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Spezifik von Kriminalliteratur und filmischen Medium in Lateinamerika

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte 51 (Seite 104-108)

Besonderheiten aus der Perspektive visueller Medien

2. Spezifik von Kriminalliteratur und filmischen Medium in Lateinamerika

Die lateinamerikanische Krimiproduktion sieht sich nach wie vor mit dem Vorwurf der Imitation der historisch in Europa und Nordamerika gewach-senen literarischen Formen konfrontiert. Während die kulturelle Unab-hängigkeit in der Literatur Lateinamerikas insgesamt unzweifelhaft erstritten wurde, ist die Kriminalliteratur als schematische und folglich als trivial gewertete Form des Erzählenden an den Rand des offiziellen - und kollektive Identität prägenden - nationalen Literatur- und Kulturverständnisses gestellt.

Sowohl die narrativen Strukturen als auch die inhärenten gesellschaftlichen Prozedere, die den Kriminalroman zu einem autonomen Genre werden ließen, sind im differenten kulturellen Kontext der sogenannten ersten Welt ehemaliger Kolonialstaaten entstanden. Postcolonial literature95 bezeichnet daher die kulturelle Auseinandersetzung mit voretablierten literarischen Strukturen und Modellen, die zwar den Referenzpunkt bilden, gerade aber in der Gattung des Kriminalromans zur Unterlaufung dieser Genre-Konventionen in der Darstellung der eigenen gewaltproduzierenden Machtverhältnisse herausfordern. Die lateinamerikanischen Kulturen haben nun prägend gemeinsam, dass sie sich erst im Ergebnis der europäischen Eroberung und Kolonialisierung herausbildeten und sowohl Sozialstrukturen der unterjochten Völker als auch dominant die der Kolonisatoren in sich tragen.

Kriminalliteratur ist vor allem deswegen in den Blickpunkt der neueren Forschung geraten, weil diese Literaturform exemplarisch zu verkörpern scheint, was die „postmoderne“ Diskussion um (kulturelle) Hybridisierung meint. Eine Literaturform, die gern zwischen universalistischen Grund-konstruktionen und lokaler Szenerie (um nicht von nationaler Figurierung zu sprechen: der englische, französische etc. Detektiv) oszilliert, die per se die Konstruktion und Interpretation des Eigenen betreibt, provoziert geradezu die Frage nach ihrer Einschreibung in einen lateinamerikanischen Kultur-kontext. Die Auseinandersetzung mit einem Modell kann das Bewusst-werden kultureller Gegenerfahrungen befördern. Daher ist auch zu unter-suchen, inwieweit die hier behauptete Affinität des Genres zu visuellen

95 An dieser Stelle kann keine Diskussion um die im Konzept implizierten Begrifflichkeiten geführt werden. Verwiesen sei unter anderem auf: Ashcroft, Bill/ Gareth Griffith/ Helen Tiffin: The Empire writes back: theory and practice in post-colonial literatures. London 1989; Bhaba, Homi: The location of Culture. London 1994.

Medien im lateinamerikanischen Kontext zu spezifischen Gattungsaus-prägungen geführt hat und welche davon die Marginalisierung der literarischen Form unterlaufen.

Im Bezug auf das filmische Medium fällt zunächst auf, dass es relativ frühzeitig nach Lateinamerika gelangt. Beispielhaft sei auf Brasilien verwie-sen, wo es bereits 1896 die erste kinematografische Vorführung gab.96 Zwei Jahre später war in Rio de Janeiro bereits Filmtechnik vor Ort. Von 1900-1912 wurden allein in Brasilien 100 Filmstreifen pro Jahr produziert.

Zumeist stellten diese Filme lokale Neuigkeiten zur Schau, Kriminalfälle bevorzugt.

Der erste bekannte brasilianische Spielfilm, eine Produktion von Antônio Leal - Os estranguladores - (1908; „Die Würger“97), zeichnet einen realen Kriminalfall nach. Leals zweiter Film gleichen Jahres ist bereits ein auf Fiktion beruhender, „echter“ Kriminalfilm - A mala sinistra („Der obskure Koffer“), wobei der Film offensichtlich jedoch nicht auf einer literarischen Vorlage beruht. In diesem Streifen verschickt der Mörder die Leiche seines Opfers kurzerhand nach Europa, wodurch sich auch in der filmischen Fiktion bereits eine Konstante lateinamerikanischer Genreproduktion wiederfinden lässt: die parodistische Transformation des fremden Modells. Für die filmische Produktion sind in Lateinamerika aber bald die goldenen Anfangsjahre vorbei und das Hollywood-Imperium regiert nahezu unum-schränkt bis in die 60er/70er Jahre.

Im Bezug auf die Entwicklung des Kriminalromans lässt sich feststellen, dass der policíaco 98 - die im romanischen Sprachraum übliche Bezeichnung für die literarische Gattung - im gesellschaftlichen Kontext Lateinamerikas seinen detektivischen Helden verliert: den Polizeikommissar. Selten wird ein Verbrecher beispielsweise im brasilianischen oder mexikanischen Kriminal-roman durch die Polizei seiner „gerechten“ Strafe übergeben. Das hat aber nicht nur mit der oft erwähnten brasilianischen Realität der „impunidade“ - der „Straflosigkeit“ der Oberschichten - zu tun. Die Erfahrung ausgedehnter Korruptionsstrukturen teilen etliche Länder Lateinamerikas. Natürlich ist der Begriff einer umfassenden kulturellen Entität für alle jene Länder Mittel- und Südamerikas, die dominant der romanischen Sprachfamilie zuzuzählen bzw.

aus iberischen Kolonialreichen hervorgegangen sind, ist die Rede von einer gemeinsamen Identität ein bloßes Hilfskonstrukt, mit dem historisch ge-

96 Vgl. Johnson, Randal/Stam, Robert (Hrsg.): Brazilian Cinema. 2. veränderte Ausgabe. New York 1995.

97Übersetzungen werden im folgendem - soweit nicht zitiert oder anderweitig veröffentlicht - von der Verfasserin vorgenommen.

98 In Anlehnung an die frühzeitig etablierte Gattungstradition der institutionellen Detektive in der französischen Kriminalliteratur - vgl. Bremer, A.: Kriminalistische Dekonstruktion: zur Poetik der postmodernen Kriminalromane. Würzburg 1999.

wachsene kulturelle Parallelen stärker in den Blickpunkt geraten. Um nicht von allen diesen Ländern und ihren jeweiligen Besonderheiten sprechen zu müssen, soll sich auf Regionen großer Produktionsdichte exemplarisch beschränkt werden: Brasilien als größtes und einziges portugiesisch-sprachiges Land Lateinamerikas und Mexiko mit seinen international sehr aktiven Kriminalautoren.

Der traditionelle europäische Detektivroman (Gilbert Keith Chesterton, Dorothy Sayers, Agatha Christie oder selbst John Dickson Carr) hatte seine Wirkung vor allem aus einer vorsichtig-überraschenden Variierung der immer wieder gleichen Grundstruktur bezogen, womit er quasi ein Ritual des Lesens, das sogenannte Fair-Play, provozierte. Diese Evokation des Rituellen, das Prinzip der Variierung des ewig gleichen (und doch nicht gleichen) Themas kennzeichnet jedoch auch ein grundlegendes Merkmal von Popularliteratur99. Zusätzlich schafft die Ritualisierung von Gestaltungs-komponenten wie bestimmten Orten, bestimmten Figuren bzw. Figuren-konstellationen und des Spannungsaufbaus eine Art vorgeprägte Imaginisie-rung, eine Verbildlichung der Handlung. Eine derart visuell assoziative Sprache der Kriminalliteratur führt in die Nähe zu Mechanismen bildlicher Wahrnehmung. Diese konventionalisierte Visualisierung von Geschriebenen ist Grund und zugleich Ergebnis einer besonderen, sich schon frühzeitig (in den 30er Jahren) zeigenden Affinität des Genres zu filmischen Medien.

Andererseits sind die konventionalisierten Gestaltungselemente Reflex der staatsbürgerlichen Verhältnisse dieser europäischen Länder, womit sie sich in Lateinamerika allenfalls zu parodistischen Verfremdungen eignen. Diese bleiben meistenteils jedoch im Modellkonstrukt gefangen. Eine Ausnahme bildet dabei Jorge Luis Borges in Argentinien, der die traditionelle Detektiv-literatur in die „hohe“ Literatur einbindet und die KriminalDetektiv-literatur auf diesem Wege erst in die lateinamerikanische Kulturpraxis hereinholte. In diese von Borges eröffnete Traditionslinie reiht sich zum Beispiel Ensayo de un crimen (1944; „Versuch eines Verbrechens“) von Rodolfo Usigli ein, der vor allem durch die filmische Adaption von Luis Buñuel aus dem Jahre 1955, La vida criminal de Archibaldo de la Cruz („Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz“) bekannt geworden ist. Julio Cortázars 1959 veröffentlichte Erzählung Las babas del diablo („Teufelsgreifer“), auf dem bekanntermaßen Antonionis "Kultfilm" Blow up von 1966 fußt, kann als ein weiteres Beispiel für die enge mediale Verbindung des eher hochlite-rarischen Kriminalromans zum Film gelten.

Allerdings ist diesen Autoren gemein, dass sie nicht eigentlich im Sinn hatten, eine autonome Kriminalliteratur zu begründen. Diese Schriftsteller

99 vgl. Dove in The Cunning Craft: Original essays on detective fiction and contemporary literary theory.

Macomb 1990.

avancierten vielmehr zum Inbegriff all dessen, was lateinamerikanische Literatur in ihrem „magischen Realismus“ zu etwas Neuem und Anderen für das Lesepublikum werden ließ, gar zum Modell postmodernen Schreibens.

Daher wurden auch die entsprechenden filmischen Umsetzungen der kriminalliterarischen Stoffe nicht als genre-spezifisch rezipiert.

Es scheint daher nicht verwunderlich, dass die lateinamerikanische Krimiproduktion in dem Moment größere Eigenständigkeit und Breiten-wirkung erlangte, als sie sich „subversiveren“ Modellen zuwandte. Der sogenannte hard-boiled ist dabei am einflussreichsten. Er fußt auf einer von us-amerikanischen Autoren wie Dashiel Hammett und Raymond Chandler in den 30er Jahren entwickelten Form, in der die Gleichzeitigkeit von Aktions-verlauf und Detektion in den Vordergrund rückte. Die Handlung thematisiert in den Abenteuern eines außerhalb der Institutionen arbeitenden Detektiv-helden (eines private eye) neue urbane Milieus. Die Veräußerung des Handlungsablaufs wird aus der Perspektive eines unbeteiligten

(Kamera-)Blicks erzählt und daher nicht von ungefähr mittels filmischen Schreibens wiedergegeben. Die formalen Parallelen zu Filmtechniken sind hier besonders auffallend: rasante Szenenwechsel, Schnitte, Rückblenden, Stimmen aus dem Off usw. Diese Techniken evozieren auch ein grundlegend visualisiertes Leserverhalten.

Das Verbrechenssujet ist eines der beliebtesten in Film und Fernsehen, weil es über Kulturgrenzen hinweg den Zuschauer als „Voyeur“ und Bilder-konsumenten mit Spannungsreizen versorgt. Obwohl es bereits frühzeitig Holmes- oder Poirot-Verfilmungen gab, ist es der Boom filmischer Adaptio- nen von Chandler und Hammett ab den 30er Jahren und vor allem die Hitchcock-Produktionen, die Lateinamerika mit dem Kriminalgenre filmisch bekannt machen. In weiten Teilen Lateinamerikas wurden diese Hollywood-Produktionen unverzüglich, spätestens jedoch zwei Jahre nach der Fertigstellung, gezeigt. Ab den 50er Jahren begannen zudem Fernsehserien (Alfred Hitchcock presenta)100 den Markt zu erobern; in den 60er und 70er Jahren vor allem solche nordamerikanischer Provenienz: Columbo, Kojak, Cannon etc.

Die Rezeption des hard-boiled erfolgte in Lateinamerika daher auch vorrangig über nordamerikanische Filmadaptionen. Erst ab Ende der 60er Jahre gelangen Taschenbuchformate in stärkerem Maße auf den Buchmarkt.

Ricardo Piglia war mit der Seria Negra - („Schwarzen Serie“) - Herausgeber einer der wichtigsten Buchreihe von Kriminalromanen.

Die enorme Ausdifferenzierung der Gattung weltweit und die Konjunktur des Krimithemas in der Postmoderne-Debatte hat die Beobachtung verstärkt, dass gerade diese Gattung die Grenzen zwischen Hoch- und Trivialliteratur

100 vgl. Stavans, Ilan: Antiheróes. México y su novela policial. México 1993.

aufbricht, nicht zuletzt aufgrund ihrer Hinwendung zu den Massenkultur-phänomenen visueller Medien.

Im Falle Lateinamerikas hat es eine scharfe Grenzziehung in der Hierarchi-sierung der literarischen Gattungen nicht gegeben, was etwa im Falle des Kriminalromans Namen wie Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Mario

Vargas Llosa, Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez oder Ernesto Sábato beispielhaft bezeugen.

Der häufige Rückgriff auf visuelle Techniken des Films erhält im latein-amerikanischen Kontext größere Bedeutung, wenn man bedenkt, dass bei einem hohen funktionalen Analphabetismus Lesen bzw. Literatur nur schwer eine massenmediale Funktion übernehmen kann. Literatur und populäre Gattungen zumal stehen einer starken Präsentanz visueller Medien gegen-über, der kulturelle Konsumtionsgewohnheiten potentieller Leser sehr stark prägt. Zudem muss sich die Kriminalliteratur auf einem durch die Dominanz der importierten Genre-Originale ohnehin limitierten Markt behaupten.

Trotzdem ist es vor allem die exzessive Produktion von Telenovelas (u.a.) und die beeindruckende Dichte an Fernseh- und Videoapparaten in Bra-

silien101, Mexiko und weiten Teilen Lateinamerikas, die die Gattung heraus-fordern, das ihr eigene visuelle Potenzial stärker zu nutzen.

3. Formen filmischer Präsentation in der lateinamerikanischen

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte 51 (Seite 104-108)