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2. Ernst Troeltsch

2.2. Kritische (Selbst-)Reflexion

Troeltsch hat seinen Versuch, das Wertverhältnis des Christentums zu anderen Religionen auf der Grundlage einer Betrachtung der Religions-geschichte zu bestimmen, stets mit selbstkritischem Problembewusstsein begleitet. Dabei betonte er zunehmend zum einen den «subjektiven Faktor» und zum anderen die Kulturrelativität aller Versuche, religiöse Erscheinungen wertend zueinander in Beziehung zu setzen. Beides findet sich schon in der zweiten Auflage der Absolutheitsschrift von 1912. Die Hervorhebung der kulturellen Relativität aller Wertmaßstäbe tritt dann im Spätwerk immer deutlicher hervor.

(a) Der «subjektive Faktor», d. h. der Umstand, dass der Wertvergleich von Wertsetzungen des vergleichenden Subjekts abhängt, wird von Troeltsch schon in der Absolutheitsschrift ausdrücklich in seine Über-legungen einbezogen.30 Er gesteht zu, dass die Maßstäbe, die im wer-tenden Vergleich zur Anwendung kommen, in der «axiomatischen Tat»31 des Subjekts wurzeln, das die Wertentscheidung trifft, in diesem Fall also in der «axiomatischen Tat» Ernst Troeltschs. So führt er diese Maßstäbe denn auch nicht vorgängig ein; er klärt und begründet sie nicht. Vielmehr wendet er sie unmittelbar an. Sie erschließen sich dem Lesenden erst per Rückschluss aus dem Mitvollzug des Vergleichs.

Die Gewissheit der Einzigartigkeit des Christentums lässt sich nach Troeltsch also weder durch eine dogmatische Setzung noch durch ein

Ver-29 Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen, 1991, 280, Anm. 98.

30 «Ein solcher Maßstab ist dann freilich Sache der persönlichen Überzeugung und dem letzten Grunde subjektiv» (KGA V, 177). – «In Mitleben der großen menschlichen Kämpfe, in dem hypothetischen Nachempfinden der verschiede-nen kämpfenden Gestaltungen muss er [der Maßstab] praktisch und persönlich immer neu gewonnen und erlebt werden» (KGA V, 175f).

31 KGA V, 104, 163, Anm.; 55 (8. These); Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften (GS II), 760f, 428ff, 509.

fahren der vergleichenden Wertermittlung aus der Religionsgeschichte begründen. Sie ist und bleibt immer Sache des Glaubens. Dieser Glaube und seine theologische Reflexion mag das glaubensbegründende Ereignis auf einen Akt göttlicher Setzung zurückführen (wie Schleiermacher es getan hat), doch bleibt auch diese Begründungsfigur Teil des Selbst-verständnisses der Glaubensgemeinschaft, das wiederum Teil der all-gemeinen Religionsgeschichte ist.

Die Kritik an dieser Form der religionsgeschichtlichen Apologetik braucht also nicht von außen an Troeltschs Ansatz herangetragen zu werden. Er selbst war sich der zirkulären Struktur seiner Evaluation durchaus bewusst: Das Resultat des wertenden Vergleichs hängt von der vorausgesetzten Wertsetzung des wertenden Subjekts ab. Troeltsch be-harrte allerdings darauf, dass es sich dabei nicht um eine willkürliche Präferenz handelt. Das Willkürmoment soll durch eine sorgfältige Um-schau, parteilose Anempfindung und gewissenhafte Abwägung zurück-gedrängt werden.

(b) Schon in der Absolutheitsschrift finden sich Anmerkungen, die zu erkennen geben, dass der wertende Religionsvergleich an das Wertfunda-ment des eigenen kulturellen Kontexts gebunden ist. Wenn Troeltsch als Ergebnis seines Begründungsganges etwa formulierte: «Die […] persona-listische Erlösungsreligion des Christentums ist die höchste und folge-richtigst entfaltete Lebenswelt, die wir kennen»32, dann bringt der Zusatz

«die wir kennen»33 die Bindung des wertenden Bewusstseins an seinen historischen Ort und damit die Begrenztheit des Gesichtskreises zum Ausdruck.

Troeltsch ist sich darüber im Klaren, dass die konstatierte Höherwer-tigkeit letztlich nicht über ein «für mich» bzw. «für uns» zu einem «an sich»

gelangen kann. Sie lässt sich nicht standortunabhängig und allgemeingültig feststellen. Das hat seinen Grund nicht nur in der Kulturgebundenheit des urteilenden Subjekts, sondern in der Kulturgebundenheit des Christen-tums selbst. Höchstgeltung kann der christlichen Religion demzufolge nur in dem von ihr beherrschten Kulturraum und nur bis in die gegenwärtige

32 KGA V, 199.

33 Vgl. auch: Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums (siehe Anm. 1), 210: «soweit unser historischer Gesichtskreis reicht»; a. a. O., 191: «uns geltenden» – der Satz, der diese Klausel enthält, ist von Troeltsch in der zweiten Auflage eingefügt worden (GS II), 509: «für unseren Kultur- und Lebenskreis».

Zeit zuerkannt werden. Dieses Bewusstsein tritt dann besonders in seinem Spätwerk «Der Historismus und seine Überwindung» deutlich hervor. Der Versuch, die historisch-relative Höchst- oder wenigstens Höhergeltung des Christentums zu erweisen, wird aufgegeben.

In seinem 1922 ausgearbeiteten Vortrag «Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen»34 betont Troeltsch die individuelle, unvergleich-liche Eigentümlichkeit und Einmaligkeit der Religionen, die an ihren jeweiligen Kulturkreis gebunden sind. Er baut den bei Schleiermacher an-gelegten Individualitätsgedanken nun so weit aus und drängt den im Reli-gionsbegriff postulierten Gemeinsamkeitsgrund der Religionen so weit zurück, dass die Religionen als Hervorbringungen der Kulturgeschichte je für sich nebeneinanderstehen und ein wissenschaftlicher Vergleich nicht mehr möglich ist. Mit dem Allgemeinbegriff der Religion ist somit auch die postulierte Gemeinsamkeit der Religionen und damit ihre Vergleich-barkeit in den Hintergrund getreten. Die Höchstgeltung des Christentums lässt sich aus der Religionsgeschichte nicht erweisen: «[…] soweit menschliches Auge in die Zukunft dringen kann, werden die großen Offenbarungen der verschiedenen Kulturkreise trotz einiger Verschie-bungen an den Rändern geschieden bleiben, und die Verschiedenheiten ihres Wertes werden sich niemals objektiv feststellen lassen, da die Vor-aussetzungen jeder Argumentation schon mit bestimmten Eigentüm-lichkeiten des jeweiligen Kulturkreises zusammenhängen.»35 Die schon in der zweiten Auflage der Absolutheitsschrift herausgestellte historische Kontextgebundenheit geistiger und damit auch religiöser Inhalte, Hervor-bringungen und Ansprüche findet sich hier konsequent angewendet.

Und auch die zweite, religionsgeschichtlich-entwicklungsdynamische Argumentationslinie, die das Christentum als Konvergenzpunkt der Reli-gionsgeschichte auszuweisen suchte, wird dahingehend korrigiert, dass der Zusammenschluss der Entwicklungsrichtungen nicht in einer historischen Religion – einschließlich des Christentums – liege, sondern jenseits aller Historie im Absoluten selbst.36

34 Ernst Troeltsch: Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen (KGA XVII), 105–118.

35 A. a. O., 118.

36 A. a. O., 117.

Selbst die Kategorie der Persönlichkeit, die in der Absolutheitsschrift von 1902 und vor allem in der zweiten Auflage von 191237 noch eine zent-rale kriteriologische Rolle gespielt hatte, wird von Troeltsch jetzt nur noch als zeit- und kulturgebundene Bestimmung verstanden und auf den Gel-tungsbereich der modernen europäischen Geistesgeschichte mit der für sie charakteristischen Anthropozentrik beschränkt.38

Den Überlegungen Troeltschs zum «Absolutheitsanspruch» des Chris-tentums und seiner zunehmenden Betonung der Kontextualität der christ-lichen Religion entspricht auch sein Missionsverständnis. Missionarische Anstrengungen sollten nur dort unternommen werden, wo die europäi-sche Zivilisation die angestammten Kulturen und Religionen bereits affi-ziert und transformiert habe. Als Beispiel nennt er China und Japan.

Gegenüber Religion wie dem Islam, dem Judentum oder dem Hinduis-mus, die in sich gefestigt sind und sich westlichen Einflüssen bisher kaum geöffnet haben, sollte sich die christliche Mission dagegen zurückhalten.

«Wenn wir das Christentum auch als den Höhepunkt dieser Entwicklung betrachten, so ist dabei doch auch die außerchristliche Religion wahres und tiefes religiöses Leben von oft recht großartigen Früchten des inneren Lebens.»39 Im Islam sieht Troeltsch allerdings eine zunehmende Neigung, sich an die abendländische Kultur anzupassen und sich für Entwicklungen der Moderne zu öffnen.