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2. Ernst Troeltsch

2.1. Wertender Religionsvergleich

Kriteriologisch grundlegend für den wertenden Religionsvergleich ist für Ernst Troeltsch – ähnlich wie für Schleiermacher – die Polarität von Natur und Geist, von «Sinnenwelt» und der «übersinnlichen Welt absoluter jenseitiger religiöser Güter»15. Je vergeistigter eine Religion ist, je mehr sie sich von ihren Bindungen an naturhafte, geografische und geschichtliche Gegebenheiten gelöst und die Identifikation des Göttlichen mit Natur-kräften und -erscheinungen, mit einem heiligen Land, mit regionalen Kult-stätten oder mit politischen Institutionen abgelegt hat, um so höhere Wertschätzung gebührt der sich in ihr ausdrückenden Idee.

Dieses grundlegende Unterscheidungsmerkmal führt Troeltsch dazu, die von ihm so genannten «Polydämonismen und Polytheismen der

12 A. a. O., 55.

13 KGA V, 166.

14 Für die folgende Darstellung greife ich zurück auf: Reinhold Bernhardt:

Der Absolutheitsanspruch des Christentums (siehe Anm. 1 in der Einleitung zu diesem Band), 136–148; ders.: «Vor dem Richterstuhl der Religionsgeschichte».

Zur Problematik der Versuche, Religionen zu evaluieren, in: Reinhold Bernhardt, Georg Pfleiderer (Hg.): Christlicher Wahrheitsanspruch – historische Relativität.

Auseinandersetzung mit Ernst Troeltschs Absolutheitsschrift im Kontext heuti-ger Religionstheologie, Zürich 2004, 209–232.

15 KGA V, 193.

niederen Stufen»16 aus dem Vergleich auszuscheiden. Er hat dabei die Religionsbildungen im Blick, die man in der zeitgenössischen und der späteren Religionswissenschaft als Natur-, Stammes- oder Partikular-religionen (im Unterschied zu den UniversalPartikular-religionen) bezeichnete. In ihnen sei die Gottesvorstellung in Weltverhaftung gefangen; sie trans-zendiere nicht das in Natur und Geschichte Vorfindliche.

Auch das Judentum hätte diesem Religionstypus zugeordnet werden können, denn sowohl von der Zahl seiner Anhänger als auch im Blick auf die Bezogenheit auf das Heilige Land unterscheidet es sich von den uni-versalen Weltreligionen. Dass Troeltsch diese Zuordnung nicht vornahm, hat seinen Grund im Monotheismus des Judentums. Die Einheit der Gottes-vorstellung hebt es über die Polydämonismen und Polytheismen hinaus. Mit Schleiermacher gesprochen: Das Universum wird nicht als geist- und strukturloses Chaos, auch nicht als Vielheit ohne Einheit, sondern als Ein-heit in der VielEin-heit angeschaut.17 In der Einheit in der Gottesvorstellung bringt sich die (von Troeltsch vorausgesetzte) Einheit Gottes selbst zum Ausdruck. Daher ist diese Vorstellung anderen Grundkonzepten der Religion überlegen.18 «Polydämonismen und Polytheismen» lassen diese einheitsstiftende Integrationskraft der Gottesidee demgegenüber nicht zur Entfaltung kommen und verlieren sich stattdessen in der Mannigfaltigkeit des sakralisierten Welthaften.

Auf der Ebene der höheren Religionsbildungen befinden sich nicht nur die drei abrahamitischen Religionen, sondern auch die beiden großen Mitglieder der indischen Religionsfamilie: «Brahmanismus» (Troeltschs Bezeichnung für Hinduismus) und Buddhismus. Sie stehen in Wert-konkurrenz zueinander. Um den Vergleich zwischen ihnen anzustellen, führt Troeltsch weitere Unterscheidungsmerkmale ein: zuerst die auf Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zurückverweisende Typisierung von Gesetzes- und Erlösungsreligionen. Sie hebt das Christentum aus der abrahamitischen Religionsfamilie heraus und stellt es zusammen mit Hinduismus und Buddhismus auf die höhere Stufe der Erlösungs-religionen.

16 KGA V, 192.

17 R (siehe Anm. 1 in Kapitel 1): 126–130; 255f (KGA I/2, 185–326).

18 «Der Gottesbegriff enthält überall Tendenzen auf Vereinheitlichung, Ver-geistigung, Versittlichung und Entgegensetzung gegen die Welt und die Seele»

(KGA V, 196).

Die Gesetzesreligionen Judentum und Islam seien den Erlösungsreli-gionen unterlegen, weil sie zwar die sinnliche von der geistigen Sphäre trennten, vom Menschen selbst aber den Aufstieg in die höhere Welt erwarteten – und zwar durch Gesetzesobservanz. Solche heteronomen Gehorsamsleistungen sind aber mit der Ausbildung personaler Freiheit inkompatibel. Die Erlösungsreligionen sind nach Troeltsch demgegen-über gekennzeichnet durch ihre Überwindung aller Bindungen des Gött-lichen und des Seelischen an das Welthafte und durch die Leugnung der Möglichkeit, mit den natürlichen Seelenkräften aus der natürlichen Welt emporzusteigen. Die Seele ist hier befreit von ihrer eigenen Natur, sie füllt sich allein mit den Kräften des Göttlichen und stellt sich der vorgefunde-nen Welt gestaltend, d. h. absolute Werte verwirklichend gegenüber.

Um nun aber weiter zwischen den drei Erlösungsreligionen werturtei-lend differenzieren zu können, zieht Troeltsch die Unterscheidung zwi-schen Personalität und apersonaler Eshaftigkeit heran. Diese Unterscheidung ist sowohl auf das Gottes- wie auch das Menschenverständnis bezogen: Je personalistischer die Gottes- und die Menschenvorstellung einer Religion ausgeprägt ist, je mehr Gott und Mensch als freie, ideengeleitete, unbe-dingte Werte verwirklichende Persönlichkeiten angesehen werden, je stär-ker es der Freiheit der menschlichen Subjekte und der Souveränität Gottes zugeschrieben wird, mit der Realisierung übersinnlicher, absoluter Werte alles bloß Gegebene gestaltend zu überwinden, um so höhere Wertigkeit kommt der jeweiligen Religion zu.

Im Hintergrund dieses Kriteriums steht die theologische Unterschei-dung von Theismus und Pantheismus sowie die religionsphänomenolo-gische Typisierung von ethisch-prophetischer und mystischer Religion, wie sie in der damaligen Religionstypologie anzutreffen war und wie sie dann von Friedrich Heiler pointiert herausgearbeitet wurde.19 Schon Schleiermacher hatte der von ihm so genannten «Pantheistische[n]

Vorstellungsart»20 einen theologischen Personalismus gegenübergestellt.

Diese Unterscheidung steht in sachlicher Nähe zur Gegenüberstellung des teleologischen und des ästhetischen Frömmigkeitstyps.

Je stärker sich eine Religion von Leitvorstellungen mystischer Selbst-auflösung in das Göttliche hinein und von einer alle personalen Identitäten

19 Friedrich Heiler: Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsy-chologische Untersuchung, München 19214, 248ff;

20 R 256 (KGA I/2, 302).

aufsaugenden Alleinheitslehre unterscheidet, je ausgeprägter sie das Mo-ment der personalen Freiheit und der sittlichen Selbstbestimmung des Menschen einerseits und der transzendenten, geistigen Personalität Gottes andererseits zum Ausdruck bringt, umso höher ist nach Troeltsch ihre Wertigkeit.

Hier findet die personalistische und voluntaristische Prägung des Troeltsch’schen Gottesbildes ihren Niederschlag: Gott ist nicht als Fülle des Seins aufgefasst, sondern als höchste sittliche Freiheit, als Werte setzender und verwirklichender Wille, nicht als apersonales Ordnungs-prinzip, sondern als personal verfasste, über die Geschichte herrschende, ihr Sinn und Ziel gebende Handlungsmacht.21

In den östlichen Religionen werde die Gottheit dagegen als in sich ruhendes, weltloses, dinghaftes Es aufgefasst – sei es als ewiges Sein, sei es als Nichts22 –, als von aller Geschichtlichkeit der Welt grundlegend ge-schiedenes impersonales Absolutum. Diese Art der Zuordnung des Gött-lichen zum WeltGött-lichen führt nach Troeltsch zur Abwertung der Welt (zu bloßem wesenlosen Schein) und damit zur Abwendung von der Welt statt zum tätigen Sich-Einstellen in die göttliche Sinnrichtung der Geschichte.

Troeltsch deutet diese Auffassungen des Göttlichen als unterpersonal. Die Möglichkeit, sie auch als überpersonal zu verstehen, sah er nicht.

Dem Gottesbild korrespondiert die Erlösungsvorstellung, die das zweite grundlegende Unterscheidungsmerkmal der fernöstlichen Religio-nen von der christlichen markiert. Troeltsch differenziert hier zwischen einem heterosoterischen und einem autosoterischen Erlösungsweg, zwi-schen der Offenbarung der übersinnlichen Geisteswelt an die dafür emp-fängliche, von natürlicher Einbindung vollkommen unabhängige Seele der freien Persönlichkeit und dem Aufschwung der natürlichen Seelenkräfte

21 Dies zeigt sich dann deutlich in der 1925 von Gertrud von le Fort publi-zierten «Glaubenslehre», die auf seine 1911/1912 gehaltenen Heidelberger Vorle-sungen zurückgeht. (127–239, bes. 138ff), wo Troeltsch konstatiert, Gott sei «in erster Linie allmächtiger, schöpferischer Wille» […], «womit ganz von selbst […]

auch seine Personalität gegeben ist» (139). Dabei bleibt er sich der Analogizität und Anthromorphie dieser Bestimmungen bewusst und reflektiert deren Proble-matik (144). – Vgl. auch den handschriftlichen Zusatz zur Absolutheitsschrift, in dem Troeltsch vom «ethische[n] Willens- und Gnadengott» spricht (KGA V, 198, Anm. a).

22 KGA V, 194.

des heilsuchenden Menschen, der sich spiritueller Übungen bedient, um in das göttliche Mysterium einzugehen.

In den beiden fernöstlichen Religionen hat der Mensch – so Troeltsch – seine Erlösung selbst zu bewerkstelligen: nicht durch Gesetzesobservanz, sondern durch geistige Selbstvertiefung und Rückzug von der nur schein-haften Welt, was wiederum durch spekulative Erkenntnis und Kontemp-lation oder durch Askese und die Brechung des Willens vollbracht werden kann. So vermögen diese vermeintlichen Erlösungsreligionen dem Begriff der Erlösungsreligion nicht wirklich gerecht zu werden. Als Selbsterlö-sungswege bleiben sie den natürlichen Befähigungen der Menschen ver-haftet. Auch in dieser Bewertung ist die Rechtfertigungslehre mit ihrer Unterscheidung zwischen Selbstrechtfertigung und geschenkter Gnade wirksam.

Aus dem axiologischen religionsgeschichtlichen Vergleich geht das Christentum als «stärkste und gesammeltste Offenbarung der personalis-tischen Religiosität»23 hervor. Als prophetische Erlösungsreligion stellt es das Sammelbecken aller religiösen Werte dar und darf somit als die quali-tativ höchste, weil «Wert-vollste» unter den Weltreligionen gelten. Allein hier ist nach Troeltsch mit jeglicher Form der Naturreligion vollkommen gebrochen.

Troeltschs Argumentationsgang lässt sich folgendermassen zusam-menfassen: Er spannt eine grundlegende Wertskala zwischen den Polen Natur und Geist sowie Weltbezug und Gottesbezug aus und bestimmt sie näher durch die übereinander gelagerten drei typologischen Unterschei-dungen von (a) Partikular- und Universalreligion, (b) Gesetzes- und Erlö-sungsreligion sowie (c) «mystischer» Eshaftigkeit und prophetischem Per-sonalismus. Erst die Verschränkung dieser Unterscheidungen führt zum Ausweis der Höherwertigkeit des Christentums. Je für sich genommen ergäben sich aus den Typen jeweils unterschiedliche Zusammenordnun-gen des Christentums mit anderen Religionen:

– Als Universalreligion stünde es auf einer Ebene mit den beiden ande-ren abrahamitischen und den beiden Religionen indischen Ursprungs;

– den Titel der Erlösungsreligion müsste es sich mit Buddhismus und Hinduismus teilen;

– und als prophetisch-personalistisch-ethische Religion wäre es nicht von Judentum und Islam abzuheben.

23 KGA V, 195.

Als die universale prophetische Erlösungsreligion stellt das Christentum hingegen das Sammelbecken der höchsten religiösen Werte dar. Erst die personale Gottesbeziehung zeichnet die wahre Erlösungsreligion aus und erst eine von aller religiösen Anstrengungen des Menschen freie Erlö-sungsvorstellung die wahre prophetische Religion.

Ich fasse Troeltschs wertenden Religionsvergleich in einem Schema zusammen:

Diesen Religionsvergleich wertet Troeltsch nicht nur in statisch-axio-logischer, sondern auch in religionsgeschichtlich-entwicklungslogischer Hinsicht aus. Denn darin liegt das eigentliche Ziel seines Argumen-tationsganges, der die Absolutheit des Christentums im Kontext der Reli-gionsgeschichte zu rekonstruieren unternimmt: Er will das Christentum nicht nur als die bisher höchste Verwirklichungsstufe religiöser Wert-entwicklungen ausweisen, sondern auch als Konvergenzpunkt aller reli-giösen Entwicklungsrichtungen.24

24 KGA V, 197. Vgl. Ernst Troeltsch: Christentum und Religionsgeschichte (1897) (GS II), 328–363, bes. 349ff.

Partikulare Naturreligionen Universalreligionen

Gesetzesreligionen

Erlösungsreligionen Selbsterlösung

Fremderlösung

Judentum/Islam

Buddhismus/Hinduismus Christentum

Bei aller Kritik, die Troeltsch an der von ihm so genannten evolutio-nistischen Apologetik übt, kommt er im Resultat doch dem Stufenschema Hegels nahe. Der entscheidende Differenzpunkt zu Hegel besteht in sei-ner Ablehnung der Vorstellung, die Religionsgeschichte sei als dialektische Verwirklichung eines Allgemeinbegriffs zu deuten. Stattdessen geht er in der ersten Auflage der Absolutheitsschrift – seinem Gottesbild entspre-chend – von Gedanken einer stufenweise-aufsteigenden revelatio continua in der Geschichte aus.25 Als Geistesgeschichte verläuft der historische Pro-zess wohl nicht nach einer dialektischen Notwendigkeit, aber doch auf ein Ziel zu, ist also teleologisch zu betrachten. Die als Offenbarungen aufzu-fassenden «großen Werte und Inhalte des geistigen Lebens»26 lassen sich auf dieses Ziel beziehen und von ihm her bemessen. Dabei sind sie nach der «Einfachheit, Kraft und Tiefe» zu beurteilen, mit der sie «ein höheres, überweltliches Leben in Gott eröffnen»27, nach der Intensität der von ihnen konstituierten Gottesbeziehung also. Im Christentum – so das Resultat der Wertung – sei die «höchste und zugleich allen übrigen Religionen prinzipiell überlegene Gestalt der Religion»28 in der bisherigen Geschichte verwirklicht, heißt es in der zehnten These von 1901.

In der zweiten Auflage der Absolutheitsschrift lässt sich eine Zurück-nahme der materialdogmatischen Begriffe beobachten. Das betrifft etwa die Gotteslehre: Während Troeltsch in der ersten Auflage Gott noch als Subjekt der Geschichtsherrschaft dargestellt hatte, spricht er in der zwei-ten Auflage von der Geschichte der Gottesidee(n). Es betrifft auch das geisttheologische Offenbarungskonzept. Vom Christentum wird nicht mehr als der prinzipiell überlegenen Gestalt der Religion gesprochen (wie es auch von Harnack getan hat), sondern nur noch als der tatsächlich bisher verwirklichten Höchstform. Wenn auch nicht durchgehend sprachlich, so ist damit doch sachlich der Komparativ an die Stelle des Superlativs getre-ten – im Sinn einer faktischen Höher- statt einer prinzipiellen Höchst-wertigkeit des Christentums. Damit ist die konsequente Anwendung der historischen Methode auf die Absolutheitsfrage vollzogen. Die Behaup-tung eines qualitativen Unterschieds zu den nichtchristlichen Religionen ist ersetzt durch die Darstellung der Besonderheit der Zentralinhalte des

25 KGA V, 55 (9. These).

26 KGA V, 175.

27 Ebd.

28 KGA V, 55 (10. These).

Christentums in gradueller Differenz von den Religionen.29 Darin spiegelt sich die Überzeugung von der Ablösbarkeit der «Sache» des Christentums von seiner kirchlich-historischen Form und dem darauf bezogenen Geltungsanspruch.