• Keine Ergebnisse gefunden

Zur Doppelbestimmtheit des intellektuellen Anfangs bei Rudolf Bahro Was kann man sich nun unter einem solchen Versuch vorstellen, Disparates

Rudolf Bahro: Eine Kreuzung von deutscher Klassik und russischer Revolution?

3. Zur Doppelbestimmtheit des intellektuellen Anfangs bei Rudolf Bahro Was kann man sich nun unter einem solchen Versuch vorstellen, Disparates

in Zeiten nationaler Not zusammenführen zu wollen? Zunächst kann man sich eine solche Zusammenschau nur schwerlich als einen rein intellektu-ellen Prozess der beiderseitigen Kenntnisnahme, gegenseitigen Abwägung, Vergleichung und ggf. Synthese im reflexiven Bewusstsein eines Einzelnen denken. Das soll nicht heißen, dass Marx oder Hölderlin nicht auf einer begrifflichen Ebene zu fassen sind oder auf einer solchen nicht mit Gewinn miteinander in Beziehung gesetzt werden könnten. Da es sich hier aber, um mit Max Scheler54 zu sprechen, um kulturkreishaft und national gebundene Weltanschauungselemente handelt, die zwar rationalisiert, aber als geistige Phänomene nicht nur rational angesprochen werden können, kann Thomas Mann eine rein verstandesmäßige Begegnung zwischen diesen auch nicht gemeint haben. Die weltanschaulichen Motive von Marxens Denken - z. B.

in dessen messianischen Momenten eines innerweltlichen Erlösungsstrebens - müssten vielmehr, genauso wie die poetologischen und metaphysischen Implikationen in Hölderlins Werk, als Chiffren der beiden nach Mann charakteristischen deutschen Geisteszustände in einem Individuum gleicher-maßen habituiert sein, um sich auf einer persönlichen, existentiellen Ebene überhaupt erst gleichursprünglich begegnen zu können. Freilich ein äußerst unwahrscheinlicher Fall - und doch kann man fragen, ob es späte Erfül-

54 Vgl. Max Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft, GW, Bd. 8, Bern und München 1960.

lungen dieses von Mann sicher nicht allzu wörtlich gemeinten, hier aber in diesem Sinne verstandenen, Ausspruchs tatsächlich gegeben hat. In dieser Hinsicht spreche ich im Folgenden von Rudolf Bahro.

Es ist festzustellen, dass sich Bahro dieser doppelten Bestimmtheit durchaus bewusst war, wenn er seinen geistigen Werdegang als eine Kreuzung von deutscher Klassik und russischer Revolution bezeichnete. Zu einer expliziten Selbstbesinnung und Selbstbestimmung in dieser Richtung ist Bahro auf seiner lebenslangen Suche nach der eigenen Bestimmung jedoch nicht gelangt. Die wechselseitigen und wechselnden Einflüsse von Marx und Hölderlin lassen sich jedoch problemlos durch alle Schriften Bahros hindurch nachweisen. Zudem weisen seine biographischen Selbstzeugnisse und Gedichte eindeutig in diese Richtung.

Bahros intellektuelle Entwicklung verlief von früher Jugend an zwischen den Vertretern klassischer deutscher Philosophie, literarischer Klassik und früher Romantik einerseits, andererseits kam er unabhängig vom Schulstoff schon früh mit den damaligen Klassikern des Marxismus-Leninismus in Kontakt.

Auf der Suche nach Herkunft und Zukunft gehörten Anfang der 50er Jahre nicht eben vordergründig proletarische Denker wie Goethe, Schiller, Fichte, Hegel und auch Hölderlin neben Marx, Lenin und Stalin und deren Epigonen zu den intellektuellen Einflüssen, denen man im geistigen Klima in der jungen DDR begegnete. Bürgerliche Philosophie des 20. Jahrhunderts war verpönt und wurde auch von Bahro, der 1954-59 an der Humboldt-Uni-versität Philosophie studierte, nur skizzenhaft und unter Vorbehalt zu Kenntnis genommen.

Bahros Lehrer Wolfgang Heise verkörperte in seiner Rezeption der deutschen Klassik aus marxistischer Perspektive einen Typus von Intellektu-alität, der sich auch Bahro nach seinem Studium verpflichtet fühlte. Bahros früher Kontakt mit den beiden genannten geistigen Polen wurde durch Heises Einfluss intellektuell, d.h. selbstkritisch geläutert und auf eine kulturell breitere Basis gestellt. Heises Art, „seine Vision des sozialistischen Kulturprozesses [...] in Schillers Sprache“ versteckt, aber für den Hörenden deutlich vernehmbar „durchscheinen“ (Bahro 1993, S. 31) zu lassen, machte auf Bahro einen bleibenden Eindruck. Die zitierte Passage Thomas Manns zitierte Bahro später selbst mit Blick auf seinen Lehrer und in Ansehung von dessen unvollendet gebliebenen Buches über Hölderlin55. Bahro sah darin Heises Vermächtnisbuch und eine späte Rückwendung zu Hölderlin: „Sein letztes Buch zielte unverwandt auf jenen Ort, an dem, nach Thomas Mann

„Karl Marx den Friedrich Hölderlin gelesen“ hätte - und umgekehrt der Hölderlin den Marx. [...] Mir scheint, dass von den vielen Perspektiven, die

55 Wolfgang Heise: Hölderlin. Schönheit und Geschichte, Berlin 1988.

man auf Heise hin haben kann, Hölderlin die wichtigste und am meisten erschließende ist: das Frühe wiegt am schwersten, wenn man erkennen will, und dann wieder das Letzte. So lässt sich an Hölderlin einlösen, was Heises Begriff der Vernunft umfasst“ (Bahro 1993, S. 32). Inwieweit Bahro hier möglicherweise einem Missverständnis aufsaß, muss an anderer Stelle geklärt werden. Festzuhalten bleibt, dass Bahro bei sich und bei Heise eine

„kritische Identifikation mit Hölderlin“ wie auch die „Gemeinsamkeit einer frühen Identifikation“ durch seinen „Hyperion“ (ebd.) zu finden glaubte. Er stellt damit nicht nur Wolfgang Heise, sondern auch sich selbst in den von Thomas Mann entworfenen geistigen Horizont.

Zum Verhältnis beider ist noch anzumerken, dass Bahro sich zunächst und unter Heises Einfluss in einem subtilen Gesellschaftsdenken über den Umweg von ästhetischer und kulturwissenschaftlicher Reflexion versuchte.

Später, nach 1968, wechselte Bahro aus dem informellen Lager der inner-marxistischen Opposition, wovon der Kreis um Wolfgang Heise ein Zentrum56 darstellte, zu konspirativ vorbereiteter offener Gegnerschaft zum politbürokratischen System. Mit einer kritischen Schrift, die sich nicht mehr zweideutig gibt und die keinerlei Zweifel über die wahre politische Gesinnung des Verfassers lässt, versuchte er sich an die Öffentlichkeit zu wenden und warf den Dogmenverwaltern des Marxismus-Leninismus den Fehdehandschuh entgegen. Unter direkter Bezugnahme auf die dem heutigen Verständnis nach kulturwissenschaftlichen und politisch-ästhetischen De- batten sprach er das aus, was u.a. bei Heise nur mitgedacht wurde. Kritische Gespräche unter Gleichgesinnten waren für Bahro zwar Orte der Offenheit und Wahrheit, doch hat ihn das nach außen gerichtete Versteckspiel in einer Weise geschmerzt, die ihn veranlasste, aus den intellektuellen Zirkeln und privaten Arbeitsnischen herauszutreten, um Wahrheit zu leben. Die

„Unsichtbare Kirche“, von der - geistige Emanzipation im Sinn - die drei Tübinger Stiftsstudenten Hegel, Hölderlin und Schelling sprachen, hatte Bahro im Sinn und fühlte sich diesem unsichtbaren Bund verpflichtet, als er ins Offene trat. Mit dem Bekennermut eines religiösen Reformators und unter der Fahne des verloren geglaubten sozialistischen Ideals wechselte Bahro damit 1977 in das „Lager“ der aus heutiger Perspektive tragischen Helden der marxistischen Opposition57 und wusste dabei Hölderlin und zumindest den jungen Marx an seiner Seite.

56 Wenn hier von einem „Kreis“ die Rede ist, dann nicht in dem Sinne, dass es sich um eine geschlossene Gruppe von Künstlern und Intellektuellen handelte, die sich austauschten oder auch nur miteinander bekannt waren. Wolfgang Heise selbst, die Gespräche mit ihm und die vorrangig von ihm erfahrene Inspiration war das Verbindende einer ansonsten sehr heterogenen Gruppe wacher Geister.

57 Vgl. hierzu Gerd Irrlitz: Wolfgang Heise und eine der Formen geistiger Opposition in der DDR.

Einheit und Differenz im Denken von Karl Marx; In: Geistes- und Sozialwissenschaften – wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, 8/1991, S. 21-35.