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2. Ernst Troeltsch

2.3. Troeltsch weiterdenken

Die im Folgenden gestellten kritischen Rückfragen sind aus einer heutigen Perspektive formuliert, die dem Kontext, in dem Troeltsch seinen Ansatz entwickelte, nicht gerecht wird. Für die Frage, wie dieser Ansatz weiterzu-denken ist, sind sie aber von Bedeutung.

Nicht erst Troeltschs Antwort, sondern schon seine Frage nach dem Wertverhältnis des Christentums zu anderen Religionen und die damit

37 Troeltsch forderte, die «Gesamtansicht auf neue Fragen» sei von denen zu entwickeln, «die gegenüber allen pantheistischen und relativistischen Neigungen des modernen Geistes im christlichen Personalismus den unaufgeblichen Besitz unseres religiösen und geistigen Daseins erkennen» (KGA V, 243).

38 Ernst Troeltsch: Die Stellung des Christentums (siehe Anm. 34), 118.

39 Ernst Troeltsch: Die Mission in der modernen Welt, in: CW 20/1906, 8–

12 (erscheint in KGA X).

verbundene Frage nach der Entwicklungsrichtung der Religionsgeschichte zu höheren Erscheinungsformen hängt von Voraussetzungen ab, die für die heutige religionstheologische Debatte kaum mehr in Anspruch ge-nommen werden können. Mit der Heidelberger Schule des Neukantianis-mus (Windelband und Rickert), aber auch beeinflusst von der Geschichts-philosophie Rudolf Euckens ging er in der Absolutheitsschrift davon aus, dass geschichtlichen (und damit auch religiösen) Erscheinungsformen ein Wert inhäriert, der sich dann einer axiologischen Betrachtung (von einem übergeschichtlichen, «metaphyischen» Standpunkt aus) in relativer Ein-deutigkeit erschließt. Die metaphysische Voraussetzung seines Entwick-lungsbegriffs besteht darin, «daß die Vernunft, die im menschlichen Geist waltet, auch in der Welt überhaupt walte und hier wie dort einen Trieb zur Entfaltung und Herausstellung ihres letzten Sinnes und tiefsten Gehaltes in sich schließt»40. Wo dieser geschichtsteleologische (und damit ge-schichtstheologische) Überbau – die Annahme einer revelatio continua in der Religionsgeschichte – seine Überzeugungskraft verliert, büßt auch der Versuch einer Wertermittlung religiöser Erscheinungen (und ganzer Reli-gionen) aus der Religionsgeschichte seine Plausibilität ein.

Ganz offensichtlich atmet die Durchführung des wertenden Ver-gleichsverfahrens den Geist des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vor den kulturellen Erschütterungen des Ersten Welt-kriegs. Das Ideal der freien sittlichen Persönlichkeit bildet den Wertmaß-stab und präfiguriert damit auch das Resultat der Wertung. In seinem Spät-werk hat Troeltsch diese Problematik zunehmend in Rechnung gestellt.

Aus heutiger Sicht ist die Perspektive, die er in der Absolutheitsschrift ein-nimmt, christo- und eurozentrisch. Im Lichte postkolonialer Kritik erscheint sie als kultur- und religionsimperialistisch.

Angewendet auf die christlichen Konfessionen führt das wertende Ver-gleichsverfahren dazu, den Protestantismus als die höher-, wenn nicht höchstwertige Konfession auszuweisen. Denn dort ist das genannte Ideal in den Augen Troeltschs an ehesten realisiert. Die Vielfalt des weltweiten Christentums kommt dabei nicht in den Blick.

Gegenüber dem Ansatz Schleiermachers wird den einzelnen nicht-christlichen Religionen zwar mehr Beachtung geschenkt; die konkreten Erscheinungsformen der Religionsgeschichte spielen eine wichtigere Rolle. Doch kommen auch hier die Religionen nicht in ihrem individuellen

40 Ernst Troeltsch: Die Selbstständigkeit der Religion, in: ZThK 6, 1896, 79.

Selbstverständnis und in ihrer inneren Vielfalt zur Sprache. In der typisie-renden Betrachtung tritt diese Vielfalt zurück. Die Religionen erscheinen als Teil eines großen, vom allgemeinen Prinzip der Selbstverwirklichung des Geistes geleiteten Entwicklungszusammenhangs. Es handelt sich um eine idealistische Deutung der Religionsgeschichte. So sehr sich der Blick auf das Konkrete und Einzelne in dieser Geschichte richtet, letztlich zielt er immer auf das Ganze und Prinzipielle im Modus seiner Entwicklung.

Auch bei Troeltsch liegt eine Theologie der Religionen im Sinn des genitivus objectivus vor. Die Religionen werden in den Bezugsrahmen einer christlich geprägten Religionsphilosophie gestellt und darin zu «Objekten»

der Betrachtung gemacht. Anders als Schleiermacher geht Troeltsch nicht mehr von einer Wesensbestimmung des Christentums aus. Er schließt sich also lediglich an die erste der beiden Argumentationslinien an, die Schlei-ermacher in den Prolegomena seiner Glaubenslehre entfaltet hatte: an die religionsphänomenologisch-typologische Betrachtung.

Troeltschs Programm, die relative Absolutheit des Christentums bzw.

der in ihm überlieferten Gotteserschließung durch eine historische Wert-bestimmung nach wissenschaftlich akzeptablen Maßstäben zu erweisen, muss im Rückblick als gescheitert betrachtet werden. Zu offensichtlich ist der Versuch, Religionen zu typologisieren und die Typen im Blick auf deren Realisierungsgestalten in der Religionsgeschichte zu evaluieren, an philosophische und theologische Voraussetzungen gebunden, die ihre Plausibilität weitgehend eingebüßt haben. Das darin ausgetragene Grund-problem bleibt aber erhalten: die Notwendigkeit, religiöse Erscheinungen nicht nur zu verstehen und zu vergleichen, sondern in einigen Fällen auch zu werten. Denn Religionen stiften nicht nur Heil, sie verbreiten auch Unheil, sowohl im Kleinen, d. h. in den individuellen Lebensdeutungen und Handlungsorientierungen, als auch im Großen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, wenn sie sich politisieren und Gewalt legitimieren oder gar erzeugen. Die Forderung nach dialogischen Beziehungsformen zwischen den Anhängern der Religionstraditionen und -gemeinschaften kann nicht eine unkritische Anerkennung aller religiösen Erscheinungs-formen bedeuten. Es braucht auch eine (theologische und außer-theologische) Religionskritik. Die notwendige Wertung kann aber weder auf a priori für gültig erklärte Maßstäbe gestützt, noch a posteriori aus der Geschichte selbst entnommen werden – weder aus einer phänomenologi-schen Betrachtung den einzelnen Erscheinungsformen, noch aus einer philosophischen Betrachtung der darin realisierten ideellen Gehalte, noch

aus einer axiologischen Betrachtung der darin realisierten Werte. Sie grün-det in subjektiven und intersubjektiv geteilten Wertpräferenzen. Es kommt dann allerdings darauf an, die präferierten Wertsetzungen in einen kritischen Diskurs einzubringen – sowohl intrareligiös als auch interreli-giös. Es ist dies die normative Dimension des Dialogs über den Dialog.

Dabei geht es dann auch um die angewendeten Kriterien.

Doch kann sich diese Beurteilung nicht – wie bei Troeltsch – auf ganze Religionen beziehen. Für solche Globalurteile gibt es keinen Erkenntnis-standpunkt. Sie kann sich nur auf einzelne Phänomene beziehen und sie bleibt – wie Troeltsch selbst zunehmend in Rechnung gestellt hat – an die Perspektive der urteilenden Person und ihres religiösen und kulturellen Kontextes gebunden. Die Religionsgeschichte bietet bestenfalls das Mate-rial, nicht aber die Maßstäbe der Beurteilung.

Die Betonung der Subjektivität von Wertsetzungen bedeutet nicht, dass diese der Forderung enthoben wären, Rechenschaft über ihre Gewin-nung und beanspruchte Geltung zu geben. Damit stellen sich dann gewichtige Fragen im Blick auf die zu entwickelnde Kriteriologie und deren Anwendung:

– Nach welchem Maßstab sind solche Beurteilungen vorzunehmen?

Nach binnenreligiösen, also solchen, die in der je eigenen Religions-tradition des urteilenden Subjekts angelegt sind (etwa dem Gebot der christlichen Nächstenliebe), oder nach allgemein ethischen (etwa den Menschenrechten) oder nach philosophischen (etwa Kontingenz-bewusstsein, Konsistenz, Kohärenz und Symmetrie41)?

– Wie sollen die Kriterien gewonnen und begründet werden? Religions-intern oder extern? Sollen es religionsübergreifende oder sogar reli-gionsunabhängige Normen mit relativ universalem Geltungsanspruch sein oder können und dürfen die jeweiligen Religionsbildungen nur an den normativen Vorgaben gemessen werden, die sie in ihrer eigenen Tradition hervorgebracht haben? Sollen die Kriterien gewonnen werden aus den Quellen und Traditionen der Religionen, aus dem Religionsrecht des säkularen Staates und den ungeschriebenen Regeln liberaler Gesellschaften, aus ethischer Reflexion oder religionsphilo-sophisch-normativer Rationalität?

41 Nach: Klaus von Stosch: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn u. a. 2012, 293–316.

– Wie sollen sie beschaffen sein – eher formal und allgemein oder inhaltlich und konkret? Kann ein Mittelweg gefunden werden, wie es etwa im «Projekt Weltethos»42 versucht wurde?

Es ist hier nicht der Ort, diese Fragen zu thematisieren. Ich habe das in anderen Publikationen getan.43 Hier ging es lediglich darum, zu zeigen, worin der von Troeltschs religionstheologischen Überlegungen ausge-hende Impuls für eine gegenwärtige Theologie der Religionen liegen könnte: in der (methodischen und inhaltlichen) Reflexion über eine inter-religiöse Urteilsbildung.

In Karl Barths theologischen Reflexionen über Religion und Religio-nen, denen wir uns jetzt zuwenden werden, spielt die Religionskritik eine zentrale Rolle; allerdings nicht als Versuch, die Geister innerhalb der Reli-gion(en) zu unterscheiden, sondern im Sinn einer theologischen Funda-mentalkritik an Religion überhaupt.

42 Hans Küng: Projekt Weltethos, München 200811.

43 Reinhold Bernhardt: Die Polarität von Freiheit und Liebe. Überlegungen zur interreligiösen Urteilsbildung aus dogmatischer Perspektive, in: ders., Perry Schmidt-Leukel (Hg.): Kriterien interreligiöser Urteilsbildung (BThR 1), Zürich 2005, 71–101; ders.: Religionsethik. Gibt es Kriterien zur Evaluierung von Reli-gionen?, in: Helmut A. Müller (Hg.): Kultur, Religion und Glauben neu denken.

Von der abrahamischen Ökumene zur Ökumene der Religionen, Berlin 2014, 121–145.