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Modelle kultureller Heterogenität im zeitgenössischen Lied

zeitgenössischer Popmusik (in Frankreich)

3. Modelle kultureller Heterogenität im zeitgenössischen Lied

Mit der immer stärker werdenden Infragestellung der Nation als kollektivem Identitätsprinzip und der durch Migration und Globalisierung abnehmenden Verbindlichkeit kultureller Konzepte sind drei grundsätzliche Tendenzen verbunden: die Akzentuierungen supranationaler und regionaler/lokaler Iden- titäten sowie die Entstehung hybrider, transkultureller Identitäten.

3.1. Supranationale Identität: Europa

Supranationale Identitätsmodelle zeichnen sich aus durch Landesgrenzen überschreitende multikulturelle und multilinguale Tendenzen sowie gegebe- nenfalls durch eine supranationale Institutionalisierung derselben; die Mehr- und Mischsprachigkeit ist das sichtbare Zeichen einer pluralen inter-nationalen Identität, sie ist zugleich ihr Ausdruck und Mittel.

Der im Lied wirkende Multilinguismus hat eine wichtige Pars-pro-Toto-Funktion bei der Herausbildung grenzüberschreitender Kollektive.

Man kann unterscheiden zwischen multinationalen oder multikulturellen Modellen, bei denen die einzelnen nationalen oder kulturellen Identitäten erhalten bleiben und in ihrer Pluralität eine Einheit bilden (ein typisches Beispiel dafür wäre Europa), und andererseits solchen, durch welche eine Auflösung der Einzelidentitäten zugunsten einer globalen Identität im Sinne kosmopolitischer Weltkultur oder Weltbürgertum angestrebt wird.

Festgeschriebener Grundsatz der Europäische Union ist die Erhaltung und Förderung der kulturellen Vielfalt durch die einzelnen Nationen und Regionen. Dazu gehört im Wesentlichen die Vielfalt der Sprachen, was sich z.B. durch die 11-Sprachigkeit der EU äußert. Ein wichtiger Grundsatz der europäischen Identität ist demnach die Einheit in der Differenz. Europäer sollten sich nach dieser Vorstellung dreifach identifizieren: mit der eigenen Nation, mit der Europäischen Union als ganzes und mit der Vielfalt der europäischen Kulturen. Die europäische Währung kann als Symbol dieser dreifachen Europa-Identität gesehen werden: Sie besitzt eine einheitliche, europäische und eine nationale Seite. Die Vielfalt, als dritte Identifika-tionsdimension, entsteht durch die Gültigkeit aller nationalen Euro-Versi-onen in jedem Land. Daher ist die europäische Kulturpolitik wie auch die Mitgliedsländer der Eurovision um die Schaffung und Förderung eines gemeinsamen, europäischen Liedguts bemüht, welches aus der Menge der

einzelnen Liedkulturen bestehen soll, aber zugleich von allen geteilt wird:

Bereits in den 50er Jahren entstand unter diesem Vorsatz der „Grand Prix Eurovision de la Chanson / Eurovision Song Contest“, als eine Institution der Völkerverständigung und zur grenzüberschreitenden Identitätsbildung.

Ob das Schlager-Festival diese hohen Ziele tatsächlich erreichen konnte, lässt sich gewiss bezweifeln: sind es doch vor allem kommerzielle, banale Schnulzen, die dort als europäisches Kulturgut verkauft werden, bei denen Profit und seichte Unterhaltung eindeutig im Vordergrund stehen. Auch die kulturelle und sprachliche Vielfalt ist in den Beiträgen zumeist nicht repräsentiert, die große Mehrheit der Titel wird in englischer Sprache gesungen. Unbeantwortet muss auch die Frage bleiben, warum der Grand Prix dennoch bis heute überleben konnte...

Als gemeinsame, quasi-offizielle Hymne gilt die „Ode an die Freude“, aus der neunten Symphonie Beethovens mit einem Text von Friedrich Schiller.

(Bei einer Umfrage was die europäische Hymne sei, wurde mir jedoch von einer großen Menge zunächst die Eurovisions-Melodie vorgesummt.) Das Lied von Schiller war ursprünglich für eine internationalistische Frei-maurerloge bestimmt. Mit seinem humanistischen und aufklärerischen Inhalt – „Deine Zauber binden wieder/ was die Mode streng geteil / Alle Menschen werden Brüder/ wo dein sanfter Flügel weilt“ – hat es keinen explizit europäischen, sondern eher weltbürgerlichen Bezugsrahmen. Dennoch ist es durch seinen Entstehungskontext untrennbar mit der europäischen Kultur verbunden. In den meisten Ländern wird das Lied vorwiegend instrumental gespielt; es existieren nicht viele Übersetzungen des Textes von Schiller.

Auch in der populären Musik gibt es eine Reihe Lieder, welche Europa thematisieren: Ein sehr frühes und vorwiegend Europa-euphorisches Lied ist Alain Souchons „Vous êtes lents“ aus dem Jahr 1985. Die Titelaussage „ihr seid langsam“ bezieht sich auf die reale Umsetzung der europäischen Idee vor allem auf sprachlicher Ebene: es fordert, kulturelle Vielsprachigkeit zu praktizieren, um so in den Dialog mit den europäischen Ländern zu treten.

Der Text besteht aus Zitaten aus Sprachlehrbüchern (gesprochen von verschiedenen SprecherInnen) und dem Refrain „Vous êtes lents dans vos vieilles godasses /Il serait temps que l’Europe se fasse /Elles sont cuites vos vieilles chaussures /allez quick l’Europe est mûre“77. Das Intonieren fremd-sprachlicher Zitate durch verschiedene Sprecher wirkt hier ähnlich eines musikalischen „Samplings“. Das Nebeneinander der Zitate wird schließlich gesteigert zur vielstimmigen Simultaneität der Sprachen durch Überein-anderlagerung der Stimmen. Der französische Refrain weist einen Anglizismus auf : „allez quick“ anstatt „allez vite“. Die Schuhmetaphorik

77 Ihr seid langsam in euren alten Latschen/Es ist Zeit, dass Europa entsteht/ Sie sind durchgelaufen eure alten Schuhe/Los, schnell, Europa ist reif.

soll die Begrenztheit und „Ausgelatschtheit“ der nationalen Kulturen in den Vordergrund rücken. Das Lied hat eine appellative Funktion, es ist ein Aufruf zur europäischen Einigung. Die Leute sollen, um mit Souchons Worten zu sprechen, „sich den (europäischen) Schuh endlich anziehen“.

Einen Kontrapunkt zu diesem recht unkritischen Europa-Lied stellt das hauptsächlich (durch Bertrand Cantat und Brigitte Fontaine) gesprochene

„chanson en prose“, L’Europe von Noir Désir (2001, Album: Des visages, des figures) dar. Es äußert eine sehr scharfe und umfassende Kritik an Europa, insbesondere in Bezugnahme auf ihre kolonialistische Vergangen-heit und ihre Rolle als eine der Hauptakteurinnen der neoliberalen Globali-sierung. „Le jour de l’Occident est la nuit de l’Orient… Je ne suis pas chauvine mais la France est quand même la reine des fromages.78Die mythische Personifizierung Europas wird aufgenommen und weiter-entwickelt:

"Chère vieille Europe, cher vieux continent, putain autoritaire, aristocrate et libertaire, bourgeoise et ouvrière, pourpre et pomponnée de grands siècles et colosses titubants. Regarde tes épaules voûtées, pas moyen d’épousseter d’un seul geste, d’un seul, les vieilles pellicules, les peaux mortes d’hier et tabula rasa…D’ici on pourrait croire à de la pourriture noble et en suspen-sion. il flotte encore dans l’air de cette odeur de soufre.79

Insgesamt lässt sich jedoch bemerken, dass es, verglichen mit den zahlreichen nationalthematischen Stücken, nur relativ wenige europathema- tische Lieder gibt. Europa ist nur selten Objekt identitärer Liedliteratur, sei es mit positiven oder negativen Aussagen: man könnte demnach vermuten, dass Europa bislang vorwiegend als struktureller Überbau empfunden wird, und nicht als Realität, mit der man sich identifizieren könnte.

78 Der Tag des Okzident ist die Nacht des Orient…/ Ich bin nicht chauvinistisch aber Frankreich ist trotzdem die Königin der Käse.

79 „Liebe alte Europa, lieber alter Kontinent, autoritäre Hure, aristokratisch und libertär,

Bürgerin und Arbeiterin, purpur und verziert von großen Jahrhunderten und schwankenden Kolossen.

Betrachte deine gekrümmten Schultern, unmöglich, sie mit einer Bewegung anzustauben, mit einer einzigen, die alten Schuppen, die abgestorbenen Hautfetzen von Gestern und Tabula Rasa... Von hier aus könnte man meinen, es sei ehrwürdige, schwebende Verwesung. In der Luft hängt noch etwas von diesem Schwefelgeruch“.

3.2. Lokale und regionale Identität: Okzitanien

Regional- und Lokalsprachen finden ihren Ausdruck verstärkt im Lied.

In Frankreich findet man zahlreiche Gruppen, die in ihren Texte bretonische (Manau), okzitanische (Massilia Sound System, Fabulous Trobadors, etc.), korsische (I Muvrini), baskische (Negu Goriak), ch'ti80 ( La Rue Kétanou) elsässische, francique („platt“) Elemente verbinden.

Beispielhaft an zwei südfranzösischen Gruppen soll gezeigt werden, wie regionale Sprachen als identitätsbildendes Element im modernen Lied reaktualisiert werden.

Provençal ist eine Variante des Okzitanischen, eine Regionalsprache, dessen Verbreitung von Katalonien, über die Pyrenäen bis nach Piemont (Italien) reicht. Ausgestattet mit einer eigenen Symbolik (Farben gelb-rot, gelbes Kreuz auf rotem Hintergrund) sowie lebendigen Literaturen, Traditionen und Musik stellt dieser Kulturraum einen starken Identitätsfaktor dar.

Die Gruppe Massilia Sound System aus Marseille ist, gemeinsam mit Fabulous Trobadors aus Toulouse, ein wichtiger Akteur für den Erhalt, die Transformation und Weiterentwicklung der okzitanischen Kultur.

Massilia Sound System mixen traditionelle okzitanische Musik mit Reggae, Ragga, Rap und anderen tanzbaren Rhythmen und singen sowohl in okzita-nischer als auch in französischer Sprache. Nach dem Vorbild des jamaika-nischen Patois, welches aus einer Mischung aus Englisch und lokalen Substraten besteht, begann die Gruppe zu Beginn der 90er Jahre, okzitanisch in ihre französischen Texte einzuarbeiten. Diese Idee wurde schließlich Programm. Ihre Begegnung mit der Toulouser Gruppe Fabulous Trobadors, welche ebenfalls mit okzitanischer Musiktradition und Sprache experimen-tieren, bestärkte beide Gruppen in ihrer Idee. An die Jahrhunderte alte provenzalische Tradition der Troubadoure anknüpfend, übernehmen die Fabulous Trobadors Liedformen und Instrumente dieser Musik vorwiegend aus dem 12. und 13. Jahrhundert, um sie in neue Kreationen einzubinden.

Besonders die Liedform der „tençon“, eine Art verbales Wortgefecht basierend auf Dialog und Diskussion, hat sie zu zahlreichen Stücken inspiriert.

Die der okzitanischen Bewegung zugrundeliegende Philosophie wurde vor allem von Félix M. Castan entwickelt81. Sie hat nichts von einem knappen und independantistischen Regionalismus, sondern geht von dem Prinzip aus, dass es, da man durch den Pariser Zentralismus marginalisiert ist, einfacher

80 nordfranzösischer Dialekt, besonders in der Region um Lille gesprochen

81 Félix M. Castan, u.a. Manifeste multiculturel (et anti-régionaliste), Montauban: Cocagne, 1984 und Le vouloir d’une ville, 1998.

und gesünder ist, sich um die Probleme seiner Nachbarn zu kümmern als um jene eines abstrakten „generellen Interesses“. Die provenzalische Region und seine Attribute sind eigene identitäre Symbole, welche dazu dienen, die Leute zu vereinen und ihre Kommunikationsmöglichkeiten nach Außen zu bereichern. Mit ihrem Album „On the Linha Imáginot“ (Oktober 1998), verweisen die Fabulous Trobadors auf die von ihnen mitgegründete Organi-sation „Linha Imáginot“; eine Bewegung, welche als Ziel und Mittel die größtmögliche Basisdemokratie in Sachen Kultur zu verwirklichen sucht, eine „imaginäre Linie“, welche Gruppen, Leute, Städte, Dörfer miteinander verbindet, um die starre Zentralisierung des Staats aufzubrechen (die Gruppen bezeichnen ihr Engagement auch häufig als anti-zentralistisch).

Diese „linha imáginot“ geht zugleich über die regionalen Grenzen hinaus um solide Verbindungen mit dem Rest der Welt herzustellen: musikalischer Austausch und Fusion finden bei den Fabulous Trobadors mit einer Vielzahl von brasilianischen, karibischen, polynesischen, afrikanischen, etc. Musikern statt.

Das Engagement beider Gruppen gilt jedoch zuallererst ihren Heimatstädten.

Nicht „global denken“, sondern „lokal denken“ ist die erste Voraussetzung für lokales Handeln: um effizient handeln zu können muss man sich zunächst völlig in ein Problem, einen Ort, eine Kultur oder eine Gruppe hineinver-setzen, ihre Besonderheiten verstehen. „Anstatt Rassismus zu schreien, bringen wir lieber die Leute bei Straßenfesten zusammen. Auf diese Weise lernen sie ihre Nachbarn auf andere Weise kennen“82. So baute die Gruppe Massilia Sound System parallel zu ihren musikalischen Aktivitäten ein Netzwerk auf mit dem Namen „Chourmo“ (okzitanischer Ausdruck, bezeichnet die Ruderer der Marseillaiser Galeeren, welche die Gewürzroute fuhren). Dieses Netzwerk funktioniert wie eine Mischung aus Fanclub, alter-nativer Fußballmannschaft und Verein für Nachbarschaftshilfe. In Reaktion auf den Aufschwung der rechtsradikalen FN besonders in den Vorstädten von Marseille, Vitrolles und Marignane, riefen sie die Aktion „Stop le cono“

(„Schwachkopf, Idiot“) gegen Engstirnigkeit ins Leben. Sie engagieren sich in der Gestaltung des Lebens der Stadtviertel, organisieren spontane Straßen-feste, Petanque-Turniere und Fußballspiele, aber auch Schreibworkshops für junge Rapper, und anderes.

Das zweisprachige Titellied, Occitanista, drückt synthetisch diese Sichtweise des lokalen Bewusstseins aus, welches Massilia verbreiten. Es wird von zwei Sängern dialogisch im Frage-Antwort-Modus vorgetragen:

Oh cousin je te le demande

Qu’est-ce que c'est d'être marseillais ? 2600 ans de culture

82 Claude Sicre, Sänger der Fabulous Trobadors, zitiert bei www.mondomix.fr

Et peu importe tes papiers.

Ò mon cosin te va demandi E la cultura qu'es aquò ?

Lo balon, la litteratura e lei cançons e lo lòtò.

Oh cousin je te le demande

Mais qu'est-ce qu'une bonne chanson ?

Celle qui fait danser ta mère et ta petite et ton fiston.

Oh cousin je te le demande

Qu'est-ce que c'est d'être marseillais ? Comprendre que les différences

Sont le ciment de la cité.

Ò mon cosin te va demandi La diferencia qu'es aquò ? D'istòrias dins totei lei lengas, Mila receptas per tenir còp.

Oh cousin je te le demande

Et ta recette qu'est-ce que c'est ? Avoir la fierté de sa ville

Parler avec le monde entier.83

Die regionale und traditionelle Verankerung der Musik von Massilia Sound System ermöglicht ihnen eine Weltsicht, die zugleich offen und multikul-turell, nicht aber von der Tendenz der Orientierungslosigkeit und Flüchtig-keit der Modernität bedroht ist. Ganz ähnliche Tendenzen von „glokalem“, also weltoffenen Regionalismus und Anti-Zentralismus gibt es auch in anderen Regionen und französischen Städten. Immer mehr Künstler von regionaler und nationaler Bedeutung schließen sich dieser Form von lokalen, sozio-kulturellem Engagement an. (z.B. Zebda, Dupain, Gacha Empega, Kanjar’oc, Nux Vomica, etc.).

3.3. Postkoloniale/konfliktuelle Identitätsmodelle

Mit postkolonialen und konfliktuellen Identitätsmodellen sollen hier Diskurse bezeichnet werden, bei denen widersprüchliche Eigenschaften und Konflikte kultureller Heterogenität in den Vordergrund gerückt werden.

Anders als bei den vorherigen Beispielen bedeutet Heterogenität hier

83 Oh, Cousin, ich frage dich/ was heißt es, Marseillais zu sein?/ 2600 Jahre Kultur/ egal was auf deinen Papieren steht/ Oh, Cousin, ich frage dich,/ was ist Kultur?/ Fußball, Literatur, Lieder und Lotto/ Oh Cousin, ich frage dich,/ aber was ist ein gutes Lied?/ Eins, was deine Mutter, deine Freundin und deinen Sohn zum tanzen bringt.

Oh, Cousin, ich frage dich,/ was heißt es, Marseillais zu sein?/ Zu verstehen, dass die Unterschiede/

der Zement der Stadt sind/ Oh, Cousin, ich frage dich,/ was sind Unterschiede?/ Geschichten in allen Sprachen,/ tausend Rezepte um zu überleben/ Oh, Cousin, ich frage dich,/ und was ist dein Rezept?/

Stolz auf seine Stadt zu sein/ und mit der ganzen Welt zu sprechen. (Cousin ist eine vertrauliche Anrede ähnlich wie „Kumpel“, „Kollege“)

zunächst einmal Konflikt: diese Dimension äußert sich sehr häufig in Texten, welche sich mit der Verarbeitung kolonialer Vergangenheit und post- bzw.

neokolonialer Gegenwart auseinandersetzen sowie in Texten, welche Migrationserfahrungen oder Identitätskonflikte von MigrantInnen und nachfolgender Generationen verarbeiten.