• Keine Ergebnisse gefunden

Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) .1 Grundsätzliche Informationen

Im Dokument DA-Asyl Stand 21.02.2019 (Seite 170-176)

Familieneinheit nach § 14a AsylG

3. Wahrscheinlichkeitsmaßstab/Vorfluchtgründe

5.2 Bestimmte soziale Gruppe

5.2.1 Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) .1 Grundsätzliche Informationen

Die an Mädchen und Frauen vorgenommene Genitalverstümmelung (Synonym: (Zwangs-) Beschneidung; internationale Bezeichnung: Female Genital Mutilation (FGM)) führt zu

gravierenden physischen und psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen bis hin zur ernsthaften Gefahr, an dem Eingriff und seinen Folgen zu versterben.

Weibliche Genitalverstümmelung umfasst nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) alle Verfahren zur teilweisen oder vollständigen Entfernung der äußeren weiblichen Genitalien oder deren Verletzung aus nichtmedizinischen Gründen.

Die verschiedenen Formen und Ausprägungen weiblicher Genitalverstümmelung wurden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in vier Typen eingeteilt, auch wenn eine eindeutige Zuordnung in der Praxis schwierig sein kann:

• Typ I

Partielle oder vollständige Entfernung der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut (Klitoridektomie)

• Typ II

Partielle oder vollständige Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen, mit oder ohne Entfernung der großen Schamlippe (Exzision)

• Typ III

Verengung der vaginalen Öffnung mit Herstellung eines bedeckenden, narbigen Hautverschlusses durch das Entfernen und Zusammenheften oder -nähen der kleinen und/oder großen Schamlippen, mit oder ohne Entfernung der Klitoris (Infibulation oder „Pharaonische Beschneidung“)

• Typ IV

Alle anderen Eingriffe, die die weiblichen Genitalien verletzen und keinem medizinischen Zwecke dienen, z.B.: Einstechen, Durchbohren, Einschneiden, Ausschaben und Ausbrennen oder Verätzen.

Weitere allgemeine Informationen (mit HKL-Bezug bei GIZ und TERRE DES FEMMES) zum Thema unter nachfolgenden Links:

 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/genitale-verstuemmelung-bei-frauen-und-maedchen/80720

 Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH https://www.giz.de/fachexpertise/html/8837.html

 TERRE DES FEMMES

http://www.frauenrechte.de/online/index.php

 Deutsches Netzwerk zur Überwindung weiblicher Genitalverstümmelung INTEGRA https://www.netzwerk-integra.de/

 stop mutilation e. V.

http://www.stop-mutilation.org/informationen.asp

 WHO (umfangreiche Informationen in englischer Sprache, auch mit HKL-Bezug) http://www.who.int/reproductivehealth/topics/fgm/en/

5.2.1.2 Rechtliche Bewertung

Der Verfolgungsgrund einer bestimmten sozialen Gruppe liegt bei Frauen und Mädchen vor, die bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland befürchten müssen, bei Nichtvornahme einer (auch erneuten) Genitalverstümmelung von der dortigen Umgebungsgesellschaft generell diskriminiert, geächtet oder ausgestoßen zu werden (zu weiteren Einzelheiten siehe DA-Asyl, Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe).

Liegt ein Verfolgungsgrund nach dieser Definition vor und kann eine Antragstellerin glaubhaft machen, dass ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Genitalverstümmelung droht, ist regelmäßig Flüchtlingsschutz festzustellen, wenn kein Schutzakteur besteht und kein interner Schutz gegeben ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie einer Bevölkerungsgruppe angehört, die diese Praxis ausübt und sie nicht in einem so fortgeschrittenen Alter ist, dass die Vornahme der Zwangsbeschneidung ausgeschlossen erscheinen lässt.

Bei Fallkonstellationen mit Bezug zu FGM sind staatliche Schutzmöglichkeiten (§ 3d AsylG) und die Verfügbarkeit internen Schutzes (§ 3e AsylG) sorgfältig zu bewerten (vgl.

jeweilige HKL-Leitsätze, zu den grundsätzlichen Voraussetzungen siehe DA-Asyl).

Neben den allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen sind insbesondere die folgenden Aspekte bei der Prüfung staatlicher Schutzmöglichkeiten zu berücksichtigen:

• Werden gesetzliche Bestimmungen zum Schutz vor FGM in der Praxis umgesetzt und ist der Schutz für die Antragstellerin auch zugänglich?

• Die Möglichkeit einer vorübergehenden Aufnahme in einer Schutzeinrichtung erfüllt nicht die Voraussetzungen für die Annahme ausreichender staatlicher Schutzmöglichkeiten i. S. v. § 3d AsylG.

Bei der Frage nach internem Schutz ist insbesondere zu prüfen, ob in einem Landesteil, in dem die Betroffene keiner Gefahr der Zwangsbeschneidung ausgesetzt ist, auch tatsächlich eine Existenzmöglichkeit besteht. Auf Grund der Gesellschaftsstruktur der betroffenen Länder sind Frauen und Mädchen dort im Allgemeinen wirtschaftlich und sozial auf den Familienverband angewiesen. Ist die Betroffene im sicheren Landesteil allein und mangels Existenzgrundlage gezwungen, wieder zu ihrer Großfamilie zurückzukehren, liegen die Voraussetzungen für internen Schutz nicht vor. Im Rahmen der Bewahrung der kulturellen Tradition durch die (Groß-)Familie wird die Gefahr, der Genitalverstümmelung unterzogen zu werden, ganz wesentlich von den eigenen Angehörigen ausgehen.

5.2.1.3 Rechtliche Bewertung bei bereits erfolgter FGM

Nach Art. 4 Abs. 4 QualfRL stellt eine bereits erlittene Vorverfolgung (hier: FGM) einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass eine begründete Furcht vor erneuter Verfolgung besteht. Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe gegen diese Regelvermutung sprechen.

Der Umstand, dass eine bereits erlittene Genitalverstümmelung ihrer Natur nach eher ein einmaliger Initiationsritus ist und daher nach Vollzug grundsätzlich keine dauerhafte, immer wieder akut werdende Bedrohung darstellt, kann grundsätzlich ein stichhaltiger Grund für das Fehlen einer Wiederholungsgefahr sein. Allerdings ist zu beachten, ob für das Herkunftsland der Antragstellerin Erkenntnisse oder Hinweise darüber vorliegen, dass nach einer bereits vorgenommenen FGM erneut ein solcher Eingriff drohen könnte (vgl.

HKL-LS oder glaubhafter individueller Vortrag). Dies kann z. B. vor einer Heirat oder nach der Geburt eines Kindes (insbesondere bei Typ III der FGM-Formen wahrscheinlich) der Fall sein.

Bei einer erneut drohenden FGM liegen somit keine stichhaltigen Gründe gegen die Regelvermutung i. S. v. Art. 4 Abs. 4 QualfRL vor, so dass die weitere rechtliche Bewertung nach den oben beschriebenen Grundsätzen erfolgt.

Bei erfolgter Genitalverstümmelung und fehlender Gefahr einer erneuten FGM sind die Folgen des erlittenen Eingriffs im Rahmen krankheitsbedingter Abschiebungsverbote i. S.

v. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG aufzuklären und zu berücksichtigen (zur Prüfung s. DA-Asyl, Krankheitsbedingte Abschiebungsverbote, zu fachärztlichen Stellungnahmen s. u.).

5.2.1.4 Ergänzende Hinweise zur Anhörung

Es besteht grds. die Pflicht zur Anhörung der Eltern bei nachgeborenen Töchtern unter sechs Jahren, wenn ein Bezug zu FGM besteht oder zu vermuten ist.

Diese Regelung erfolgte mit Blick auf das Kindeswohl (s. auch „Maßnahmen zum Schutz von Minderjährigen im Bundesgebiet“) und die Möglichkeit, im Rahmen der Anhörung abzuklären, ob für die Tochter bei Rückkehr in das Herkunftsland die beachtliche Gefahr einer FGM besteht und ob die Eltern in der Lage und willens sind, ihre Tochter vor einer Genitalverstümmelung zu schützen.

Die DA-Asyl enthält im Kapitel „Anhörung“ bei bestimmten Fallgruppen Sonderregelungen;

hierzu gehört auch der mögliche Ausschluss der Eltern von der Anhörung ihrer Kinder bei Bezug zu FGM.

FGM ist in bestimmten Herkunftsländern als gesellschaftliche Norm fest verankert und gleichzeitig tabuisiert, so dass Mädchen und Frauen dieses Thema aufgrund ihrer soziokulturellen Prägung in der Anhörung häufig nicht von sich aus ansprechen können.

Wenn aufgrund von HKL-Informationen Anhaltspunkte für eine drohende Genitalverstümmelung vorliegen (z. B. wegen der Zugehörigkeit zu einer

Bevölkerungsgruppe, die diese Praxis ausübt), ist dies in der Anhörung auch ohne Vortrag durch die Antragstellerin aufzuklären. Die Antragstellerin ist hierzu mit der gebotenen Sensibilität zu befragen.

Weitere Verfahrenshinweise:

• Antragstellerinnen aus sicheren HKL: Genitalverstümmelung ist in Ghana als auch in Senegal gesetzlich verboten, gleichwohl findet FGM in nicht unerheblichem Umfang statt (vgl. HKL-LS). Auch hier gilt die Regelvermutung nach 16a Abs. 3 Satz 1 GG, § 29a Abs. 2 AsylG i. V. m. Anlage II zum AsylG (s. auch DA-Asyl, Bescheide, 5. Entscheidungen nach § 29a AsylG), so dass es grundsätzlich der Antragstellerin obliegt, die gesetzliche Annahme, dass ihr keine Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht, zu widerlegen. Gleichwohl kann die Antragstellerin bei der obligatorischen Belehrung für Antragsteller aus sicheren Herkunftsstaaten (vgl.

auch TBS AH 111) auf die grundsätzlich bestehende Relevanz einer FGM für das Asylverfahren hingewiesen werden, um ihr den Einstieg in das Thema in der Anhörung zu erleichtern.

• Wortwahl: Für Antragsteller/innen aus Prävalenzstaaten ist FGM „normal“, so dass Antragstellerinnen den Begriff „Genitalverstümmelung“ (der nach einem menschenrechtsorientierten Ansatz angemessen ist) als diskriminierend empfinden könnten. In Abstimmung mit dem/der Dolmetscher/in sollte daher – wenn eine entsprechende Übersetzungsmöglichkeit besteht – gegenüber der Antragstellerin der Begriff „Beschneidung“ benutzt werden.

• Um Befürchtungen der Betroffenen zu zerstreuen, ihr Vortrag zu drohender oder stattgefundener Genitalverstümmelung könnte ihren Landsleuten in Deutschland bekannt werden, sollen die Antragstellerinnen in der Anhörung darauf hingewiesen werden, dass die Dolmetscher/innen zur Verschwiegenheit verpflichtet sind.

• Sprechen Eltern für ihre minderjährige Tochter dieses Thema nicht an, kann hierfür auch Grund sein, dass sie in Verbundenheit mit ihrer Tradition beabsichtigen, diese Maßnahme an ihrer Tochter vornehmen zu lassen und sie hiervor gar nicht schützen wollen.

Zum weiteren Vorgehen s. DA-Asyl, Anhörung, sowie Abschnitt unten „Maßnahmen zum Schutz von Minderjährigen im Bundesgebiet“.

• Die Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifisch Verfolgte ist nach den Vorgaben der DA-Asyl, Sonderbeauftragte einzubinden.

• Fachärztliche Bescheinigung: Grundsätzlich ist bei einem glaubhaften Vortrag zu einer stattgefundenen oder drohenden Genitalverstümmelung eine fachärztliche Bescheinigung einzuholen.

Aus Gründen des Kindeswohls (Vermeidung einer nicht zwingend erforderlichen gynäkologischen Untersuchung) kann die obligatorische Vorlage einer fachärztlichen Bescheinigung ausnahmsweise entfallen, wenn es sich bei der Betroffenen um ein in Deutschland geborenes Mädchen handelt und keine Hinweise vorliegen, dass bereits eine Genitalverstümmelung stattgefunden hat.

Die fachärztliche Bescheinigung sollte folgende Fragen beantworten:

➢ Hat eine FGM stattgefunden?

➢ Welcher Typ FGM nach WHO liegt vor?

➢ Gesundheitliche Folgen der FGM?

➢ Welcher Behandlungsbedarf besteht ggf.?

➢ Welche Folgen hätte ggf. eine Nichtbehandlung?

Zu weiteren Details vgl. auch: DA-Asyl, Krankheitsbedingte Abschiebungsverbote).

Es empfiehlt sich, die Antragstellerin bereits in der Anhörung unter Fristsetzung zur Vorlage dieser Bescheinigung aufzufordern.

Für die Erteilung eines Auftrages zur Erstellung einer fachärztlichen Bescheinigung bei minderjährigen Mädchen sind die Formblätter D1147 und D1148 (Einverständniserklärung des/der Sorgeberechtigten) in der MARiS-Schriftstückliste eingestellt.

5.2.1.5 Maßnahmen zum Schutz von Minderjährigen im Bundesgebiet:

Auch bei Gewährung des Flüchtlingsschutzes für ein minderjähriges Mädchen wegen drohender Genitalverstümmelung kann die Vornahme dieser Handlung - mit Duldung oder sogar auf Betreiben der Eltern - nicht ausgeschlossen werden. Um den Schutz für die Minderjährige möglichst effektiv zu gestalten und die Ernsthaftigkeit zu betonen, mit der die deutschen Behörden diese Zwangsmaßnahme unterbinden wollen, sollen die Eltern bereits in der Anhörung darauf hingewiesen werden, dass, sofern Flüchtlingsschutz gewährt werden sollte, der Flüchtlingsstatus widerrufen wird, wenn die Genitalverstümmelung zu einem späteren Zeitpunkt dennoch erfolgt. Den Eltern ist zu verdeutlichen, dass die Gesundheit ihrer Tochter durch eine fachärztliche Untersuchung erneut überprüft werden kann, da der Fortbestand des Flüchtlingsschutzes spätestens nach drei Jahren von Amts wegen zu überprüfen ist; ein Widerruf kann die Aufenthaltsbeendigung für die ganze Familie zur Folge haben. Die Eltern sind in der Anhörung ferner darauf hinzuweisen, dass Genitalverstümmelung in Deutschland auch wenn sie mit Einwilligung erfolgt, als Körperverletzung, zumeist in verschärfter Form als schwere oder gefährliche Körperverletzung, mit Freiheitsstrafe bestraft wird.

Dem Bescheid, mit dem Flüchtlingsschutz zuerkannt wird, ist ein Informationsblatt beizufügen, das die Eltern in ihrer Heimatsprache auf die rechtlichen Folgen einer nachträglichen Genitalverstümmelung hinweist.

Hinweis: Im Rahmen des Bescheidzustellungsauftrages ist dem AVS in Form einer Verfügung mitzuteilen, welches Informationsblatt dem Bescheid beizufügen ist (Dokumentennummern D1132-D1144).

Die Hinweise sind in die Anhörungsniederschrift aufzunehmen. Für die zuständige Ausländerbehörde sind die Gründe für die positive Entscheidung und die erfolgten Hinweise aus dem der Bescheidausfertigung beigefügten Anhörungsprotokoll erkennbar.

Ist ausnahmsweise keine Anhörung erfolgt, ist der Bescheidausfertigung für die Ausländerbehörde ausnahmsweise der Begründungsvermerk beizufügen.

Im Dokument DA-Asyl Stand 21.02.2019 (Seite 170-176)