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4 Methodologischer Rahmen

4.5 Analyseperspektiven

4.5.4 Spiele mit Diskursen

Nicht mehr nur die klassischen Massenmedien sind ein Ort medialer und mediatiserter Diskurse, auch in digitalen Erlebnisräumen entfalten sie sich. Diskurse werden zurückgehend auf Foucault allgemein als sozial normierte Kommunikations-praktiken verstanden, die sich in einer Gesellschaft über eine Zeitspanne mit be-stimmten Aussagen entwickeln:

Ich setze voraus, daß [sic] in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zu-gleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Dis-kurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwe-re und bedrohliche Materialität zu umgehen.598

Diskurse nehmen in digitalen Erlebnisräumen nicht nur auf Aussagen in Videos Be-zug, sondern thematisieren dabei Geschehnisse und Denkmögliches aller Art. „Dis-kurse bringen Weltbilder, Gesellschaftsdeutungen und sozial wirksame Klassifikatio-nen hervor“.599 Es findet ein Spiel mit Diskursen statt, indem Themen, Kontexte und Perspektiven in Remediationen fragmentiert und rekombiniert werden, wie Misso-melius ausführt:

Das Fragment, das Pixel, Teil einer visuellen oder musikalischen Komposition, eine Buchstabenfolge oder vieles andere mehr, büßt seine Teilhaftigkeit an ei-nem ursprünglichen Gesamtkontext ein. Durch Rekombination entstehen neue – wenn auch temporäre – Semantiken, die mit der Bildung neuer Bedeutungen verbunden sind. Fragmentarisierung und Rekombination erlauben somit das Er-proben unterschiedlicher (Bedeutungs-)Zusammenhänge.600

Aspekte der Digitalität, des Netzwerks und Produsages vereinfachen die (Re)Pro-duktion und Verbreitung von Diskursen.601 Mit Bucher et al. lässt sich der Diskurs als

597 Ausführlich bei Stockinger, Peter (2010), S.90ff.

598 Foucault, Michel (1993): Die Ordnung des Diskurses. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt a.M., S. 7-49, hier S. 10f.

599 Diaz-Bone, Rainer (2005): Diskursanalyse. In: Mikos, Lothar/ Wegener, Claudia (Hg.) (2005):

Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch. UVK: Konstanz, S. 538-552, hier S. 539. Foucault entwirft einen komplexen Ansatz zu Diskursen, die Wissensordnungen und Machtstrukturen bein-halten und eine Gesellschaft prägen, vgl. Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Eine Ar-chäologie der Humanwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt a.M.

600 Missomelius, Petra (2006): Digitale Medienkultur. Wahrnehmung – Konfiguration – Transformation.

Transcript: Bielefeld, S. 51.

601 Vgl. die Darstellung der sozio-technischen Ausstattung digitaler Erlebnisräume in Kapitel 3.3 in der vorliegenden Arbeit.

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Netzwerk spezifizieren: „Eine weit verbreitete Lesart von Diskurs besteht darin, eine thematisch zusammenhängende, gesellschaftliche Diskussion als Diskurs zu begreifen“.602 In digitalen Erlebnisräumen konstituieren Videoclips als kommunikative Handlungsprodukte soziale Relationen zwischen Akteuren und intermediale Relationen zwischen Artefakten.603 Damit versteht die vorliegende Arbeit Diskurse als netzwerkartig organisiert, d.h. dass sie über Videoclips, Plattformen, Perspektiven und Profile sowohl in Fragmenten bestehen, wie auch beliebig kontextuell oder thematisch neu zusammenzubringen sind.

Stockinger betont die foucaultschen „Prozeduren der Ausschließung“604: „Diskurs ist Ausdruck einer Gewalt, die die Zulassung zu ‚wissenden, ‚künstlerischen‘, ‚politi-schen‘ Kreisen oder die Ausschließung von diesen manipuliert“.605 Diese Prozeduren existieren, wenn auch in anderer Ausprägung, auch für digitale Erlebnisräume.606 In ihnen differenzieren und verdichten sich Diskurse, da die Produser „selektiv vorge-hen und jeweils ihren eigenen Diskurs konstituieren“.607 Neue und remediatisierte Kreise der Diskursproduktion bilden sich. Digitalität, Netzwerk und Produsage tragen zu multimodalen und intermedialen, dynamischen diskursiven Ausdrucksformen bei.

Diese Partizipationsmöglichkeiten führen ebenso zu einer „Pluralität der Diskursposi-tionen“ wie Tereick am Beispiel des Klimawandeldiskurses auf YouTube belegt.608 Für digitale Erlebnisräume gilt das Prinzip, dass sich jeder an Diskursen beteiligen und gehört werden kann.609 Bei YouTube heißt es dazu: „Wir fordern zur freien Mei-nungsäußerung auf und setzen uns für dein Recht ein, unbeliebte

602 Bucher, Hans-Jürgen et al. (2008), S. 47.

603 Vgl. ebd., S. 46.

604 Foucault, Michel (1993), S. 11, S. 16ff.

605 Stockinger, Peter (1983): Semiotik. Beitrag zu einer Theorie der Bedeutung. Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz: Stuttgart, S. 2.

606 Es wird nicht davon ausgegangen, dass das Internet ein herrschaftsfreier Raum ist. Siehe dazu die neuere Studie über das diskursive Potential von Twitter, die utopische und dydtopische Vorstellung über Onlinekommunikation diskutiert, vgl. Thimm, Caja/ Einspänner, Jessica/ Danh-Ahn, Marc (2012):

Politische Deliberation online. Twitter als Element des politischen Diskurses. In: Hepp, Andreas/ Krotz, Friedrich (Hg.) (2012): Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze. Springer VS: Wiesbaden, S. 283-306.

607 Bucher, Hans-Jürgen et al. (2008), S. 51.

608 Tereick, Jana (2011): YouTube als Diskurs-Plattform. Herausforderungen an die Diskurslinguistik am Beispiel ,Klimawandel‘. In: hamburger hefte zur medienkultur. Videoportale: Broadcast Yourself?

Versprechen und Enttäuschung. 12, 2011, S. 59-68, hier S. 60.

609 Begrenzt durch den Rahmen der Nutzungsbedingungen und Leitlinien der Videoplattformen, die das Miteinander ihrer Nutzer und die Uploads regeln (bspw. Urheberrechte, pornografischer oder ge-werbliche Inhalte) sowie durch die für Deutschland geltenden Gesetze der Bundesrepublik Deutsch-land.

sen kundzutun, aber wir erlauben keine Hassreden“.610 In den Leitlinien von Vimeo wird ein höflicher Umgang miteinander betont: „Wir bestehen darauf, dass du auf Vimeo den Leuten, denen du begegnest, sowie ihren Videos Respekt entgegen bringst“.611

In der vorliegenden Arbeit wird rekonstruiert, wie die untersuchten Videoclips die mit der Thilo-Sarrazin-Affäre verbundenen Diskurse und ihre audiovisuellen Zeichen remediatisieren.612 Wie eignen sich die Produser digitaler Erlebnisräumen Diskurse an, ergänzen sie um andere thematisch ferne oder nahe Aspekte, verändern und kombinieren sie? Remediationen zergliedern die inhaltliche Ebene eines Videoclips in die Ebene des ‚Original‘-Materials, die Ebene der Bearbeitung, die Ebene des all-gemeinen Themas und die Ebene weiterer Diskurszusammenhänge.613 Die Video-clips sind polyseme, diskursive Konstrukte. Stockinger beschreibt die diskursive Ebene von Videoclips als: “level which serves for describing the way in which the speaker (the ‘author’) of the text ‘paints’ and ‘frames’ the object being discussed, and how it is handled in relation to its audience, the objectives being pursued, etc.”.614 Es geht beim Spiel mit Diskursivitäten um die inhaltliche Perspektivierung und Rahmung von Argumenten, in denen Produser Themen und Meinungen in den Videoclips be-handeln und Diskurse re-produzieren.

Als Zwischenfazit zum Spiel mit Diskursen kann festgehalten werden, dass unter-sucht wird, wie Diskurse in digitalen Erlebnisräumen vielfältig re-produziert und dabei erlebbar werden. Durch Remediation und Multimodalität sind Diskurse mehrschichtig und polysem. Diskursivität bildet eine Dimension der Remediation, d.h. in diskursiven Praktiken werden Themen und rhetorische Figuren neukonfiguriert. In Remediatio-nen werden mehrere, sich ergänzende oder ausschließende diskursive Themen und Perspektiven miteinander vermischt. Die Thilo-Sarrazin-Affäre stellt einen Themen-komplex dar, der in den Videos fortgeführt und ausdifferenziert wird.615 Es wird deutlich, dass Diskurse in digitalen Erlebnisräumen flexible, netzwerkartige und dynamische Strukturen ausbilden. Deren inhaltliche Muster und Praktiken sind zu

610 YouTube Community Richtlinien: Hassreden. In: YouTube, online

<https://support.googlr.com/youtube/answer/2801939>, letzter Zugriff 22.8.2015.

611 Vimeo Community Leitlinien: Sei nett und bleib cool. In: Vimeo, online

<https://vimeo.com/helps/guidlines>, letzter Zugriff 22.8.2015.

612 Für eine detaillierte linguistische Analyse einzelner massenmedialer Diskursfragmente der Thilo-Sarrazin-Affäre in Printmedien vgl. Friedrich, Sebastian/ Schultes, Hannah (2011).

613 Vgl. Tereick, Jana (2011), S. 64. Tereick benennt diese Ebenen als vielfältige Bezugnahmequellen für Kommentare. Sie weist darauf hin, dass sich dadurch Diskurse weiter entfalten. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Videoclips und beschreibt ihre diskursive Dimension heuristisch. Eine eingehende Diskursanalyse muss andernorts erfolgen.

614 Stockinger, Peter (2012), S. 19.

615 Siehe dazu das Kapitel 2 Die Thilo-Sarrazin-Affäre der vorliegenden Arbeit.

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rekonstruieren: Das Recycling führt zu Wiederholungen, zu Anhäufungen von Diskurselementen und Akzentverschiebungen.

5 Analyse charakteristischer Elemente der digitalen