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Die inhaltliche Beziehungsbestimmung des Christentums zu den Religionen

4. Paul Tillich

4.4. Die inhaltliche Beziehungsbestimmung des Christentums zu den Religionen

Wie gesehen laufen nicht erst die inhaltlichen Bestimmungen des christ-lichen Glaubens, sondern schon die Religionstypologien bei Schleier-macher und bei Tillich auf die Annahme einer Höherwertigkeit zumindest des Typus, dem das Christentums angehört, hinaus. Bei Schleiermacher gab das vermeintlich wertfreie Schema der Religionsstufen und -arten ein Wertgefälle zur teleologischen Art des Monotheismus zu erkennen, bei der das Subjekt durch Erlösung zur Autonomie in Verantwortung vor Gott befähigt wird. Tillich schätzte diejenige Religionsform am höchsten ein, in der das prophetische Element am deutlichsten ausgeprägt und gegen das sakramentale austariert ist. Dass sich daraus aber nicht (jeden-falls nicht ungebrochen) ein «Absolutheitsanspruch» für die christliche Religion ableiten lässt, wird deutlich, wenn wir nun die inhaltliche Beziehungsbestimmung zwischen dem christlichen Glauben bzw. dem Christentum und den anderen Religionen in den Blick nehmen.

Dieser Beziehungsbestimmung liegt die Polarität zweier Postulate zu-grunde: zum einen der Letztgültigkeitsanspruch für die Christusoffen-barung und zum anderen die Grundüberzeugung von der Universalität der Offenbarung des Seinsgrundes (bzw. des Geistwirkens). Diese beiden Postulate sollen in 4.4.1. und 4.4.2. entfaltet werden.

Beide Postulate finden sich in allen Teilen der ST. Doch die Gewich-tung verschiebt sich von der in ST II entfalteten Christologie zu der in ST III ausgearbeiteten Pneumatologie. In den zu Beginn der 1950er Jahre niedergeschriebenen logoschristologischen Aussagen wird der Letztgültig-keitsanspruch für die Christusoffenbarung stärker betont als in den geist-christologischen Überlegungen der 1963 erschienenen ST III. Dort hebt Tillich die Gegenwart des Geistes in der Kultur und in den Religionen stärker hervor. Es handelt sich dabei um eine Akzentverschiebung, nicht aber eine grundlegende Modifikation der religionstheologischen Posi-tion.55 Wenn auch hier die Universalität des Geistwirkens stärker betont

55 Entgegen der Auffassung Siedlers kann ich keinen Widerspruch zwischen der in ST II entfalteten Logoschristologie und dem pneumatologischen Univer-salismus in ST III erkennen. Es sind dies zwei Seiten des religionstheologischen Inklusivismus, der sich durch Tillichs gesamtes Werk zieht (siehe unten). So kann ich Siedlers These nicht folgen, dass «Tillich sich bis zuletzt zwischen einem

chris-wird, so bleibt es doch bei der Forderung, dass «die Manifestationen des göttlichen Geistes […] an dieser zentralen Manifestation [d. h. an Chris-tus] gemessen werden»56 müssen. Das heißt: Sie sind daraufhin zu befra-gen, ob sich Glaube und Liebe, wie sie in Christus maßgeblich verkörpert sind, in ihnen finden. Dazu sind ihre Erscheinungen auf den Geist hin zu durchschauen, der in ihnen seine Früchte trägt. Doch selbst wenn diese Prüfung positiv ausfällt und die «Früchte» als Manifestationen des Gott-geistes und der Geistgemeinschaft anerkannt werden können, bleiben diese gegenüber dem vollkommenen Modus der Geistgegenwart, wie sie im christlichen Glauben zu Bewusstsein kommen kann, defizitär. Erst die

«Gegenwart des göttlichen Geistes im Christus als der Mitte der Ge-schichte macht ein volles Verständnis der Manifestationen des göttlichen Geistes in der Geschichte möglich»57. Auch die Pneumatologie bleibt auf das Christusereignis ausgerichtet und dem damit verbundenen Letztgül-tigkeitsanspruch verhaftet.

4.4.1. Die Letztgültigkeit der Christusoffenbarung

In Jesus, dem Christus, ist die unverzerrte Gegenwart des göttlichen Geistes manifestiert.58 Sein Christus-Sein bestand nach Tillich darin, dass Gott sich personbildend in seinem Geist vergegenwärtigte (nach der klassischen Enhypostasielehre). Jesus war vom Geist Gottes so vollkommen ergriffen, dass in ihm die Gott-Mensch-Einheit ungebrochen zur Verwirklichung kommen konnte. Hier und nur hier kam der allgegenwärtige Gott-Geist, der «in der Gesamtgeschichte der Offenbarung und Erlösung wirksam ist»59, zu seiner vollkommenen, aller Zweideutigkeit enthobenen Manifes-tation unter den Bedingungen der Existenz. Nicht in der Geisterfülltheit tologisch begründeten Inklusivismus und einem pneumatologischen Ansatz nicht entscheiden […] konnte» (Dirk Chr. Siedler, Paul Tillichs Beiträge zu einer Theo-logie der Religionen [siehe Anm. 7], 260).

56 ST III, 174.

57 ST III, 174. Vgl. dazu: Peter Haigis, Gert Hummel, Doris Lax (Hg.): Christus Jesus – Mitte der Geschichte!? / Christ Jesus – The Center of History!?: Beiträge des X. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/M. 2004 / Papers of the X. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt/M. 2004 (Tillich-Stu-die 13), Berlin, Münster 2006.

58 ST III, 171.

59 ST III, 174.

als solcher, sondern in der ununterbrochenen Einheit, in der er in seinem Geist zu Gott stand, liegt also das Einzigartige dieses Geistgesalbten. Das erhebt die Manifestation des Neuen Seins in Jesus, dem Christus, zum ent-scheidenden und letztgültigen Kriterium der Geisterfahrungen im Leben des Einzelnen und in der Geschichte der Religionen. Die Tatsache, dass auch er – als Christus – diese ungebrochene Geisterfülltheit nur fragmen-tarisch realisieren konnte60, beschneidet diese Qualität nicht.

In vergleichbarer Weise hatte Schleiermacher in der «Glaubenslehre»

betont, dass Jesus Christus aller Erlösungsbedürftigkeit enthoben sei.61 Als Träger und Mittler vollkommener Gott-Mensch-Einheit hat er die Erlösung – die Aufhebung der Hemmung des Gottesbewusstseins – einmalig und einzigartig in der Geschichte verwirklicht und der Mensch-heit die glaubende Partizipation daran ermöglicht.

Kreuzestheologische Wendung

Über Schleiermacher hinausgehend gibt nun Tillich der logos- bzw. inkar-nationstheologischen und pneumatologischen bzw. inspirationstheologi-schen Begründung der Einzigartigkeit Jesu Christi eine kreuzestheologi-sche Wendung. Diese ist religionstheologisch von höchster Bedeutung.

Entscheidend für die Normativität der Gegenwart des Gott-Geistes in Jesus Christus ist nicht das bloße dass der Manifestation des Neuen Seins bzw. der ungebrochenen Geistgegenwart Gottes, sondern deren spezifi-sche Ereignungsweise.

In ST II stellt Tillich drei Aspekte dieser Manifestation zusammen: die Worte, das Handeln und das Leiden Jesu (worin man einen Anklang an die klassische Drei-Ämter-Lehre sehen kann).62 Die Manifestation im Lei-den besteht in der Selbstentäußerung Jesu an Lei-den Christus. «Nur dadurch konnte Jesus der Christus werden, dass er Leiden und Tod auf sich nahm, denn nur auf diese Weise konnte er vollkommen an der Existenz teilhaben und alle Kräfte der Entfremdung, die ihn von Gott loslösen wollten, be-siegen.»63 Er opferte sich als Mensch für das Neue Sein, gab sein Leben hin, um für das Unbedingte transparent zu werden. Diese Selbstpreisgabe ist für Tillich das entscheidende Kennzeichen der (ununterbrochen)

ma-60 ST III, 173.

61 CG2, § 11.4 (I/99f).

62 ST II, 132–137.

63 ST II, 134.

nifesten Gegenwart des Gottgeistes und damit das zentrale Unterschei-dungsmerkmal der latenten von der manifesten Geistgemeinschaft (s. u.).

Die vollkommene Offenbarung besteht gerade darin, dass sich der Offenbarer selbst entäußert, dass er – dem Philipperhymnus zufolge – seine Hoheitstitel ablegt und Knechtsgestalt annimmt, bis hin zum Tod am Kreuz. «Das Unbedingt-Verborgene kann nur dadurch zum Unbe-dingt-Offenbaren werden, dass es allen O[ffenbarung]sbesitz als Besitz wieder und wieder erschüttert und umwendet.»64 Das Christusereignis weist in unvergleichlicher Intensität auf das göttliche Geheimnis hin, relativiert sich dabei aber selbst. Aus der Christusoffenbarung ergibt sich für Christen und christliche Gemeinschaften gerade nicht ein besonderer Würdetitel, den sie als Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen Reli-gionsgemeinschaften ins Feld führen könnten, sondern der Impuls, «sich im Sinne des Kreuzes Christi selbst radikal zu verneinen und radikal zu verwandeln»65. Das Bekenntnis zu Christus geht mit einer religions-kritischen Relativierung der eigenen Religion einher und steht einem christlichen Triumphalismus frontal entgegen.

Kein Absolutheitsanspruch für das Christentum

In diesem Rückbezug auf die Kreuzestheologie ist der Grund für Tillichs Zurückweisung jeglichen Exklusiv- oder Superioritätsanspruchs für die christliche Religion gelegt. Der Anspruch auf Letztgültigkeit ist auf die Christusoffenbarung bezogen. Es ist ein kenotischer Anspruch auf Voll-kommenheit und qualitative Unüberbietbarkeit dieser Offenbarung als der ungebrochenen Gott-Mensch-Einheit, der uneingeschränkten Realisie-rung des Neuen Sein, der unverzerrten Gegenwart des göttlichen Geistes, die der Offenbarungsträger jedoch nicht für seine eigene Erhöhung in Anspruch nimmt. Es ist nicht Tillich, der diesen Anspruch erhebt, son-dern (nach seinem Verständnis) die Christusoffenbarung selbst. Der Anspruch ist untrennbar mit dieser verbunden. Tillich konstatiert und erkennt ihn an.

Aus dem für die Christusoffenbarung erhobenen Letztgültigkeits-anspruch66 ergibt sich keinerlei Überlegenheits- und schon gar kein

64 Paul Tillich: Art. «Offenbarung: V. A. Religionsphilosophisch», in: RGG2 4, 667.

65 ST III, 182.

66 ST I, 159.

Herrschaftsanspruch für das Christentum als Religion gegenüber anderen Religionen. Besonders für eine protestantische Kirche wäre ein «Absolut-heitsanspruch in irgendeiner Richtung […] ein Widerspruch in sich»67. Denn die Vollkommenheit einer Offenbarung erweist sich gerade daran, dass der von ihr ausgehende Heilsweg «die Erschütterung jedes Heilsweges enthält», wie Tillich schon in seiner Dogmatikvorlesung 1925–

1927 geschrieben hat.68 Mehr noch: Die vollkommene Offenbarung erschüttert nicht nur jeden Heilsweg, sie verneint ihn – auch den christ-lichen.69 Die Rede von der «Absolutheit des Christentums» verweist daher nicht auf den christlichen Heilsweg, sondern auf dessen Grund, der diesem wie jedem Heilsweg kritisch gegenübersteht. Der für die Christus-offenbarung erhobene Letztgültigkeitsanspruch stellt einen Anspruch an das Christentum, wie an jede Religion, dar. Das (protestantische) Christen-tum ist aber in besonderer Weise davon betroffen. Denn es ist das

«protestantische» Prinzip der prophetischen Kritik, das jeder Selbst-verabsolutierung der christlichen Religion radikal ins Wort fällt.

Der für Christus erhobene Letztgültigkeitsanspruch führt also nicht zur Behauptung eines Überlegenheitsanspruchs für die christliche Reli-gion, sondern gerade umgekehrt zu deren religionskritischen Relativie-rung. Das Motiv der kenosis lässt religiöse Superioritätsansprüche nicht zu.70

Und doch ist hier zu fragen, ob Tillich diese Gegenüberstellung von letztgültiger Christusoffenbarung und dadurch bedingtem Anspruchsver-zicht der christlichen Religion durchgehalten hat, und mehr noch: ob sie sich durchhalten lässt, oder ob nicht doch notwendigerweise dem Chris-tentum als in der Christusoffenbarung begründeter Religion eine Vorrang-stellung gegenüber anderen Religionen zuerkannt werden muss; so wie Barth es – übrigens auch im Abschnitt zur Pneumatologie in den Prolego-mena zur «Kirchlichen Dogmatik» – getan hat, als er in § 17 der KD vom

67 Paul Tillich: Kirche und Kultur, in: Main Works II, hg. von Michael Palmer, Berlin 1990, 111.