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Einflüsse Hölderlins auf Bahros Marxismus

Rudolf Bahro: Eine Kreuzung von deutscher Klassik und russischer Revolution?

4. Einflüsse Hölderlins auf Bahros Marxismus

Einige wechselseitige Einflüsse Hölderlins auf Bahros Marxismus und umgekehrt, selbstverständlich eingedenk der Mitautorschaft von Fichte, Schiller, Hegel - also von Vertretern der 1789er Generation58, auf die hier nicht eingegangen werden kann - sollen im Anschluss und mit Blick auf die Diskussion gewissermaßen als Vorgriff kurz benannt werden. So zieht Bahro z.B. zur Stützung der Marx‘schen These von der Aufhebung vertikaler und horizontaler Arbeitsteilung und der daraus folgenden Abschaffung des büro-kratischen Staates als Grundbedingung für menschliche Emanzipation das poetisch-philosophische Werk Hölderlins heran, namentlich Hölderlins Kritik der Deutschen im „Hyperion“ und die betreffenden Stellen im

„Systemfragment“ von 1794. Ähnlich verhält es sich bei Marx‘ notwendiger Annahme reiner (idealer) Verhältnisse als utopischer Metatext der als geschichtlich angesehenen Entwicklung von Produktionsverhältnissen.

Freiheit, Gleichheit und Menschennatur gelten dabei als nicht historisierbare Ideen. Bahros Vision von einer befreiten Gesellschaft erscheint somit als eine auf die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse angewandte konkrete Utopie. So war sein Denken in jeder Phase auf die Verwirklichung

‚reiner’ Verhältnisse orientiert, wohl wissend, dass es sich dabei im Konkreten nur um einen Prozess der Annäherung im Unendlichen handeln konnte. Die Änderung und Vervollkommnung der Gesellschaft im Ganzen sollte aber nicht durch gewaltsame Revolutionierung an für die Masse abstrakten Ideen entlang erreicht werden. Eine Änderung unmittelbarer gemeinschaftlicher Lebens- und Kommunikationsformen, von den Betrof-fenen verantwortet, musste dem vorausgehen. Was Bahro in den 70er Jahren hier vorschwebte, war eine idealisierte Gestalt von chinesischer Kulturrevo-lution, jugoslawischem Selbstverwaltungskommunismus und Eurokommu-nistischen Vorstellungen. Später in der Bundesrepublik experimentierte er, nach seiner Ausreise 1979, dann mit und in ökologisch-spirituellen Basis-kommunen. Die Aufhebung der Entfremdung des Einzelnen wie der Massen wurde von Bahro dabei immer als ein sich wechselseitig stimulierender Prozess äußerer Umwerfung der Gesellschaftsverhältnisse wie auch innerer revolutionärer Wandlung im Subjekt gefasst. Geschichte wurde zwar weiterhin prozessual gedacht, allerdings gleichermaßen als ein Bewusst-seinsprozess und als ein Prozess der Revolutionierung materieller Bedingun-gen von Herrschaft und Produktion.

58 Später, in den 80er Jahren in der Bundesrepublik, als Bahro sich unter dem Eindruck der Zerstrittenheit und des Niedergangs der West-Linken von dieser distanzierte, trat noch Schelling hinzu.

Einerseits durchzieht die skizzierte geistige Doppelbestimmtheit Bahros gesamte Schaffenszeit und überdauert alle einschneidenden politischen wie persönlichen Wechselfälle. Andererseits sind die Verschiebungen in Selbst-verständnis und theoretischer Einbettung der politischen Praxis gerade vor diesem bleibenden Hintergrund nachvollziehbar, woran sich die Konsequenz einer bestimmten Entwicklungsrichtung ablesen lässt. Allgemein lässt sich feststellen, dass die Verbindung von Hölderlin und Marx bei Bahro zu einer Re-Idealisierung des Marxismus geführt hat und zu einer Rückwendung zum utopischen und romantischen Sozialismus, der in seiner politischen Praxis mehr und mehr auf das Individuum und seine Tat setzte als auf ausgemachte historische Gesetzmäßigkeiten und historische Subjekte in Gestalt von Klassen. Besonders zu diskutieren wäre hierbei Bahros genialisches Konzept charismatischer Führerschaft, das ihm in den späten 80er Jahren bis zu seinem Tod 1997 viel Unverständnis und Kritik bei früheren linken und grün-alternativen Weggefährten eintrug.

Nach der erzwungenen Ausreise aus der DDR 1979 ist bei Bahro im Zuge seiner Hinwendung zum „subjektiven Faktor“, wie es in seiner DDR-Dissertation bereits hieß59, eine deutliche Wertschätzung therapeutischer und spiritueller Praktiken auszumachen. Auch hier war er - wie in den 50er Jahren mit seiner Stalingläubigkeit und 1968 mit seinem Eintreten für den Prager Frühling - ein Kind seiner Zeit. Nach dem Herbst 1989 konnte er, den besonderen Zeitumständen geschuldet, an der Humboldt-Universität auf Grundlage seiner bundesrepublikanischen Erfahrungen ein reiches und in mancher Hinsicht unmögliches Lehrangebot entwickeln. Unmöglich war es nicht nur, weil sich die Humboldt-Universität mit ihm einen radikalen Kapi-talismuskritiker leistete. In seinen Veranstaltungen war darüber hinaus von einer Spiritualität die Rede, die nicht ideologiekritisch destruiert oder historisiert werden sollte, sondern auf ihre metaphysischen Grundlagen und individuell zu vollziehende Akte der Schau hin befragt wurde. Die Themati-sierung der Begriffe Nation, Gemeinschaft, Deutschland zusammen mit Solidarität, Internationalismus und Gerechtigkeit tat ihr Übriges, um Bahros wissenschaftliche Reputation und intellektuelle Zurechnungsfähigkeit endgültig in Frage zu stellen. Am 9. November 1989 erinnerte Bahro in einem Text an Bechers Deutschlanddichtung und die darin zum Tragen kommende Unterscheidung zwischen „wahrem“ und „falschem“

Deutschland zur Wahrung von Bechers „Identität als deutscher Dichter“

(Bahro 1990, S.11). So zitierte Bahro aus Bechers „Tränen des Vaterlandes“

59 Rudolf Bahro: Plädoyer für schöpferische Alternative, Frankfurt a. M. 1980.

die Zeilen, die er bereits 30 Jahre zuvor in seiner Diplomarbeit zu Bechers Deutschlanddichtung60 verwand hatte:

„Du mächtig deutscher Klang, Bachs Fugen und Kantaten, Du zartes Himmelsblau, von Grünewald gemalt,

Du Hymne Hölderlins, die feierlich uns strahlt!

O Farbe, Klang und Wort, geschändet und verraten“ (Bahro 1990, S.111).

Schwerer noch wog Bahros Abkehr von der Idee einer wissenschaftlich-diskursiven Philosophie hin zu dem alten Traum, Erkenntnisse auch mittels intellektueller Anschauung gewinnen und somit die Subjekt-Objekt-Dicho-tomie überwinden zu können.

Bei Marx sollte die Philosophie in revolutionäre Praxis aufgehoben werden, bei Hölderlin in poetisches Schaffen. Bahro synthetisierte beides zu einer ganz und gar unzeitgemäßen Art des Nachdenkens über letzte Gründe und das Handeln daraus. Er schöpft dabei insbesondere aus Marx‘ früheren Schriften, aus den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ und den

„Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“. Die darin enthaltene

„Idee einer schöpferischen Praxis für alle“ (Marx 1953, S. 387), in der der Mensch das „absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen“

betreibt, „sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert“ (ebd.), galt Bahro dabei als ein idealer Zielpunkt für die gesellschaftliche Entwicklung. Unter dem Einfluss Hölderlins verstand Bahro unter Totalität allerdings nicht einfach eine in wissenschaftlicher oder verstandesmäßiger Anschauung gegebene Ganzheit und Vereinigung getrennter aber zusammengehöriger Teile. Zu den schöpferischen Anlagen des Menschen zählte er ebenso wie Hölderlin61, die Möglichkeit mittels ästhetischer Erfahrung oder intellektueller Anschauung einen Zugang zum absoluten Sein selbst zu gewinnen. Mit Hölderlin erhalten „Arbeit“ in ihrem schöpferischen Aspekt und „Natur“ als selbstgesetzliches Sinnbild reiner Verhältnisse damit eine metaphysische Bedeutsamkeit.

Zur Bestimmung des schöpferischen Elements in der Selbstproduktion eines Menschen, der nicht in seine gesellschaftlichen Einzelfunktionen und Rollen zerfällt, griff Bahro gleich in mehrfacher Hinsicht implizit auf Hölderlin zurück; u.a. auf dessen Idee einer Poesie als eines geistigen Ausdrucks tätig-schöpferischen Lebens, einer Poesie, die „als lebendige Kunst [...] zugleich aus Genie und Erfahrung und Reflexion hervorgeht und idealistisch und

60 Rudolf Bahro: Johannes R. Becher und das Verhältnis der deutschen Arbeiterklasse und ihrer Partei zur nationalen Frage unseres Volkes, 1959, philosophische Bibliothek der Humboldt-Universität.

61 Hierzu und zur Unterscheidung von Ganzem und absolutem Sein bei Hölderlin vgl. das Fragment „Urtheil und Seyn“: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in 2 Bänden, München Wien 1992, Bd. II, S. 49f.

systematisch und individuell ist“ (Hölderlin 1992, S. 792). In der Darstellung eines „harmonisch Entgegengesetzten“ (ebd., S. 83), bestimmt von dem

„Widerstreit von Individuellem, Formalem (Kant) und Reinem“, findet der Einzelne seine schöpferische Mitte, seine „Identität im Wechsel der Gegen-sätze“ (ebd., S. 399). Ein solcherart gewachsenes Selbstverständnis, das sich dialektisch selbst zu fassen weiß und daraus handelt, musste im realen Sozialismus verdächtig sein. Das subjektive Bestehen auf Individualität war im realen Sozialismus unmittelbar politisch, und wenn damit der Entzug der eigenen Biographie der staatlichen Kontrolle einherging, musste dies bereits als Provokation aufgefasst werden. Die metaphysischen Voraussetzungen dessen konnten sich freilich erst offen zeigen und frei weiter entwickeln, als Bahro die DDR verlassen hatte.

Gemeinhin wird die spirituelle Wende in Bahros Entwicklung Mitte der 80er Jahre als ein radikaler Bruch verstanden. Bei genauer Lektüre seiner in der DDR entstanden Texte, z.B. seines bekanntesten Buches, der „Alternative“, unter Hinzuziehung von später im Manuskript gestrichenen Passagen und seines ersten längeren Essays, eines Textes zum künstlerischen Selbstver-ständnis Beethovens, zeigt sich jedoch deutlich die frühe Anlage der späteren Entwicklung, als einer offenen Wendung zu einer therapeutisch verstandenen Spiritualität, die sich wie Hölderlin am „Ideal einer Volkserziehung“ (ebd., S. 569) ausrichtete.