651 H25, TC 00:00:10-00:00:11. Dies spricht einleitend der Bruder Dereks.

652 H25, TC 00:00:26-00:00:28.

Stuhlreihe nebeneinander sitzen.653 Das Bild der sitzenden Politiker erhält die Konno-tation von nicht handelnden Politikern und stellt eine Kritik darauf dar. Doch bleibt of-fen, wem gegenüber sie untätig bleibt, Asylsuchenden oder Rassisten? Einmal werden Politiker als Handlungsträger gegen verfassungsfeindlichen Rassismus fokussiert, einmal sind sie zum Handeln gegen die in der auditiven Einstellung angesprochene

‚Überfremdung‘ aufgefordert. Die Bedeutung des Videoclips bleibt durch diese Schnitt-praktiken und intermedialen Kombinationen ambig. Die Bilder können sowohl als Un-terstützung der auditiven Einstellung rezipiert werden, als auch im Modus ihrer konträ-ren Bedeutung.

Der Schnitt ermöglicht mehrere Lesarten über die Rolle von Religion und Politik. Der Zusammenschluss von Politik und Christentum kann positiv als Verteidigung und Stärkung abendländischer Werte gesehen werden. Der Videoclip funktioniert dann als Beispiel, was das Deutsche als Eigenes sein soll und als Aufruf dieses vor dem Fremden zu bewahren. Dagegen kann der Videoclip als Kritik an den herrschenden Machtverhältnissen funktionieren, wenn die Beispiele als leere Rituale aufgedeckt werden sollen, während Sarrazin mit seiner Meinung zur Tat schritt. Beide Lesarten enthalten ein fremdenfeindliches Anliegen, nimmt man die Tonspur als positive Un-terstützung. Versteht man sie aber als ein Beispiel für falsche Ideen, dann werden die Bilder zur Veranschaulichung und auf einmal stehen Christentum und Politik für Tatenlosigkeit gegen Rassismus oder selbst für Fremdenfeindlichkeit.

Die Einstellungen sind nicht die Entscheidung des Produsers, aber ihre Auswahl und Zusammenstellung schon. Die Bilder im Clip lassen sich zu Beginn illustrierend zum Auditiven verstehen, dann wird auch die Möglichkeit zu einer konträren Lesart gege-ben. Wir sehen, dass der kurze Clip hochgradig polysem ist durch die Selektion und Kombination der materialen Fragmente. Audiovisuelles Material verdichtet sich hier zu einem intermedialen Netzwerk, in dem der Film American History X mit Foto- und Fernsehmaterial remediatisiert wird. In der Montage und dem Schnitt der audiovisuel-len Einstellungen kommen verschiedene Kontexte und damit Deutungen zusammen.

Der Clip spielt mit den verwendeten audiovisuellen Zeichensystemen und Kontexten und damit auch mit seiner Offenheit.654 Etwa einerseits, dass Politik und Religion durch ihr Nichtstun Rassismus fördern. Andererseits kann es auch positiv um Sarrazins Anliegen gehen, dass Kirche und Politik, im Clip visualisiert durch das Christentum und die CSU, die für konservative abendländische Werte stehen, aktiv gegen Ausländer vorgehen sollen. Das heißt, einmal wird kritisiert, dass Politik und

653 H25, TC 00:02:47-00:02:49.

654 Die materialen Remediationen des Clips gehen einher mit narrativen Spielen, die unter Kapitel 5.3 behandelt werden.

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Christentum untätig in der Verfolgung von Rassismus bleiben oder, der Tonspur fol-gend, untätig in der Verhinderung von Migration.

Foto- und Cartoonmaterial für Comedyzwecke

Die nachfolgenden drei Videos von Produser MakefunofThilo bilden ein videoclipübergeifendes Spiel; sie sind am Ende miteinander durch Links verbunden.

Das erste Video ‚Sarrazin und das Judengen‘ (H16) remediatisiert verschiedene Ma-terialien.655 Auf der visuellen Ebene bauen sich nacheinander drei Standbilder mit bestimmten Worten auf, die schließlich den Satz ergeben: „Thilo sagt: Juden teilen ein bestimmtes Gen“.656 Es folgen zwei Ausschnitte aus der Serie South Park, die zur Sperrung des Clips aus urheberrechtlichen Gründen führten.657 Der Clip endet mit dem Abspann aus South Park.

Abb. 6 H16: Erster Teil Fotorecycling

Die erste Einstellung zeigt ein Standbild Sarrazins mit einer gestikulierenden Hand-bewegung; dabei wird der Text: „Thilo sagt:“ eingeblendet. Es folgt zum Wort „Juden“

das Standbild einer Katze, die eine blaue Kippa mit einem weißen Davidstern und

655 H16: makefunofThilo (30.08.2010): Sarrazin und das Judengen. In: YouTube. Mittlerweile aus urheberrechtlichen Gründen von Viacom wegen der Verwendung ihres Inhalts gesperrt.

656 H16.

657 South Park, USA seit 1997, Trey Parker/Matt Stone. ‚South Park‘ ist eine amerikanische Anima-tionsserie aus der Perspektive von vier Grundschülern erzählt. Der grafische Stil ist vereinfacht; in einer 2D-Ästhetik sind die Figuren flächig gehalten und Details vereinfacht dargestellt. Aktuelle ge-sellschaftspolitische Themen werden überzeichnet aufgegriffen und oftmals mit derben Fäkalhumor erzählt. Eric Cartman, von seinen Freunden Cartman genannt, drückt seine Abneigung gegen Juden überspitzt in fast jedem Dialog mit seinem jüdischen Freund Kyle Broflovski aus.

eine Taucherbrille trägt. Danach wird der Rest des Satzes, „teilen ein bestimmtes Gen“, eingeblendet, während zu den zwei ersten Bildern die Abbildung eines Gen-strangs hinzugefügt wird (s. Abb. 6). In diesen ersten 12 Sekunden ist eine Akustik-version des hebräischen Volksliedes Hava Nagila zu hören, was in seiner Gemütlich-keit der Tonwiederholungen den lustigen Charakter des Standbildes mit der Katze unterstreicht. Dadurch werden zwei bekannte Symbole der jüdischen Tradition humo-ristisch verzerrt: ein Volkslied und die Kopfbedeckung zum Gebet. In den folgenden 16 Sekunden werden aus South Park zwei Auseinandersetzungen zwischen der Fi-gur Cartman und seinem jüdischen Freund Kyle gezeigt. So äußert sich Cartman einmal gegen Juden: „Er versteckt sich hinter seiner Judenmoral und seinem Juden-gold und wird dich verjuden, wenn du ihm davon erzählst“.658 In weiteren Ausschnit-ten fordert er von Kyle sein ‚Judengold‘ (s. Abb. 7). Diese Einstellungen geben das parodistische Spiel mit Vorurteilen gegenüber Juden aus South Park wieder. Die restliche Zeit, mit 24 Sekunden fast die Hälfte des 52-sekündigen Clips, erfolgt dann der Abspann der Serie South Park.

Abb. 7 H16: Recycling von South Park-Ausschnitten, Clipmitte

‚Sarrazin und das Judengen‘ recycelt verschiedene Materialitäten und bringt sie in eine neue intermediale Konstellation eines Videoclips: Foto-Animation, Text, Musik, Cartoonausschnitte. Damit greift der Clip humoristisch überzeichnend Antisemitismus unter Verwendung jüdischer Symbole auf und recycelt die für ihre harte Sprache be-kannte Cartoonserie South Park. Der Clip ist eine audiovisuelle Satire zu Sarrazins

658 H16, TC 00:00:13-00:00:17.

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Antwort im Interview mit der Welt am Sonntag auf die Frage, ob es eine genetische Identität von Völkern gebe: „Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden“.659 Mit dem Profilnamen MakefunofThilo und den zwei weiteren Videos erhärtet sich die Lesart dieses Clips als Satire auf die Thilo-Sarrazin-Affäre und den Antisemitismus. Die humoristische Bedeutung des Ursprungsmaterials wird in der Rekombination weiterbenutzt und mit Bezug zur Thilo-Sarrazin-Affäre aktualisiert. Der Clip führt Humor als Ventil und Um-gangsform mit solchen Affären fort.

Abb. 8 H16: Verlinkungen am Schluss660

Am Ende des Clips ‚Sarrazin und das Judengen‘ (H16) wird in der Videoansicht bei YouTube links rot unterlegt auf ‚Schluss mit Moor über Thilo Sarrazin‘ (H17) verlinkt (s. Abb. 8). ‚Schluss mit Moor‘ stellt das satirische Ende der Magazinsendung „Titel, Thesen, Temperamente“ mit dem Moderator Max Moor auf ARD dar.661 Der Clip ist eine Wiedergabe des Videopodcasts zur Sendung vom 29.8.2010. Dieser Ausschnitt gibt den satirischen Kommentar des Moderators auf das Dümmerwerden und die Namensherkunft von Sarrazin wieder.

659 Seibel, Andrea/ Schuhmacher, H./ Fahrun, Joachim (29.8.2010): „Mögen Sie keine Türken, Herr Sarrazin?“. In: Die Welt am Sonntag, online:

<http://www.welt.de/politik/deutschland/article9255898/Moegen-Sie-keine-Tuerken-Herr-Sarrazin.html>, letzter Zugriff 22.8.2015. Das Interview bestätigt eugenische Tendenzen in Sarrazins Argumenten, die zur Kontroverse beigetragen haben.

660 Die Verlinkungen sind nur im Videoplayer auf YouTube zu sehen, nicht in den Downloads.

661 H17: makefunofThilo (30.8.2010): Schluss mit Moor über Thilo Sarrazin. In: YouTube, online:

<http://www.youtube.com/watch?v=OrPWfzsi2x8>, letzter Zugriff 22.8.2015.

Die Clips ‚Sarrazin und das Judengen‘ (H16) und ‚Schluss mit Moor über Thilo Sarrazin‘ (H17) verlinken blau unterlegt auf den Clip ‚Thilo Sarrazin – Er war einfach nur betrunken! [ACHTUNG! SATIRE!]‘ (H18).662 Die satirische Intention steckt als Warnhinweis schon im Titel. Hierbei handelt es sich um eine Wiederverwertung, da das Material fast unkenntlich verändert wurde. Ein unscharfer Ausschnitt aus einem Interview vom Sender TV Berlin wird in Zeitlupe (Slow Motion) verlangsamt wieder-gegeben, sodass sich Sarrazin kaum verständlich und langgezogen artikuliert und damit den Eindruck von Betrunkenheit vermittelt. Der Produser parodiert Sarrazin durch die Bearbeitung des Originalmaterials im Spiel mit den unscharfen und unkla-ren audiovisuellen Einstellungen.

Die drei Videos beziehen sich als intermediales Netz über eingebaute Links aufei-nander und verstärken so gegenseitig ihr satirisches polysemes Spiel als explizit vernetzt geteilte Reihe. Das erste Fallbeispiel ‚Sarrazin und das Judengen‘ (H16) ist eine Wiederverwertung und Wiedergabe von audiovisuellen Materialien, mit der Funktion, Sarrazins These parodierend als antisemitisch einzuführen. Es wird durch die zwei weiteren Clips kontextualisiert. Das zweite Beispiel ‚Schluss mit Moor über Thilo Sarrazin‘ (H17) ist eine Wiedergabe einer Satire und hebelt als rhetorische Fortsetzung des ersten Videos die These Sarrazins aus. Das dritte Beispiel ‚Thilo Sarrazin – Er war einfach nur betrunken! [ACHTUNG! SATIRE!]‘ (H18) ist als Wie-derverwertung einzustufen und löst die im ersten Video illustrierte These eines ‚Ju-dengens‘ Sarrazins als Versehen auf. Die Videos können auch in einer anderen Rei-henfolge oder einzeln rezipiert werden; ihre Bedeutung als parodierendes Spiel mit Stereotypen allerdings erlangen sie zugespitzt erst in der Kombination. Die These von jüdischen Genen, im ersten Teil mit einer ironisch-überspitzten Verunglimpfung jüdischer Symbole parodiert, wird im zweiten Clip satirisch kommentiert und im drit-ten Clip wird Sarrazin parodierend diskreditiert. Außerdem werden Diskurselemente, die Diskussion über das Judengen und die Verdummung von Deutschland, durch die Spiele mit Materialitäten aufgegriffen. Als kommunikative Gattungen entstehen drei Satire-Recyclings, zu denen der Produser sich passend makefunofThilo nennt.