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Das Beispiel Beethoven

Rudolf Bahro: Eine Kreuzung von deutscher Klassik und russischer Revolution?

5. Das Beispiel Beethoven

Im Folgenden werde ich auf Bahros 1967-69 geschriebenen, aber erst 1979 veröffentlichten Beethoven-Essay62 eingehen, in dem er sich am Beispiel Beethovens mit der 1789er Generation auseinander setzte. Er diskutierte aus der Erfahrung des Prager Frühlings und mit Blick auf seine eigene Situation als der einer verratenen Revolution, verschiedene Möglichkeiten der ehemals revolutionär gestimmten Jugend, auf das Ende der Französischen Revolution und die Enttäuschung der daran geknüpften Hoffnungen zu reagieren. Am Beispiel Beethovens entwickelte er sein Ideal von Unbeugsamkeit, Despotenhass, Freiheitsliebe und aufgeklärter Religiosität.

Thomas Mann fragte bereits zu Beethoven mit Richard Wagner: „Was hat dieser Mann gesehen! Was hat er gesehen! Er bleibt der ganz Unvergleich-liche! Er ist nur als Wunder zu verstehen“ (Mann 1977b, S. 118). Auch Bahro fragt in seinem Essay nach dem, was Beethoven sah und was ihn zum

62 Rudolf Bahro: ... die nicht mit den Wölfen heulen. Das Beispiel Beethoven und sieben Gedichte, Köln 1979.

Klassiker macht, allerdings ohne ihn dabei zu entrücken, sondern das Entrückende an ihm und seiner Musik im Vergleich zur klassischen deutschen Philosophie und Poesie - genauer: von deren Rändern her - zu thematisieren. Bahro, wieder von Thomas Mann auf eine verheißungsvolle Spur gesetzt, versuchte zuerst aus der Arietta im op.111 den von Mann verspürten „mysteriösen Hauch von Todesnähe und jenseitiger Abstraktion“

(Bahro 1979, S. 67) zu vernehmen - er hörte davon aber zunächst nichts.

Der Teil von Bahros Essay ist hier von besonderem Interesse, in dem er das religiöse Moment beim späten Beethoven zu deuten versucht. Bahro will dieses von allen „charakteristischen Sektiererbewegungen, von denen viele über den religiösen Appell den Geist der Revolution wiederzubeschwören suchen“ (ebd., S. 80), getrennt wissen. Bei Schelling, Hegel, Hölderlin und Fichte geht er im Einzelnen deren „Neigung zu religiöser Mystik“ nach, ohne sie „von vornherein negativ zu deuten“ (ebd.). So sah er im konkreten Falle doch nicht Verrat an Überzeugungen, sondern eine Möglichkeit zu „deren Rettung“ (ebd., S. 81). In diesem Sinne deutete Bahro zumindest die Meta-morphose von Fichtes „Wissenschaftslehre“ und die Ursache und Aufgabe der „Missa solemnis“ Beethovens. Bahro ging sogar so weit, dieses Phänomen mit dem „Aufbranden mystischer Religiosität“ bei etlichen sich an marxistische, proletarische Positionen annähernden, „in idealistischer Tradition aufgewachsenen linksbürgerlichen Künstlern“ (ebd., S. 80) und Intellektuellen, wie z.B. Becher, zu vergleichen. Damit lieferte er auch unbewusst die Interpretationsfolie für seine eigene Entwicklung - stand er doch als ein „einer überindividuellen, sozusagen metaphysisch verbürgten Zuversicht“ (ebd., S. 82) Bedürftiger selbst inmitten dieser Tradition. Zu den späten Klaviersonaten Beethovens heißt es weiter, diese seien „Werke des Übergangs, des Suchens, denn die „Rekonstruktion der Individualität“, nach dem Scheitern der Träume, ist noch nicht vollendet“ (ebd., S. 88). Sie markieren einen nicht mehr heroischen und mit satanischen Zügen ausge-statteten, aber doch ungebrochenen Beethoven bei der „Anstrengung, sich herauszuarbeiten aus dem Zwang der Konkurrenz, den ewigen Feind mit seinen Mitteln zu schlagen und in demselben Maße in uns das Ziel zu vernichten“ (ebd., S. 112). Der späte Beethoven erscheint als Beispiel von nicht machtbesessener Schöpferkraft, die Bahro auch zum Ideal seines Wirkens in der politischen Auseinandersetzung und Konfrontation mit dem System des bürokratischen Sozialismus machen wollte. Getreu der Einsicht:

„Wer den Menschen in die Freiheit führen will, muss sie in sich vorgebildet haben, sonst wird er alles nach seinem Bilde verderben“ empfand Bahro

„Beethovens letzte Musik so prometheisch - wie seine früheste“ (ebd., S.

113). Mit Blick auf Beethovens Religiosität zitierte Bahro Robespierres Vision einer politischen Religion: „Lassen wir die Priester und kehren wir

zur Gottheit zurück [...]. Wie ist doch der Gott der Natur so anders als der Gott der Priester! Ich kenne nichts, was dem Atheismus so gleicht wie die Religion, die sie schufen [...]. Der wahre Priester des Höchsten Wesens ist die Natur; sein Tempel die ganze Welt, sein Glaube die Tugend, seine Feste die Freude eines großen Volkes, das sich in seinem Angesicht versammelt, um die zarten Bande der allumfassenden Brüderlichkeit fester zu knüpfen und ihm die Ehrfurcht empfindsamer, reiner Herzen zu bezeigen“. Und Bahro schließt mit: „Das ist Beethovens Religion“ (ebd., S. 77). In seinem Bestreben, sich mit Beethoven in Zeiten der Reaktion zu identifizieren, sich an seinem Beispiel aufzurichten und damit selbst zu moralischer Unbeug-samkeit und revolutionärer Tat zu ermutigen, verfällt Bahro letztendlich selbst in die Form religiöser Erinnerung eines Ideals und der Beschwörung einer Utopie. Wenn ich nun behaupte, dass es Bahro eigentlich um eine Tempelreinigung ging und er tatsächlich in den dazugehörigen religiösen Kategorien dachte, so soll das nicht bedeuten, dass er unvermittelt religiös wurde. Vielmehr war seine politische Einstellung von vorn herein eine religiöse, wie die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus ja auch selbst deutlich religiöse Züge trägt. Da auch die dazugehörige Gesellschaft eher einem Gottesstaat glich denn irgendeiner der Selbstdarstellungen von sozialistischer Demokratie bis Diktatur des Proletariats, ist Bahros religiöse Wendung in dieser Hinsicht nur konsequent.

6. Gedichte

Zusammen mit dem Essay veröffentlichte Bahro sieben Gedichte. Gereifte, aber noch durchaus naive Subjektivität im Sinne Schillers und ein kämpferisch und melancholisch gestimmter Optimismus sprechen aus dem Gedicht „Erinnerung an Lenins Gleichnis vom Besteigen hoher Berge“ von 1974:

„Abwärts ist vorwärts. Verfluchte Pyramide, die wir/ besteigen statt unseres Berges. Eines Morgens,/ wenn wir zurückgehen, werden wir seinen Grat wieder sehen,/ an der alten Stelle, in wieder erreichbarer Ferne,/ und klüger beginnen./ Denn von dem einen Weg wissen wir nun,/ er führt nicht ans Ziel“ (ebd., S. 131).

Bahro bezieht sich neben Lenins Gleichnis auf ein Gedicht seines Freundes Volker Braun, in dem es heißt: „Jetzt steigen wir über Mitarbeiter/ Erobernd einen Platz auf der Leiter/ Wo wollen wir eigentlich hin./ Ist das der überhaupt der Berg, den wir beehren/ Oder eine ägyptische Pyramide“

(Herzberg/Seifert 2002, S. 203f.). In Lenins Gleichnis wird der Abbruch

einer Expedition auf einen noch unerforschten Berg geschildert - genauer:

der vor einem neuen Anlauf liegende beschwerliche Rückweg - und die Kommentare der Zögerlichen und im Tal Zurückgebliebenen, froh in ihren Bedenken, doch Recht behalten zu haben (Lenin 1982, S. 188ff.). Anders verwendet Bahro die Metapher vom Berg. Sicherlich steht sie auch bei ihm für das noch unerreichte Ideal einer befreiten Gesellschaft, in der die Inte-ressen einzelner nicht mehr über den InteInte-ressen vieler stehen und mit Mitteln der Ausbeutung und Unterdrückung durchgesetzt werden. Das Besondere an Bahros Sicht ist jedoch, dass er nicht nur den aktuell eingeschlagenen Weg zu dessen Erreichung als einen Irrweg ansieht. Für ihn ist das Ziel auf dem eingeschlagenen Weg nicht nur unerreichbar, sondern als visionäres Inbild der Entwicklung aus dem Bewusstsein der Massen verschwunden. Jeglicher Schritt, egal in welche Richtung er auch sei, ohne die gesellschaftliche Praxis im Ganzen und die diese fundierende ökonomische Struktur dabei in Frage zu stellen und revolutionär umzuwerfen, musste demnach als ziellos erscheinen. Damit formulierte Bahro poetisch seine Kopernikanische Wende im Denken. Die von ihm verallgemeinerte Erfahrung bedeutete, dass der Sozialismus als eine in der Zeit nach Verwirklichung strebende Idee nur noch in seiner Negativität präsent war, im individuell erlebten Schmerz an dessen realexistierenden Nichtigkeit. Der Grundtenor von Bahros ästhe-tischen Schriften und seiner eigenen Gedichte der 70er Jahre ist vielleicht treffend mit revolutionärem Trotz zu bezeichnen. Der 68er Bahro wollte heldenhaft leben, indem er sich selbst und seiner Zeit beständig ihr Ideal vorzuhalten suchte. Als 68er des Prager Frühlings ist sein Schicksal durchaus mit der Generation der gescheiterten Revolution von 1789 zu vergleichen. Es verwundert nicht, dass sich Bahro auch genau deren Vertretern nahe wähnte.

Allerdings gab er die Revolution noch nicht verloren und war ganz und gar nicht gewillt, sich einer realsozialistischen oder kapitalistischen Restauration zu ergeben. Hölderlin im Sinne, der schrieb: „Der Trieb, aus unserm Wesen etwas hervorzubringen, was zurückbleibt, wenn wir scheiden, hält uns doch eigentlich am Leben“ (Hölderlin 1992, S. 621), formulierte Bahro seinen eigenen „Anspruch“ in dem gleichnamigen Gedicht folgendermaßen:

„Uns, jetzt spricht nichts mehr frei, wenn wir versanden./ Die Zeit denkt unbarmherzig groß von uns:/ Soll jeder ausziehn, ihr Ruhm zu erwerben,/ der noch in fernsten Zeiten widerhallt!/ Ich will - im Leben, gar nicht in der Kunst - einer von denen sein, die zu frühe sterben/ Und würden sie gleich hundert Jahre alt“ (Bahro 1962)

Und weiter, in dem Gedicht „Zwischenbilanz“:

„Ja, es war Zeit, ein wenig Mensch zu werden/ Im Kleinen beinah und im Großen ganz/ Das Lügen zu verlernen. Die Bilanz/ weist erste Früchte aus,

die sich bewähren:/ „Ansätze...“ Würden sie mich jetzt begraben -/ ob es genügte, groß gewollt zu haben?“ (ebd.)

Bahro kommt vom eigenen Ungenügen gegenüber den eigenen Ansprüchen zu einer Verallgemeinerung dieser Erfahrung und dann zu einer Verallge-meinerung auch des Anspruches selbst, um sich nach der indirekten Appellation an alle, sich und allen, mit denen er sich angesprochen und somit nicht vereinzelt weiß, zu versprechen, diesem Anspruch auch entsprechen zu wollen. Das Motiv, am eigenen Leib erfahrenes idealisches Sein dichterisch in die Welt und das Sein selbst zu rufen, auf dass es von dorther einem anrufend entgegenschalle, findet sich auch in der Dichtung Hölderlins. Es findet sich ebenfalls in der Ruf- und Berufungsphilosophie Martin Heideggers, der den späten Bahro stark beeinflusste und welcher wiederum von Hölderlins dialogischer Seinslyrik beeinflusst war. Die oftmals als irrational und konservativ abgetane und in dieser Einseitigkeit missverstandene Hinwendung Bahros zu spätbürgerlichen Denkern wie Martin Heidegger oder Max Scheler erscheint somit eher als die konsequente Ausformung eines frühen Entwicklungsimpulses, der sich in verschiedenen politischen Situationen an für die Reflexion ihrer Zeit relevanten Geistern abarbeitet und sich in diesen wiederzuerkennen suchte.

Die Hoffnung von Thomas Mann auf ein Miteinander von bürgerlicher Kulturidee und sozialistischer Gesellschaftskonzeption führte jene, die sie unter den Bedingungen des realen Sozialismus ernst nahmen und sich zu eigen machten, entweder in die Resignation, wie im Falle von Bahros Lehrer Wolfgang Heise, in die Ablehnung von beiden Möglichkeiten, wie z.B. bei Hans-Peter Krüger, einem anderen Schüler Heises oder in eine neue politische Romantik, wie bei Bahro zu beobachten63. Sicher ein Befund über den sich zu streiten lohnt!

Literatur

Bahro, Rudolf: Johannes R. Becher und das Verhältnis der deutschen Arbeiterklasse und ihrer Partei zur nationalen Frage unseres Volkes, 1959, philosophische Bibliothek der Humboldt-Universität,1959.

Bahro, Rudolf: Drei Gedichte dem zweiten Kosmonauten der Sowjetunion gewidmet, in: Form, Nr. 20, Berlin, 1963.

63 In einem unveröffentlichtem Text von 1994 findet sich die dann folgerichtig erweiterte Formulierung:

„[...] meine Biographie [...] wurzelt [...] in dem Kreuzungspunkt zischen deutscher Klassik/Romantik und russischer Revolution“ (Bahro 1995).

Bahro, Rudolf: ... die nicht mit den Wölfen heulen. Das Beispiel Beethoven und sieben Gedichte, Köln, 1979.

Bahro, Rudolf: Plädoyer für schöpferische Alternative, Frankfurt a. M., 1980.

Bahro, Rudolf, in: Jochen Kirchhoff: Nietzsche, Hitler und die Deutschen. Die Perversion des Neuen Zeitalters, Berlin, 1990.

Bahro, Rudolf: ZUERST UND ZULETZT ALSO HÖLDERLIN - was für eine Art Vernunft hat Wolfgang Heise mit seinem Vermächtnisbuch Kulturwert beigemessen; In: Organ für Ästhetik, Bd. 6, Berlin, 1993, S. 29-45.

Bahro, Rudolf: Das Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR, Bahro-Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, 1995.

Heise, Wolfgang: Hölderlin. Schönheit und Geschichte, Berlin, 1988.

Herzberg, Guntolf; Seifert, Kurt: Rudolf Bahro - Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie, Berlin, 2002.

Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe in 2 Bänden, München u. Wien, 1992, Bd. II.

Irrlitz, Gerd: Wolfgang Heise und eine der Formen geistiger Opposition in der DDR. Einheit und Differenz im Denken von Karl Marx; In: Geistes- und Sozialwissenschaften - wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, 8/1991, S. 21-35.

Lenin, Wladimir I.: GW, Bd. 33, Berlin 1982.

Mann, Thomas: Kultur und Sozialismus, Essays Bd. II, Frankfurt a. M., 1977a.

Mann, Thomas: Essays Bd. III, Frankfurt a. M,. 1977b.

Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, 1953.

Tobias Pieper

Die Lebensrealität von Flüchtlingen in der