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Weitere Analyse mithilfe der bourdieuschen Kapitalformen

Die Lebensrealität von Flüchtlingen in der BRD – Anwendungsmöglichkeiten der

4. Weitere Analyse mithilfe der bourdieuschen Kapitalformen

Diese ausführliche Rekonstruktion der historischen Entstehung war notwendig, um das Feld in seinen Restriktionen angemessen verstehen zu können, gerade weil es sich um ein politisch konstituiertes Feld handelt, deren Bedingungen in der Regel nicht innerhalb des öffentlichen Diskurses dargestellt werden. Dieser sozialer Raum zeichnet sich durch seine repressive und rassistische Strukturierung aus. Von diesem staatlich absicht-lich degradierten Feld Lagersystem ausgehend, welches seine derzeitige ökonomische Bedeutung für die Produktionsverhältnisse erst durch das Arbeitsverbot seiner BewohnerInnen bekommt, versuche ich im Folgenden, mittels der Kapitalbegriffe nach Bourdieu, das Feld und die Handlungs-möglichkeiten der dort gezwungener Maßen lebenden Flüchtlinge weiter auf- zuschlüsseln. Diese Eckpunkte meiner Überlegungen zu den Kapitalsorten sind Skizzen und bedürfen noch einer weiteren Spezifizierung durch die Analyse der empirischen Daten aus den konkreten Lagern.

Zentral für die Handlungsmöglichkeiten von Flüchtlingen ist das „Nicht-besitzendürfen“ von ökonomischem Kapital und die sich damit vollziehende Aufwertung der anderen Kapitalformen. Um auf dem Arbeitsmarkt der

bundesdeutschen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft erfolgreich sein zu können, ist die Aneignung von institutionell abgesichertem kulturellem Kapital zentral. Für das Erwerben solcher Titel ist jedoch, neben ökono-mischem Kapital, das Vorhandensein eines gesicherten Aufenthaltstitels notwendige Voraussetzung. Zwar können mitgebrachte Ausbildungszer- tifikate, nach Runterstufungen in der Wertigkeit, anerkannt werden, doch kostet dies Geld und erweist sich aufgrund des Arbeitsverbotes als nutzlos.

Kulturelles Kapital wird so in seiner institutionell nicht anerkannten Form relevant, also in Form von Sprachkenntnissen, handwerklichen Fähigkeiten oder anderen kulturellen Praxen wie Musizieren oder Gesangsleistungen.

Diese kulturellen Fähigkeiten sind zentral, um auf dem irregulären Arbeits-markt eine besser bezahlte oder teilweise überhaupt eine Stelle zu finden.

Auch wenn die mitgebrachten Fähigkeiten einer anerkannten Qualifizierung entsprechen, orientieren sich die Preise aufgrund der rassistischen Abwer-tung an denen des irregulären Marktes und nicht an den institutionell gesicherten Normallöhnen. Eine zentrale Stellung nimmt hier die Aneignung der deutschen Sprache ein, da sie sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch innerhalb der Heime Voraussetzung für eine privilegierte Stellung ist. Zwar ist auch das Beherrschen anderer Sprachen für die Kommunikation innerhalb der multiethnisch zusammen gewürfelten Gemeinschaftsunterkünfte wichtig, doch ist der einzige wirkliche Machtfaktor die Heimleitung, die Sozialarbei-terInnen und der Wachschutz. Die Möglichkeit der Verständigung mit ihnen kann einen oberen Platz innerhalb der inneren Heimhierarchien bedeuten.

Eine wichtige Stellung zur subjektiven Handlungserweiterung nimmt der Aufbau von sozialem Kapital als migrantische Netzwerkstruktur und der Verfügungsmöglichkeit über deren Infrastruktur und Ressourcen ein. So können der rechtlich forcierte Ausschluss aus der Gesellschaft und deren allgemeine Infrastrukturen teilweise kompensiert werden bzw. partielle Handlungsfähigkeit erreicht werden. Gleichzeitig ermöglicht ein funktionie-rendes soziales Netz als soziales Kapital die widerständige Organisierung mit Gleichgesinnten, wobei das Rückgreifenkönnen auf Ressourcen der Struktur Mitvoraussetzung für eine erfolgreiche Durchsetzung eigener oder gemeinschaftlicher Interessen ist. Das Zurückgreifen auf eine in den letzten Jahrzehnten gewachsene migrantische Netzwerkstruktur in Form von Exil- gruppen- oder Parteien, kulturellen Zusammenschlüssen oder migrantischen Arbeitsvermittlungen ist in ländlichen Gegenden fast unmöglich, da die meisten MigrantInnen in den Städten kumuliert wohnen. Aufgrund dieser räumlichen Anordnung von Netzwerken entwickelten sich vor allem in ländlichen Gegenden Flüchtlingsnetzwerke als Selbstorganisierung.

Zum Verständnis der repressiven Strukturen und dem Ineinandergreifen staatlicher Repression und rassistischer Ausgrenzung ist eine Analyse der

Feldstrukturen unter Gesichtspunkten des symbolischen Kapitals, also der Anordnung symbolischer Ausgrenzungspraxen und Abwertungsstrategien relevant. Aufgrund gesellschaftlicher rassistischer Strukturen kann vor allem71 in dem Feld „ländliche Gegend“, aufgrund des Nichtvorhandenseins migrantischer Wohnbevölkerung, die nichtweiße Hautfarbe im Kontakt mit der Mehrheit zum alles abwertenden Vorzeichen werden. Innerhalb dieses symbolischen Bezugsrahmens der Anordnung von Denkmustern, Verhaltens-weisen und Kommunikationsstrukturen wird die Hautfarbe zum negativen symbolischen Kapital (Wacquant 2003: 536), verständlich als symbolische Gewalt rassistischer Ausgrenzungspraxen. Zur subjektiven Einbindung in das System symbolischer Gewalt ist das Verständnis dieser Symbolsysteme notwendige Voraussetzung, also „[...] dass Subjekte, die mit Akten symbo-lischer Gewalt konfrontiert sind, einen Sinn für diese Gewalt entwickelt haben, der es ihnen ermöglicht, die entsprechenden Signale - oft nur Blicke, kleine Gesten, beiläufige Bemerkungen, die Körperhaltung, die Intonation - zu decodieren und deren versteckten sozialen Gehalt zu verstehen, ohne dass ihnen bewusst wird, worum es sich bei diesen Gesten, Blicken, Worten handelt, nämlich um Akte der Gewalt.“ (Krais 1993: 233). Nach Bourdieu ist für die Wirkungsmächtigkeit der symbolischen Gewalt deren Repräsentation innerhalb des subjektiven Habitus notwendig, also das Aneignen einer auch über symbolische Gewalt funktionierenden Herrschaftsstruktur. Dies beinhaltet sowohl den eigenen Platz als Unterdrückte/r zu kennen als auch zu akzeptieren und möglicherweise anzuerkennen. Eine Übertragung dieses Konzeptes auf die Analyse der Handlungsmöglichkeiten von Flüchtlingen in den Heimen birgt das theoretische Problem in sich, dass der für die Wirkungsmächtigkeit symbolischer Repräsentationssysteme notwendige individuelle Habitus aufgrund der Migration und dem damit verbundenen

„Mitbringen“ eines anderen Habitus, also das Denken in differenten kulturellen Codes, Verhaltenssystemen und der Verinnerlichung anderer Symbolsysteme und deren Codierungen, erst einmal nicht vorhanden ist. Für das Verständnis der Wirkung symbolischer rassistischer, also nicht physischer Ausgrenzung innerhalb des Feldes Lagersystem sind sowohl das Verhältnis und die Übergänge zwischen symbolischer und physischer Gewalt relevant als auch die Globalität rassistischer Muster und Praxen. Denn

„[w]enn symbolische Gewalt einen subtilen, auf Verkennung der Gewalt als solcher beruhenden Modus der Herrschaft repräsentiert, so sind doch die Übergänge zu massiveren Formen fließend.“ (ebenda: 234). Innerhalb des Feldes Lagersystem sorgen physische Gewalt der rassistisch ausgerichteten

71 Es ist natürlich klar, dass auch der städtische soziale Raum/ Arbeitsmarkt anhand rassistischer

Kriterien segmentiert ist. Die Wirkungsweise auf die einzelnen als eine/r unter vielen oder eine/r unter sehr wenigen und damit verbundene potenzielle Gegenstrategien ist potenziell eine direktere.

Polizeikontrollen, Überfälle von gewalttätigen Rechtsextremen in Kombina-tion mit dem instituKombina-tionell rassistischen Umgang in den Sozialämtern, Arbeitsämtern und Heimen als bewusst wahrnehmbarer, vor Augen geführter gesellschaftlicher Ausschluss zur schnellen gewalttätigen Verinnerlichung und Anerkennung der spezifisch bundesdeutschen symbolischen Anordnung rassistischer Ausgrenzung. Gleichzeitig besteht zwischen der lokalen Spezifik und der weltweiten Globalität rassistisch motivierter Gewalt und symbolischer Abwertung ein struktureller Zusammenhang, sowohl in der historischen Herkunft und den ProfiteurInnen der Aufrechterhaltung als auch in der Ähnlichkeit diskursiver Ausgrenzungspraxen und Muster. Dieses gewalttätige „Reinpressen“ in die Repräsentationssysteme symbolischer rassistischer Gewalt und der damit verbundenen Anerkennung des struktu-rellen Ablaufes der bundesdeutschen gesellschaftlichen Ordnung ist eine zentrale Voraussetzung für eine nur über Abwertung und Entrechtlichung funktionierende „Integration“ in die schlecht bezahlten irregulären ethnisierten Segmente des Arbeitsmarktes.

Die aufgeführten Zusammenhänge stellen das theoretische Gerüst der Feldanalyse dezentrales Lagersystem dar, welches im Rahmen empirischer Untersuchungen weiterer Präzisionen in der spezifischen Wirkungsweise der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in seinen Widersprüchen auf die Lebensbedingungen von Flüchtlingen erfahren muss. Das aufgezeigte Feld ist hierbei sowohl von staatlicher als auch von gesellschaftlicher Seite stark repressiv strukturiert, wobei mögliche Freiräume innerhalb der empirischen Realität sowohl von dem Widerspruch Kapitalanforderungen an billige irreguläre Arbeitskräfte und repressiver Flüchtlingspolitik als auch von den Widerstandspotenzialen und den Kämpfen der Betroffenen in gemeinsamer Organisierung mit engagierten Bevölkerungsteilen ausgehen. Die Analyse des Feldes dezentrales Lagersystem soll hierbei eine Grundlage bieten, durch eine genaue Aufschlüsselung der Realität Widerstand zu organisieren mit dem Ziel, die hier beschriebenen Strukturen zu verändern.

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Annika Runte