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3 Digitale Erlebnisräume

3.1 Der digitalisierte Alltag

3.1.2 Das digitalisierte Erleben

Das ‚Erleben‘ ist ein erkenntnistheoretischer Grundbegriff, der die Grundlage der ei-genen unmittelbaren Erfahrung umfasst. Der Begriff wurde in mundan-phänomenolo-gischen Konzepten von Schütz fußend auf Husserl theoretisiert und in Bezug auf das Alltagserleben in konkreten Situationen von der Soziologie und Ethnomethodologie erforscht.241 Hinter der phänomenologischen Beschäftigung mit Erleben steht ein metaphysisches Interesse: Was ist der Mensch, was ist die Welt und wie hängt bei-des zusammen? Medien spielen eine wichtige Rolle für unser Erleben. Sie prägen unsere Wahrnehmung und strukturieren sie vor, bspw. in Schockerlebnissen, Freu-de, Immersion oder anderen Angeboten. Medien sind Gegenstand und Modifizierer des Erlebens. Videoclips bieten durch ihre Verbindung audiovisueller Kodes ein be-sonderes mehrstimmiges Erleben an.242 Letztendlich ist dieses spezifische Erleben das, was das Verständnis von Medien ausmacht und zu Interpretationen und be-stimmten Erwartungen führt. Fassen wir Medien, neben allem, was sie sein sollen und auch tatsächlich sein können, als Wahrnehmungsdispositive auf, dann offerieren sie ein Angebot der Weltkonstruktion, in „einer spezifischen Anordnung des Sehens

238 Vgl. Hörning, Karl H. (2004): Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkennt-nis- und Theorieproblem. In: Hörning, Karl H./ Reuter, Julia (Hg.) (2004): Doing Culture. Neue Po-sitionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Transcript: Bielefeld, S. 19-39, hier S. 31.

239 Dabei spricht sich Göttlich für eine praxeologische Begründung von Handlung über normative Handlungstheorien und zu enge Fokussierungen der Cultural Studies hinaus aus, vgl. Göttlich, Udo (2008): Zur Kreativität des Handelns in der Medienaneignung: Handlungs- und praxistheoretische Aspekte als Herausforderung der Rezeptionsforschung. In: Winter, Carsten/ Hepp, Andreas/ Krotz, Friedrich (Hg.): Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Grundlegende Diskussionen, Forschungsfelder und Theorieentwicklungen. VS: Wiesbaden, S. 383-399, S. 384.

240 Hörning, Karl H./ Reuter, Julia (2004), S.13 (Herv. Im O.).

241 Vgl. u.a. Schütz, Alfred (1974); Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (1978): Alltagswissen, Inter-aktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Rowohlt: Hamburg; Hitzler, Ronald (2008): Von der Lebens-welt zu den ErlebnisLebens-welten. Ein phänomenologischer Weg in soziologische Gegenwartsfragen. In:

Raab, Jürgen/ Pfadenhauer, Michaela/ Stegmaier, Peter/ Dreher, Jochen/ Schnettler, Bernd (Hg.) (2008): Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empiri-sche Umsetzungen. VS Verlag: Wiesbaden S. 131-140.

242 Vgl. dazu Eder, Jens (2009), S. 14.

und der Gegenstände visueller (und unter deren Dominanz auch auditiver) Wahr-nehmung“.243

Das Erleben bezieht sich auf einen unmittelbaren Vorgang der Weltwahrnehmung, als ein allgemeiner aktiver Bewusstseinsvorgang des erlebenden Subjekts.244 Erleb-nisse werden verarbeitet und so zur Erfahrung. Die Erfahrung ist eine abgelaufene Form des Erlebens, aus dem Strom des Bewusstseins und wird durch Reflexion er-langt wie Schnettler ausführt: „In der natürlichen Einstellung des Alltags leben wir nämlich vor allem in einem unaufhörlichen Erlebnisstrom“.245 Erlebnisse sind vom Bewusstsein eines aktiven Subjekts konstituierte Erfahrungswirklichkeiten. Ein weite-rer Begriff, der mit dem Erleben zusammenhängt, ist das Wissen, was als sedimen-tierte Erfahrung aufgefasst wird.246 Aus dem ursprünglichen Sinneseindruck werden Erinnerungen, die wir zur Deutung der Welt, einer Orientierung in ihr und situations-angemessenem Handeln verwenden. Erlebensprozesse sind intentional, subjektbe-stimmt und situativ.

Die Videoclips, die dominanter Inhalt auf Videoplattformen neben Buttons, Links oder Textinformationen sind, bieten ein synästhetisches Erleben.247 Ein Erleben, das in-folge intermedialer Verdichtung möglich ist und zwar dadurch, dass auf Videoplatt-formen gleichzeitig verschiedene Modalitäten und Medialitäten präsent sind. Erleben ist ein komplexer menschlicher Bewusstseinsvorgang, der verschiedene Sinne und Erwartungen zusammen bringt.248 Jegliche Wahrnehmung sei erlernt und kulturell geprägt, erläutert Krotz.249 Beim Erleben von Videoclips komme es, wie Hanich für Filme ausführt, zu einer sinnlichen Ergänzungstätigkeit des Zuschauers, „das hapti-sche, olfaktorihapti-sche, gustatorische und kinästhetische Imaginieren von

243 Paech, Joachim (1990), S. 33.

244 Bewusstseinsvorgang heißt nicht, dass uns bewusst bzw. verbalisierbar ist, was in uns vorgeht.

Damit sei nur kurz auf das introspektivische Methodenproblem bei Motiv- und Gratifikationsstudien verwiesen, vgl. Diskussion bei Schweiger, Wolfgang (2007), S. 69f.

245 Schnettler, Bernt (2007a): Alfred Schütz. In: Schützeichel, Rainer (Hg.) (2007): Handbuch Wissens-soziologie und Wissensforschung. UVK: Konstanz, S.102-117, hier S. 108.

246 Schnettler, Bernd (2007b): Thomas Luckmann. In: Handbuch Wissenssoziologie und Wissens-forschung. UVK: Konstanz, S. 161-170, hier S.167.

247 Vgl. Fernández Castrillo, Carolina (2013): Intermedialities in Visual Poetry: Futurist ‘Polyexpressivi-ty’ and net.art. In: Journal of Comparative Literature and Aesthetics, 36, 2013, S. 107-121. Fernandez benutzt den auf die Futuristen zurückgehenden Begriff ‚Polyexpressivität‘ und veranschaulicht, dass viele Onlinepraktiken Avantgardepraktiken sind.

248 Es ist fraglich, ob neben den audiovisuellen Sinnen wirklich der Tastsinn relevant ist und nicht nur seine Imagination, da die Zeichen virtuell ungreifbar sind. Einerseits steuern wir aber damit unsere Geräte und das mediale Geschehen wie Spiele oder Sendungen. Der Tastsinn verbindet uns auch neu mit unseren Geräten. Durch das Touchscreen und andere haptische Interfaces braucht es direkte Berührung, Streich- und Streichelbewegung am körpernahen Gerät. Statt Fernsteuerung arbeiten Auge und Finger zusammen und so slidet der Nutzer nun durchs Internet voller Abenteuer- und Entdeckungslust.

249 Krotz, Friedrich (2012), S. 32.

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Anwesendem“.250 Digitale Medien bilden Räume, welche die nach Simanowski sinn-entleerte Theatralisierung und Ästhetisierung von Politik und gesellschaftlichem Le-ben mit Erlebnisangeboten füllen.251 Er kommt zu dem Schluss: „Die digitalen Medi-en bestimmMedi-en die Kultur der Erlebnisgesellschaft so nachhaltig, dass die meistMedi-en Abenteuer heutzutage im Internet stattfinden“.252 Dafür gibt es sogar einen eigenen Begriff: Intertainment wird das Entertainment im Internet genannt.253

Digitale Erlebnisräumen werden in den materialen, gattungspezifischen, narrativen und diskursiven Praktiken von drei heuristischen Perspektiven auf Erleben begleitet, einem materialen, sozialen und ästhetischem Erleben. Diese Kategorien sind nur analytisch zu trennen, weil sie sich gegenseitig bedingen und überschneiden. Ein materiales Erleben bezieht sich auf die mediale Verfasstheit, auf intermediale Pro-zesse und digitale Daten, aus denen Videoclips bestehen und welche materiale Vor-stellungen remediatisieren. Es gilt zu untersuchen, wie in der Auseinandersetzung mit virtueller Realität und dem Online-Sein Videoplattformen als Teil des Alltags un-ser Wahrnehmen um die digitale Sphäre erweitern. Erleben wird online durch digitale Artefakte und Praktiken möglich. Eine frühe ethnografische Studie aus den Anfängen von Chaträumen von Markham belegt, dass die Nutzer Virtualität als Seinsform leben und Online-Erlebnisse als genauso real gelten, wie Offline-Erlebnisse.254

Soziales Erleben wird von Videoplattformen durch die Partizipationsmöglichkeiten wie Feedbackfunktionen angeboten. Der Nutzer teilt z.B. sein oder ein anderes Video in seinen persönlichen Netzwerken und lädt so zu einem kommunikativen Austausch ein, es entstehen „persönliche Öffentlichkeiten“.255 Auch wenn mit der Kommentar-funktion keine Live-Unterhaltungen wie bei einem Chat möglich sind, können sich aufeinander bezogene Unterhaltungen entwickeln.Soziale Ereignisse tragen zu den Erlebnisräumen um Videoclips bei, die mannigfach Interessengruppen und kommu-nikative Praktiken dokumentieren. Durch Remediationen werden Relationen zwi-schen den recycelten Medien, ihren Produsern und Fangruppen geschaffen.

„Die Ästhetisierung des Alltagslebens“ hat bewirkt, dass das Schöne nicht mehr nur als seltene Erhabenheit erlebt wird, sondern von ihr losgelöst und gleichberechtigt

250 Hanich, Julian (2012): Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers – eine Annäherung. In: Hanich, Julian/ Wulf, Hans-Jürgen (Hg.) (2012): Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers. Wilhelm Fink: München, S.21.

251 Vgl. Simanoswki, Roberto (2008), S. 13.

252 Ebd. S. 23.

253 Vgl. ebd.

254 Markham, Annette H. (1998): Life Online. Researching Real Experience in Virtual Space. Alta Mira Press: Walnut Creek.

255 Vgl. Schmidt, Jan-Hinrik (2013), S. 26f.

massentauglich zur Popkultur gehört.256 Das Streben nach etwas Schönem dient all-gemein dazu, „Konsum- und Unterhaltungsangebote nach Maßstäben der Schönheit auszuwählen: sinnlicher Reiz, emotionale Intensität, Stärke des Erlebens“.257 Ästhe-tisch kann ein Erleben zum einen sein, weil in den Erlebnisräumen etwas Schönes erlebt werden kann. Zum anderen erlebt der Produser sich selbst als kreativ und vollzieht gleichzeitig eine soziale Distinktion zur benötigten Selbstinszenierung.258 Ein Videoclip kann, gerade durch seine oft betonte Trivialität, einen besonderen oder interessanten Moment des Produsers zeigen, als erhaben erlebte Bilder darstellen oder die Machart kann mitreißen. Durch einen spielerischen Umgang mit dem Mate-rial entstehen ästhetische Ereignisse, die ganz eigene Videoclipgenres und -narra-tionen prägen. Solche Intermedialitätsprozesse weist Autenrieth am Beispiel fotogra-fischer Selbstrepräsentationen Jugendlicher in sozialen Netzwerken nach.259 Fotos vom Alltag und außergewöhnlichen Ereignissen verdichten sich zu biografischen Er-zählungen innerhalb der Peergroup und zeichnen sich durch ständige Überarbeitung aus.260 Autenrieth stellt zur Gestaltung fest: „Online-Photoalben erinnern an die Idee der Doku-Soap, welche hier jedoch nicht über laufende, sondern über stehende Bil-der selbst inszeniert wird“.261

Digitale Praktiken sind nur anhand der digitalen Artefakte, die als Spuren aus den Interaktionen im Social Web zirkulieren, zu erfassen.262 Die Handlungsoptionen Pro-duktion, Rezeption und Distribution bieten ein genießerisches, lustvolles und spieleri-sches Erleben von sich, den Netzwerken oder dem Material. Es geht um Erlebens-formen durch den Spaß im Ausprobieren, Verweilen und der damit verbundenen Konstituierung von Erlebnisräumen. Fiske führt aus einer an den Cultural Studies orientierten Perspektive heraus aus, dass ein Text dadurch mehrere Lesarten

256 Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Campus Verlag: Frankfurt/New York, S. 33. Er beschreibt den gesellschaftlichen Wandel allgemein als Streben nach schönen Erlebnissen. Dies umfasst Lebensauffassungen und beeinflusst subjektorientierte Kauf- und Bewertungsprozesse.

257 Vgl. Maase, Kaspar (2008): Einleitung: Zur ästhetischen Erfahrung der Gegenwart. In: Maase, Kaspar (Hg.) (2008): Die Schönheit des Populären. Campus: Frankfurt/New York, S. 9-26, hier S. 12.

In diesem Sinne diskutiert auch Wagenbach ästhetisches Erleben zwischen Kunst und Lifestyle, wonach Hoch- und Popkultur sich nur noch nach räumlichem und institutionellem Kontext unter-scheiden, vgl. hierzu: Wagenbach, Marc (2012), S. 163ff.

258 Vgl. Wagenbach, Marc (2012), S. 169.

259 Vgl. Autenrieth, Ulla P. (2010): Doku-Soap des eigenen Lebens – Photographische Selbstreprä-sentation als intermediale Identitätsarbeit von Jugendlichen auf Social Networking Sites. In: Blättler, Andy et al. (Hg.) (2010): Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung. Medientheoreti-sche Analysen und ästhetiMedientheoreti-sche Konzepte. Transcript: Bielefeld, S. 221- 234.

260 Vgl. ebd., S. 223.

261 Ebd., S. 238.

262 Vgl. Krämer, Sybille (2007): Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme. In: Krämer, Sybille/ Kogge, Werner/ Grube, Gernot (Hg.) (2007):

Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.11-33.

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te, dass ein Leser darauf eingehe, ihn interpretiere und so aktiviere.263 Der Leser ist an der Bedeutungsherstellung beteiligt. Es wird ein Raum geschaffen, in dem Frei-heit und Kontrolle des Selbst und die Bedeutung eines Textes erlebbar sind.264 So können die Handlungs- und Erlebnisdimensionen auf Videoplattformen als Einladung zu diesem ‚Spiel‘ verstanden werden: „Pleasure may be provoked by the text, but it can only be experienced by the reader in the reading“.265 Von Nutzer zu Nutzer und Videoclip zu Videoclip zirkulieren die Bedeutungen. Digitale Erlebnisräume sind pro-zessuale Zwischen-Räume, die im Gebrauch der Produser konstituiert werden und zwischen on- wie offline Praktiken zirkulieren. So stellt Krotz fest:

Die erste und wichtigste situative Gestalt eines Mediums ist seine Verwendung als Erlebnisraum der Menschen, die dieses Medium nutzen. Ganz gleich, ob Me-diennutzung allein und unter Verwendung komplexer Kenntnisse stattfindet wie beim Lesen eines Fachbuchs, oder ob eine Gruppe von Menschen gemeinsam die scheinbar natürliche oder naturidentische Abb. der Welt wie beim ,public viewing‘ eines Fußballevents im Fernsehen erlebt […] – in einer handlungstheo-retischen Perspektive ist dies die wichtigste, aber natürlich nicht die einzige Be-schreibung, die ein Medium besitzt, und nur dadurch werden etwa Techniken zu Medien.266

Digitale Erlebnisräume erweitern durch ihre digitale Verfasstheit nicht nur unsere Le-benswelten, sondern wandeln auch kommunikative Praktiken. Daher wenden wir uns im Folgenden der Achse der Intermedialität zu, die in der vorliegenden Arbeit die Ba-sis für die konstituierenden Praktiken darstellt.