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Selbst produziertes audiovisuelles Material

5 Analyse charakteristischer Elemente der digitalen Erlebnisräume

5.1 Materiale und dispositive Spiele

5.1.4 Selbst produziertes audiovisuelles Material

Zu dieser Kategorie zählen Videoclips, die aus selbst produziertem Material wie bspw. bei den bereits erwähnten Wenzel TV, ABMR oder Filmpiraten bestehen. Da-runter fallen insbesondere Vlogs, Aktionsclips, eigene Reportagen oder Dokumenta-tionen sowie Musikclips.686 Diese Clips können Material und Einstellungen wiederho-len oder wiederverwerten, allerdings geben sie kein fremdes Material wieder. Es sei denn, dass fremdes und eigenes Material in einer Eigenproduktion kombiniert und dann weiterverwertet wird. Das Recycling mit selbst erstelltem Material findet auf der inhaltlichen und gattungsspezifischen Ebene statt sowie in Spielen um die audiovisu-ellen Einstellungen. Alle medialen Formen können dabei gewählt, abgewandelt und neu kontextualisiert werden.

686 Diese werden auf gattungsspezifische Spiele hin in Kapitel 5.2 untersucht.

Foto- und Filmremediation

In Wir. Und die Anderen (VP4) von Heimatfilm begegnen sich verschiedene Medien, mit denen die Erfahrungen dreier Migranten in Deutschland nachgezeichnet wer-den.687 Fotografisch anmutende Standbilder und Bewegtbilder in schwarz-weiß, Atmo-geräusche und O-Töne der Porträtierten bilden zusammen eine ungewöhnliche Materialkombination. Es findet ein Spiel mit Gegensätzen auf der visuellen wie zwi-schen der visuellen und auditiven Ebene statt. Standbilder werden gegen Bewegtbilder gesetzt, Geräusche gegen Schwarzbilder. So werden Vorstellungen von Ankommen, Weggehen und Bewegung als Zeichen für Migration audiovisuell imaginiert

Der Clip spielt mit der Imagination der Rezipienten, indem zuerst Töne oder Geräu-sche erklingen, bevor in der visuellen Einstellung die Szene nachfolgend dazu ein-geblendet wird. Abbildung 19 zeigt spielende Männer im deutsch-türkischen Freund-schaftsverein, einem Verein, der im Videoclip porträtiert wird. Vor dieser Einstellung sind auf Schwarzbild Stimmengewirr und das Klappern der Spielsteine zu hören, so-dass zunächst auditiv eine Vorstellung zu der Situation beim Rezipienten entsteht.

Abb. 19 VP4: Schwarz-Weiß-Standbild spielender Männer

Der Clip besteht aus einer Montage von Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die Arbeits- und Freizeitsituationen zeigen. In den Szenen sind meist mehrere Personen anwesend und es geschieht etwas (erklären, trommeln, spielen, reden, Patienten untersuchen,

687 VP4: Heimatfilm (21.1.2012): Wir. Und die Anderen. In: Vimeo, online:

<http://vimeo.com/35426638>, letzter Zugriff 22.8.2015. Eine nähere inhaltliche Betrachtung erfolgt unter Kapitel 5.4.1

180 Analyse charakteristischer Elemente der digitalen Erlebnisräume um die Thilo-Sarrazin-Affäre

kickern), das dokumentarisch fotografiert bzw. in Standbildern festgehalten wird.

Damit erhält das Gezeigte eine Zeitlosigkeit und Auswechselbarkeit. Zwischen den drei Porträts stehen Bewegtbilder. Sie geben alltägliche Großstadteindrücke wieder aus der Straßenbahn, dem Waschsalon und von einer Rolltreppe. Hier passiert nicht viel; die Protagonisten warten auf die nächste Station, das Ende der Maschine oder das Ende der Rolltreppe. Die Inszenierung von bewegungsloser Bewegtheit in den Fotografien und bewegter Bewegungslosigkeit in den Videoaufnahmen schafft eine eigene Dynamik für das Thema Heimat, Ankommen und Integration. Die Porträtierten haben sich alle von zu Hause weg bewegt und sich in Deutschland als neues Zuhau-se eingerichtet. Die visuelle Ebene verdeutlicht gerade in dem Kontrast von Bewegt- und Standbildern das Leben in Bewegung. Das mediale Spiel zeigt sich hier als äs-thetische Remediation von Fotografie, die Vorstellungen von Filmbildern und Rezep-tionsstrategien herausfordert. Das Sehen wird reflektiert, im Verhältnis von Ruhe und Bewegung, sowie im Wechselspiel zum Hören und daraus entsteht ein sinnliches intermediales Erlebnis.

Materialmix auf allen Ebenen

Der Musikclip ‚Kamyar & Dzeko – Generation Sarrazin (rap.de)‘ (M25) von rap.de thematisiert Integration aus Sicht der zwei jugendlichen Rapper des Songs.688 In den visuellen Einstellungen verbinden sich drei mediale Ebenen: Es werden nachgestell-te Szenen mit Sarrazin (s. Abb. 20), mit zwei befreundenachgestell-ten Jungen, die wahrschein-lich arabische und deutsche Wurzeln haben (s. Abb. 21) und Aufnahmen von den Sängern in einem Abrisshaus gezeigt (s. Abb. 22). Die verwendeten Zeichen sind ikonisch und symbolisch, sie bilden in einer Art Enactment Wirklichkeit ab. Re-Enactments sind ursprünglich die Nachstellungen historischer Ereignisse, auf Video-plattformen bilden sie eine Clipkategorie von Videoclips, die insbesondere Filme oder Games nachstellen.689 So stellt der Clip aus dem Jahre 2014 die Sarrazin-Affäre nach und ruft sie in Erinnerung. Das Buch und die Thesen werden visuell durch Sarrazin repräsentiert und ästhetisch mit der Form einer Dokumentation gespielt.

Gleichzeitig wird die fiktionale Geschichte von zwei Jungen erzählt und die Rapper posieren in typischen Gesten, aber ohne sich des abwertenden Gangsterraps zu be-dienen.690 Dazu kommen in den auditiven Einstellungen O-Töne von Sarrazin und Medienberichten, die in den Raptext eingestreut werden. Wie andere Musikclips ist er schnell geschnitten, was zu vielen Einstellungen führt. Als visuelle Praktik fällt der sog. Kinobalken am oberen und unteren Bildrand auf. Er entsteht beim Bildformat

688 M25: rap.de (16.9.2014): Kamyar & Dzeko – Generation Sarrazin (rap.de). In: YouTube, online:

<http://www.youtube.com/watch?v=CzHEcZnNMoA>, letzter Zugriff 22.8.2015.

689 Vgl. Richard, Birgit et al. (2010), S. 61; S. 64.

690 Mehr zu narrativen und diskursiven Spielen in diesem Clip unter Kapitel 5.3.3 und 5.4.3.

21:9 und kann bei Online-Videos als ästhetischer Materialeffekt eingebaut werden.

Das Video wirkt damit professioneller und remediatisiert die narrative Kinofilmform.

Der Clip kombiniert in diesem materialen Spiel Nachrichten, Interviews und filmi-sches Erzählen zu einem Internetmusikclip.

Abb. 20 M25: Sarrazin-Double

Abb. 21 M25: Familie des arabisch-stämmigen Jungen

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Abb. 22 M25: Rapperposen

Recycling der Schallplatte

Im Clip ‚LaLeLu: Thilo Sarrazin – das Video‘ (M1) von nordmende99 singt das Vokal-ensemble LaLeLu a capella gegen Sarrazin. Im materialen Spiel wird dabei audiovi-suell die Schallplatte remediatisiert.691 In der auditiven Einstellung erklingt ein Kna-cken wie von einer Plattenspielernadel. Der A-capella-Gesang des Ensembles passt zu Aufnahmen vom Beginn des letzten Jahrhunderts. Die visuelle Einstellung stützt diesen Eindruck durch die Aufnahme einer sich zum Gesang drehenden Platte (s.

Abb. 23). Das audiovisuelle Aufsetzen der Nadel auf den Plattenspieler ruft etwas Vergangenes in Erinnerung, eine andere Zeit, ein kaum noch genutztes Medium, eine bestimmte Musik. Der Charme und die Medialität aus der A-Capella-Zeit zu Be-ginn des 20. Jahrhunderts werden ins Digitale übertragen und können in der materia-len Simulation wiederentdeckt werden. Der Gesang des Vokamateria-lensembles LaLeLu wird als Gesang von der Schallplatte inszeniert. Damit stellt der Produser die Gruppe in den künstlerischen Kontext von historischen Ensembles wie die Comedian Harmonists. Nicht nur der Gesangsstil, auch der damit verbundene technisch-soziale Wiedergabeprozess, sowie die Rezeptionsweise des Schallplattenhörens, werden remediatisiert und als digitales Erlebnis verfügbar. Dieser Song belegt, dass nicht nur zur Thilo-Sarrazin-Affäre gerappt wird, sondern auch andere Musikgenres und damit andere Musikfans angesprochen werden. In diesem Fallbeispiel wird dennoch ähn-lich beleidigend gegen Sarrazin argumentiert wie in Rapclips.

691 M1: nordmende99 (7.9.2010): LaLeLu: Thilo Sarrazin – das Video. In: YouTube, online:

<http://www.youtube.com/watch?v=RE5cvnDSnbI>. Lalelu, online: <http://lalelu.de>. Letzter Zugriff beide 22.8.2015.

Abb. 23 M1: Remediation des Charmes der Schallplatte