• Keine Ergebnisse gefunden

Die materiale apologetische Wesensbestimmung des Christentums Christentums

Der erste Argumentationsgang, den Schleiermacher in der «Glaubens-lehre» entfaltet, zielte darauf, die Vorrangstellung des Religionstyps zu erweisen, dem das Christentum angehört. Der zweite Argumentations-gang, dem wir uns nun zuwenden, richtet sich auf die Zentralidee des Christentums aus. Sie besteht im Gründungsereignis dieser Religion und in dem zentralen Thema des davon ausgehenden spezifisch christlichen Gottesbewusstseins: in der in Jesus Christus vollbrachten Erlösung. Auf diese Weise nimmt Schleiermacher eine inhaltliche Wesensbestimmung des Christentums vor. Während es in der religionsphilosophischen Typisierung um die Art und Weise ging, in der sich das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl im Gegenüber zum sinnlichen Selbstbewusstsein in den Bewusstseinsformationen der Religionen realisiert, geht es hier um die konkrete, durch den Stifter dieser Religion generierte und damit «positive»

44 Klaus Eberhard Welker: Die grundsätzliche Beurteilung der Religions-geschichte durch Schleiermacher; Leiden, Köln 1965, 132.

materiale Besonderheit des Gottesbewusstseins in der christlichen Reli-gion.

Schleiermachers methodischer Vorüberlegung zufolge besteht das We-sen einer historischen Religion im «individuelle[n] Gehalt der gesamten frommen Lebensmomente innerhalb einer religiösen Gemeinschaft, so-fern derselbe abhängig ist von der Urtatsache, aus welcher die Gemein-schaft selbst als eine zusammenhängende geschichtliche Erscheinung her-vorgegangen ist»45. In dieser Hinsicht – im Blick auf die je eigene Individualität der Religionen – stehen diese (auch Christentum und Juden-tum) in einer radikalen Diskontinuität zueinander.

Schon in der Religionstheorie, die Schleiermacher in der zweiten Rede entfaltet hatte, betonte er, dass die von der Aktivität des Universums affi-zierten religiösen Anschauungen selbstständig und unabhängig voneinan-der sind.46 Sie lassen sich systematisch nicht voneinander ableiten, auch dort nicht, wo historisch-genetische Beziehungen bestehen wie zwischen Judentum, Christentum und Islam.47 Solche Beziehungen begründen da-her keine Wesensverwandtschaft. Die Religionen sind grundsätzlich, prinzi-piell, in ihren ideellen Ursprüngen verschieden voneinander, denn diese Ursprünge sind historisch kontingent je für sich gesetzt. Lediglich in einer formalen Religionstypologie lassen sich die Religionen zusammenordnen.

Das verweist aber nicht auf eine inhaltliche Verbindung zwischen ihnen.

Daher muss das materiale Wesen einer jeden Religion je für sich bestimmt werden. Während die formale Bestimmtheit religionsverglei-chend aus der jeweiligen Spezifikation des Typus, dem eine Religion angehört48, zu erheben ist (im Falle des Christentum also, wie gesehen, aus der Spezifikation der telelogischen Richtung der monotheistischen Stufe), so bezieht sich die materiale Wesensbestimmung auf das die Religion begründende unvergleichbare Geschichtsereignis (im Falle des Christen-tums auf die Person und das erlösende Wirken Jesu Christi). Die inhalt-liche Besonderheit der christinhalt-lichen Religion liegt in dieser Hinsicht im Erlösungsbewusstsein, das alle frommen Erregungen in ihr prägt.

45 CG2, § 10, Zusatz (I/89).

46 R, 58, 60, 249 (KGA I/2, 214f, 215f, 299). Aus diesem Gedanken ergibt sich für Schleiermacher eine «freundliche, einladende Duldsamkeit» gegenüber anderen Formen der Frömmigkeit (R, 63 [KGA I/2, 216f]).

47 «[I]ch hasse in der Religion diese Art von historischen Beziehungen» (R, 287 [KGA I/2, 314f]).

48 CG2, § 10, Leitsatz (I/80f).

In der historischen Urtatsache besteht jedoch nur der äußere Grund ihrer Besonderheit, während der innere Grund in dem von ihr vermittelten Gottesbewusstsein liegt. Entscheidend ist nach Schleiermacher dabei die gegenseitige Bezogenheit von äußerem und innerem Grund: Das Pro-prium der christlichen Religion besteht in der Wesensverwirklichung, die in der Erlösung durch Jesus Christus grundgelegt ist und die das christliche Gottesbewusstsein durchgehend auf diesen Ton stimmt. «In der Person Jesu wird sich das christlich-fromme Selbstbewusstsein des eigenen Entstehungsgrundes ansichtig, indem der geschichtliche Anfangspunkt des Christentums in seinem individuellen Lebensvollzug zugleich der Be-gründer des Erlösungsbewusstseins als des inneren Merkmals des christli-chen Bewusstseins ist.»49 Im historischen Grundfaktum der Person Jesu Christi tritt die Erlösungsidee in die Geschichte ein, die zur Zentral-anschauung der christlichen Religion wird.

Auch hier – bei der inhaltlichen Wesensbestimmung des spezifisch Christlichen – will Schleiermacher keinen Beweis für die Wahrheit und Notwendigkeit des Christentums bzw. des christlichen Glaubens führen.

Anders als bei der religionsphilosophischen Wesensbestimmung, für die er eine temporäre Dispensierung von der christlichen Frömmigkeit gefor-dert hatte50, geht er hier davon aus, «dass jeder Christ, ehe er sich irgend mit Untersuchungen dieser Art einlässt, schon die Gewissheit in sich selbst habe, dass seine Frömmigkeit keine andere Gestalt annehmen können als diese».51 Diese normative Gewissheit liegt der Beziehungsbestimmung voraus, die er zwischen dem Judentum, dem Christentum und dem Islam vornimmt und deren Resultat damit vorhersehbar ist.

Judentum und Islam als Gesetzesreligionen?

Den entscheidenden Unterschied, den Schleiermacher zwischen der Prä-gung des christlichen Gottesbewusstseins und dem der anderen monothe-istischen Religionsgemeinschaften (also Judentum und Islam) markiert, besteht darin, dass deren Hauptgeschäft «das Stiften der Gemeinschaft auf bestimmte Lehre und unter bestimmter Form»52 sei. Zugespitzt formuliert

49 Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums.

Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion (Beiträge zur historischen Theologie 96), Tübingen 1996, 66.

50 Siehe oben, S. 22.

51 CG2, § 11.5 (I/102).

52 CG2, § 11.4 (I/99).

lautet der Vorwurf an die Adresse dieser Religionsgemeinschaften also, sie betrieben Dogmatismus und Ritualismus. Lehre und Praxisform – darin könnte ein Anklang an «Metaphysik und Moral» liegen, denen Schleierma-cher in der zweiten Rede «Anschauung und Gefühl» (in «schneidendem Gegensatz»53) gegenübergestellt hatte. Dort fragte er fast höhnend: «Die-ses Gemisch von Meinungen über das höchste Wesen oder die Welt und von Geboten für ein menschliches Leben […], nennt ihr Religion?»54 In beiden Fällen, im metaphysisch-lehrhaften wie im moralisch-praktischen Missverständnis der Religion herrscht «Systemsucht»55, die sich aktiv – im einen Fall erkennend, im anderen Fall handelnd – des Unendlichen im Endlichen zu bemächtigen versucht. Wenn man diese Systemsucht als eine Form von Gesetzlichkeit deutet und diese wiederum auf die reformatori-sche Unterreformatori-scheidung von Gesetz und Evangelium zurückbezieht, dann erscheinen die anderen beiden Religionsformen, die Schleiermacher in der

«Glaubenslehre» der monotheistischen Stufe zuordnet, als Gesetzesreligi-onen – genauso, wie Luther Judentum und Islam gedeutet hatte.

Diese Interpretation wird zum einen dadurch bestätigt, dass Schleier-macher auch an vielen anderen Stellen in seinen Schriften Jesu Beziehung zum Judentum als Überwindung des Gesetzesprinzips bestimmt und dass er die Unterwerfung unter den unbedingten Willen Gottes als Leitmotiv des Islam diagnostiziert. Zum anderen kann diese Deutung auf § 11 der CG2 verweisen. Dort, wo das Wesen des Christentums als Erlösungsreli-gion bestimmt wird, tritt der Gattungsunterschied zwischen dem Ästheti-schen und dem TeleologiÄstheti-schen gänzlich zurück. Das Christentum wird den anderen monotheistischen Religionsgemeinschaften insgesamt gegen-übergestellt, obwohl das Judentum ja mit ihm zusammen der teleologi-schen Frömmigkeitsart zugewiesen worden war. Nicht Lehren und religi-öse Praxisformen konstituieren und konfigurieren nach Schleiermacher die christliche Gemeinschaft, sondern der erlösende Totaleindruck des Stifters, in dem sich die Stetigkeit und Kräftigkeit seines Gottesbewusst-seins mitteilt. Damit ist dieser mehr als ein bloßer Lehrer und Ordner der Gemeinschaft.

53 R, 50 (KGA I/2, 211).

54 R, 44 (KGA I/2, 208f).

55 R, 64 (KGA I/2, 217). Vgl. dazu auch Schleiermachers Erläuterung zu dieser Stelle aus der Ausgabe von 1821, abgedruckt in der von Niklaus Peter u. a.

hg. Studienausgabe (siehe Anm. 1), 120, Nr. 9.

Auch andere Religionen setzen Impulse frei, die Hemmungen des Gottesbewusstseins aufheben. Doch handelt es sich dabei um vereinzelte Elemente, die nicht die gesamte Gestimmtheit des Gottesbewusstseins prägen. Es ist nicht zuletzt die glaubende Annahme der geschenkten Erlösung durch Einwirkung von außen im Gegenüber zur selbst zu leistenden Observanz von kultischen Buß- und Reinigungsvorschriften – und damit die religionstheologische Anwendung der von der reforma-torischen Rechtfertigungslehre ausgewiesenen Grunddifferenz zwischen Evangelium und Gesetz –, die den entscheidenden Unterschied zu den anderen monotheistischen Religionen und besonders zum Judentum als monotheistischer Religion der teleologischen Art ausmacht: Als geistlose Gesetzesreligionen stehen sie dem Christentum als erlösender Gnaden-religion gegenüber. Dabei führt die heterosoterische Erlösung im Chris-tentum nicht in einen Quietismus, sondern zur Tätigkeit in dem durch die Erlösung Christi gestifteten Gottesreich. Würde man den Unterschied zwischen den monotheistischen Religionen demgegenüber auf der Ebene der Lehre und Lebensordnung lokalisieren, so wäre er als bloß quan-titativer zu bestimmen, der durch die Weiterentwicklung des Judentums und des Islams aufgehoben werden könnte.

Religionstheologisch relevante Verschiebungen in der Christologie

Während Schleiermacher in der fünften Rede noch unterschieden hatte zwischen dem Prinzip (bzw. der Idee, bzw. dem Wesen) des Christentums und Jesus Christus als der Gründerpersönlichkeit, die diese Idee geschicht-lich vermittelt, hob er diese Differenz in der «Glaubenslehre» nahezu voll-ständig auf. Während er damals noch eine exklusive Besetzung des Mitt-leramtes durch Jesus Christus mit der bekannten Aussage zurückgewiesen hatte, Christus habe nie behauptet, «das einzige Objekt der Anwendung seiner Idee, der einzige Mittler zu sein […]»56, so stellte er nun die Einzig-artigkeit Jesu Christi deutlich heraus.

Auch zwischen den beiden Auflagen der «Glaubenslehre» lässt sich diese Akzentverschiebung noch einmal beobachten. Während Schleierma-cher im Leitsatz zu CG1, § 18 die Besonderheit der christlichen Religion darin erblickte, «dass alles einzelne in ihr auf das Bewusstsein der Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth» bezogen wird, heißt es im Leitsatz zu CG2, § 11, «dass alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum

56 R, 304 (KGA I/2, 322).

von Nazareth vollbrachte Erlösung». Während Jesus nach der ersten Fas-sung also das ErlöFas-sungsbewusstsein konstituiert, vollbringt er nach der zwei-ten Fassung die Erlösung als eine der Aneignung durch das Bewusstsein voraus liegende Wirklichkeit. Die Prädikation Jesu als Mittler wird durch die des Urhebers überboten.

Dem korreliert eine Akzentverschiebung in der Relationierung von äußerem und innerem Bestimmungsgrund des Wesens des Christentums.

In CG1 hatte Schleiermacher mehr Gewicht auf den inneren Wesensgrund gelegt. Das heißt, mehr als die historische Urheber-, Träger- und Mittler-schaft Jesu Christi, also seine Funktion, hatte er den Inhalt dessen, was ver-mittelt wird, betont: die Stetigkeit und Kräftigkeit des Gottesbewusstseins.

In CG2 hebt er demgegenüber deutlicher hervor, dass die Einheit zwi-schen dem äußeren und dem inneren Wesensgrund schon in der Person Jesu Christi selbst besteht. Alle frommen Momente des christlichen Got-tesbewusstseins sind damit nicht nur auf die Erlösung, sondern auch auf den Erlöser bezogen.

In ihrer Studie zur Entwicklung der Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der ersten zur zweiten Auflage der «Glaubenslehre»

arbeitet Maureen Junker heraus, wie sich die Bedeutung der Behauptung, dass das Sein Gottes Jesu innerstes Selbst ausmache57, verschiebt58: «In der ersten Auflage ist es nur das relative Maximum des Seins Gottes, das Jesus realisiert.» Jesu Gottesbewusstsein unterscheidet sich von unserem Gottesbewusstsein durch seine Reinheit, Stabilität und Stärke. «Aber auch in dieser absoluten Steigerung bleibt es ein Sonderfall des allgegenwärtigen Seins Gottes, also letztlich im Verhältnis des Besonderen zum Allgemei-nen. Die zweite Auflage kehrt das Gefälle um: Von einem Sein Gottes in einem Endlichen ist vor der Erscheinung Jesu gar nicht die Rede, sondern nur von der Allgegenwart Gottes überhaupt, die sich in der Welt als ganzer vollzieht.» Jesus ist der «einzig ursprüngliche Ort […] und allein der An-dere, in welchem es ein eigentliches Sein Gottes giebt»59.

Im Blick auf den äußeren Bestimmungsgrund des Wesens der christli-chen Religion besteht der Unterschied zwischristli-chen Judentum, Christentum

57 CG1, § 116.3 (II/29f); CG2, § 94 (II/52–58).

58 Maureen Junker: Das Urbild des Gottesbewußtseins. Zur Entwicklung der Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der ersten zur zweiten Auflage der Glaubenslehre (Schleiermacher-Archiv 8), Berlin, New York 1990, 181f. Die folgenden Zitate sind diesen beiden Seiten entnommen.

59 CG2, § 94.2 (II/56).

und Islam darin, dass Christus mit seiner erlösenden Kraft nicht nur allen Christen, sondern allen Menschen in kategorialer Verschiedenheit gegen-übersteht, wohingegen Mose und Mohammed von ihren jeweiligen Glau-bensgemeinschaften nicht wesenhaft unterschieden sind, sondern ledig-lich aus ihnen herausgerufen und mit einem besonderen Botschaftsauftrag versehen worden sind. Während die Stifter von Judentum und Islam prin-zipiell ersetzbar waren und die Botschaft, die sie zu übermitteln hatten, auch ihnen selbst galt, war Jesus Christus aller Erlösungsbedürftigkeit ent-hoben.60 So konnte er den Gegensatz zwischen dem für sich seienden sinnlichen und dem auf den Konstitutionsgrund des Seienden ausgerich-teten höheren Selbstbewusstsein und damit die Hemmung des Gottes-bewusstseins ein für alle Mal aufheben. Die von ihm begründete Frömmigkeitsform steht daher den anderen monotheistischen Religionen in qualitativer Unterschiedenheit gegenüber.

Ernst Troeltsch diagnostizierte das Fundament für diese Begründung der «Absolutheit des Christentums» in einer ausgeprägten Christozentrik, wenn er konstatiert, Schleiermacher habe «die absolute Religion in Wahr-heit auf einen Punkt beschränkt, auf die Person Jesu»61. Diese Aussage ist zutreffend, wenn damit nicht nur auf den äußeren Bestimmungsgrund des Wesens der christlichen Religion angespielt wird: auf die einmalige und unableitbare Stiftung des Erlösungsbewusstseins und seine Wirkungs-geschichte in der davon ausgehenden Tradition. Wie gezeigt, ist für Schlei-ermacher der innere Grund mindestens ebenso bedeutsam: die fortwäh-rende Bezogenheit aller religiösen Erregungen auf dieses Bewusstsein.

Es ist nicht zuletzt die Einheit des äußeren und des inneren Wesens-grundes, die dem Christentum seine Vollkommenheit verleiht.62 Und diese Einheit sieht Schleiermacher schon in der Person Jesu selbst gege-ben, dessen eigenes Gottesbewusstsein von diesem inneren Grund voll-kommen bestimmt war, doch in einer von allen anderen Menschen so grundlegend unterschiedenen Weise, dass er damit auch den äußeren Grund für das Erlösungsbewusstsein der ihm Nachfolgenden legen

60 CG2, § 11.4 (I/99f).

61 Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religions-geschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen (KGA V), Berlin, New York 1998, 152.

62 CG2, § 10.1 (I/81f).

konnte. Mit ihm kommt es zum Durchbruch einer urbildlichen Gottes-bestimmtheit in der Geschichte.

Offenbarung

Der christologischen Argumentation korreliert die offenbarungstheolo-gische. Auch die Beziehungsbestimmung von göttlicher Mitteilung in Christus und in der außerchristlichen Religionsgeschichte ist nach dem dialektischen Modell von grundlegender Kontinuität (im Blick auf die Transzendenzbeziehung) und radikaler Diskontinuität (im Blick auf die inhaltlichen Grundanschauungen der Religionen) gedeutet. Die Kontinu-ität gründet in der Allgemeinheit des religiösen (Abhängigkeits-)Bewusst-seins (das Schleiermacher als «ursprüngliche Offenbarung» bezeichnen kann63). Die Diskontinuität gründet in der Individualität von Erschließun-gen der göttlichen Wirklichkeit, die das Woher und Woraufhin dieses Bewusstseins darstellen. Diese Anschauungen lassen sich aber miteinan-der vergleichen und in ein Wertverhältnis zueinanmiteinan-der setzen, was aller-dings immer nur binnenperspektivisch, d. h. im Bezugsrahmen einer bestimmen Religion geschehen kann.64

Wo immer sich in der Religionsgeschichte eine unableitbare, heilswirk-same und gemeinschaftsbildende Innovation des höheren Selbstbewusst-seins ereignet, kann von einer Offenbarung gesprochen werden, die nach christlichem Gottesbewusstsein in einer göttlichen Mitteilung gründet.

Daher kann keine Glaubensweise nach Schleiermacher den Exklusiv-anspruch erheben, dass die sie begründende «göttliche Mitteilung reine und ganze Wahrheit sei, die anderen aber falsches enthalten»65. Diese Möglichkeit ist dadurch ausgeschlossen, dass Gott sich nicht in seinem An-sich-Sein kundgibt, sondern sich «in seinem Verhältnis zu uns»

aussagt, sich also dem Gottesbewusstsein akkommodiert, seine Mitteilung damit aber auch geschichtlich relativiert und pluralisiert. Nur indem sich die Offenbarung in die Empfänglichkeit des menschlichen Bewusstseins hinein vermittelt, kann sie von diesem aufgefasst werden. Nur so kann sich das Übernatürliche der Menschennatur erschließen.

63 CG2, § 4.4 (I/40).

64 Vgl. dazu: Hans-Joachim Birkner, Beobachtungen zu Schleiermachers Pro-gramm der Dogmatik, in: ders., Schleiermacher-Studien, Berlin, New York 1996, 108ff.

65 CG2, § 10, Zusatz (I/92).

Wo dieser weite und allgemeine Offenbarungsbegriff nun aber auf den geschichtlichen Durchbruch des Erlösungsbewusstseins in Jesus ange-wendet wird66, ist von Offenbarung in einem engeren und spezifischeren Sinn die Rede. Offenbarung meint nun die in Christus vollzogene prinzi-pielle, universale und unbedingte Aufhebung der Hemmung des Gottes-bewusstseins. Jesu Gottesbewusstsein ist ein «eigentliches Sein Gottes in ihm»67. Auf diese Weise postuliert nun Schleiermacher auch offenbarungs-theologisch eine qualitative Unterschiedenheit dieser von allen anderen Mitteilungen Gottes, der sich nun durchaus auch als Exklusivanspruch artikulieren kann, etwa dann, wenn es in CG2 heißt, die Teilhabe an der ungehemmten Hervorrufung des Gottesbewusstseins sei «nur durch ihn vermittelt»68, oder nur Christus sei dazu bestimmt, «allmählich das ganze menschliche Geschlecht höher zu beleben»69.

Der Grund für diese Exklusivbehauptung liegt in der unlösbaren Verbindung des Urbildlichen mit dem Geschichtlichen in Jesus – oder klassisch formuliert: im Gedanken der Menschwerdung Gottes als qualitativ einmaliger Inhistorisation. Das von Gott gesetzte Urbild des ungehemmten Gottesbewusstseins ist ganz den Bedingungen des Ge-schichtlichen unterworfen: «So musste er als geschichtliches Einzelwesen zugleich urbildlich sein, d. h. das urbildliche musste in ihm vollkommen geschichtlich werden, und jeder geschichtliche Moment desselben zu-gleich das urbildliche in sich tragen.»70 Darin bringt Schleiermacher die Intention der Zwei-Naturen-Lehre zur Geltung.

1.3. Das Resultat: qualitative Überlegenheit des Christentums Die Eigenart der Schleiermacherschen Beziehungsbestimmung zwischen dem christlichen Glauben bzw. dem Christentum und anderen Religionen liegt in der Kombination religionsphilosophisch-bewusstseinstheore-tischer, systematisch-theologischer, religionsphänomenologischer sowie religions- und christentumsgeschichtlicher Erwägungen. Die Bestimmung

66 CG2, § 13.1 (I/109).

67 CG2, § 94, Leitsatz (II/52).

68 CG2, § 22.2 (I/157).

69 CG2, § 13.1 (I/109). Vgl. auch das «allein» in § 93, Leitsatz (II/41).

70 CG2. § 93, Leitsatz (II/41).

des Wesens der Religion erfolgt aus der Analyse des religiösen Bewusst-seins, die Erhebung des spezifischen Wesens des Christentums aus dem Selbstzeugnis der christlichen Gemeinde. Beide Argumentationsgänge laufen darauf hinaus, nicht nur die Eigentümlichkeit des Christentums gegenüber anderen Religionen – besonders gegenüber dem Judentum und dem Islam – herauszuarbeiten, sondern auch dessen Höherwertigkeit zu erweisen.

Nicht nachzuvollziehen vermag ich daher das Urteil Falk Wagners:

«Aufgrund der gleichermaßen erfolgenden Sättigung des allgemeinen Begriffs der Religion durch jeweils eine bestimmte Zentralanschauung sind alle bestimmten Religionen gleichwertige Gestaltungen der Reli-gion.»71 Sie werden als Religionen anerkannt, aber nicht als gleichwertige Gestaltungen der Religion! Selbst in den «Reden» – auf die sich diese Aussage bezieht – ist das apologetische Interesse unübersehbar. In der fünften Rede legte Schleiermacher das Argumentationsziel dieser Schrift offen. Es bestand darin, das Christentum als die höhere Potenz der Religionen zu erweisen, in der die Religion selbst als Stoff für Religion verarbeitet wird72: «[n]irgends ist die Religion so vollkommen idealisiert als im Christentum»73. Und schon dort – wie dann in der «Glaubens-lehre» – war diese Vollkommenheit christologisch begründet: In Christus als dem Vermittler zwischen Gott und Mensch erfüllt sich das Wesen der Religion, das eben in dieser Vermittlung besteht. Schleiermachers Absicht bestand darin, seine von der frühromantischen Geisteswelt geprägten Leser «zu dem Gott, der Fleisch geworden ist, hin[zu]führen»74. In einem Brief an Henriette Herz schrieb er, er habe mit der fünften Rede einen

«Dithyramb auf Christum» verfasst.75

71 Falk Wagner: Was ist Religion? (siehe Anm. 27), 70.

72 «Dieses, dass das Christentum in seiner eigentlichsten Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte an-schaut, dass es die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet und so gleichsam eine höhere Potenz derselben ist, das macht das Unterscheidendste sei-nes Charakters, das bestimmt seine ganze Form» (R, 293f [KGA I/2, 317f]).

73 R, 295 (KGA I/2, 318).

74 A. a. O., 237 (KGA I/2, 294).

75 Friedrich Schleiermacher: Briefwechsel 1799–1800 (Briefe 553–849), hg.

von Andreas Arndt, Wolfgang Virmond, Berlin, New York (KGA V/3), 74, Nr. 616, Z. 26f.

Noch deutlicher trat das apologetische Interesse in der «Glaubens-lehre» hervor. Zu Recht konstatierte Karl Barth, «daß sie vielleicht zu tiefst auch mehr eine Apologetik ist»76. Hier tritt deutlich zutage, dass die Zent-ralanschauungen der Religionen und damit diese selbst nicht gleichwertig nebeneinanderstehen, sondern den Begriff der Religion mehr oder weni-ger gut erfüllen. Das Erlösungsbewusstsein, das in Jesus Christus realisiert ist, ist den Zentralanschauungen anderer Religionen, vor allem jenen, die auf Gesetzesobservanz ausgerichtet sind, überlegen.

Die qualitative Überlegenheit des christlichen Glaubens über andere

Die qualitative Überlegenheit des christlichen Glaubens über andere