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Wachsende Zentren, schrumpfende Peripherie  Die Prognosen zu Schrumpfung und Wachstum gelten nicht für alle Gemeinden und Städte in

gleichem Maße. Auch dass Dörfer schrumpfen und Städte wachsen, stimmt so nicht. 2017 lebten in Deutschland nach Angaben des BBSR 32 % der Einwohner in Großstädten mit mehr als 100.000, 29 % in Kleinstädten mit 5.000 bis 20.000 und weitere 29 % in Mittelstädten mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern. 10 % leben in Landgemeinden. Nicht nur prosperierende Großstädte wachsen. Dörfer und Kleinstädte in deren Umland ziehen ebenfalls immer mehr Menschen an.

Orte fernab der Ballungsräume dagegen verlieren immer mehr Einwohner.

Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) hat in einer Studie 19 deutsche Regionen identifiziert, die in naher Zukunft vor massiven Strukturproblemen stehen werden. Elf von ihnen liegen im Osten Deutschlands. Sie leiden vor allem unter der demografischen Entwicklung. Acht liegen in Westdeutschland und haben in erster Linie mit einer desolaten Haushaltslage zu kämpfen. Großen Investitionsbedarf in die marode Infrastruktur hat jede dieser Problemregionen.

Für Investitionen in Schulen, Straßen und öffentliche Räume blieb den Kommu-nen kaum Spielraum. Mit den Bewohnern schwindet schließlich auch die Ver-sorgung. Wenn in einer Kommune weniger Menschen leben, kaufen weniger im Laden vor Ort ein, fahren weniger Leute mit dem Bus und besuchen immer weniger Kinder die örtliche Schule. Versorgungs- und Infrastruktureinrichtungen müssen schließen. In knapp einem Drittel der in einer aktuellen Studie unter-suchten 478 Kleinstädte hat sich das Versorgungsangebot seit 2001 verringert, nicht einmal jede zehnte Kleinstadt konnte ihr Angebot vergrößern. Auch die öffentlichen Räume werden immer weniger genutzt. Denn wenn sich die nächste Schule in einem Nachbarort befindet, ziehen Kinder mit ihren Schulranzen bestenfalls auf dem Weg zum Bus durch die Straßen – oder aber sie werden von ihren Eltern gefahren.

Quelle: Destatis 2019: 14. koordinierte Bevölkerungs-vorausberechnung – moderate Annahme

Männer

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Zuwanderung in die Städte

 Wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, sind Wirtschaft und Handwerk vor allem auf Nachwuchskräfte aus dem Ausland angewiesen. Geburten und Sterbefälle lassen sich in Bevölkerungs-prognosen relativ treffsicher vorausberechnen. Beim Faktor Zuwanderung dagegen herrscht Unsicherheit. Kriege und Klimakrisen kann niemand genau vorhersagen. Die Migrationspolitik des Bundes reagiert, lässt sich jedoch nicht über Jahrzehnte vorwegnehmen. Fest steht: Die Bevölkerung Deutschlands wird nicht nur älter, sie wird auch internationaler. 2017 kamen mehr als zwei Drittel der Zuwanderer aus Europa – vor allem aus EU-Ländern. Seit der Finanzkrise 2008 zieht es viele Jugendliche wegen hoher Jugendarbeitslosigkeit in ihren Heimatländern nach Deutschland. Auch sie bevorzugen die großen Städte. Dort finden sie nicht nur gute Arbeitschancen, sondern häufig auch eine Community aus ihrem Herkunftsland. So ein sicherer Hafen erleichtert das Ankommen.

Neuankömmlinge erfahren die neue Gesellschaft in den öffentlichen Räumen der Ankunftsquartiere. Hier lernen sie, wie sich die Menschen bewegen und miteinander umgehen, welchen Regeln das Zusammenleben folgt und was die Gesellschaft von ihnen erwartet. Aus dem Bundesprogramm „Soziale Stadt“

sind viele Mittel in die öffentlichen Räume dieser Quartiere geflossen, zum größ-ten Teil unter Beteiligung der Anwohner. Die Parks, Stadtwälder, begrüngröß-ten Plätze und Spielplätze dienen nicht allein der Erholung, sondern erfüllen auch eine soziale Funktion. Sie sollen zu Begegnungen einladen und das gesellschaft-liche Miteinander fördern.

Die Einwanderungsgesellschaft ist vielerorts schon Realität. 2018 lebten 60 % der Menschen mit Migrationshintergrund in städtischen Regionen, 13 % in ländlichen. Das ist vor allem auf frühere Zuwanderungswellen zurückzuführen:

Arbeitsmigranten aus Süd- und Südosteuropa, Spätaussiedler aus der ehema-ligen Sowjetunion oder Geflüchtete des Balkankriegs. Ähnlich wie in London, Paris oder Amsterdam leben auch in einigen deutschen Städten mehr Menschen mit Migrationshintergrund als ohne. 2019 waren es in Offenbach 63 %. Dahinter folgten mit Frankfurt am Main, Heilbronn und Sindelfingen weitere Städte aus dem süddeutschen Raum mit starker Industrie. Ein Blick in die Schulen und Kindergärten der großen Städte zeigt, wie deren Stadtgesellschaft künftig aus-sehen wird. In praktisch allen größeren Städten haben die meisten Kinder unter sechs Jahren mindestens ein Elternteil, das ohne deutsche Staatsangehörigkeit geboren wurde. Studien des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) zeigen: Jugendliche mit Migrationshintergrund unterscheiden sich in ihren Einstellungen zur Demokratie und zu diesem Land nicht von ihren Altersgenossen. Die Integrationsleistung, die Kindergärten, Schulen und öffentliche Räume erbringen, ist hoch zu bewerten.

Nimmt man das Geschehen auf einem Quartiersplatz in den Blick, erkennt man, wie sich das produktive Mit- und Nebeneinander im Alltag einer Stadt-gesellschaft ausbuchstabiert. Forscher der RTHW Aachen haben sich mit so einer Raumbeobachtung dem Aachener Rehmsplatz zugewendet. Der 0,5 ha große Quartiersplatz ist von einer mehrstöckigen Blockrandbebauung umgeben, auf der Südseite von einer Baumreihe eingefasst, autofrei, aber von vier Straßen mit PKW-Stellplätzen umgeben. Im Rahmen des Städtebauförderungsprogramms

„Soziale Stadt“ wurden unterschiedlich gestaltete kleinräumigere Bereiche geschaffen, die den Platz in verschiedene ineinander übergehende Nutzungs-räume teilen. Der Rehmplatz ist Aufenthalts- wie Durchgangsplatz zugleich und

Baukulturbericht 2020/21 – Die Ausgangslage

bietet den verschiedenen Nutzergruppen geschützte Situationen an, die das

„Sehen und Gesehen werden“ im Stadtraum ermöglichen und sich frei bespielen lassen. Über den Tag hinweg bildet sich die gesamte städtische Vielfalt auf dem Quartiersplatz ab: Ein Flaschensammler, der sich auf einer Bank erholt, Jugend-liche spielen mit ihrem Smartphone und unterhalten sich, Kinder werden vor allem von den Wasserfontänen angezogen und binden sie kreativ in ihr Spiel ein. Das schafft Begegnungssituationen für Kinder und bringt häufig ihre Eltern ins Gespräch. Viele Ältere aus der Nachbarschaft treffen sich regelmäßig an den Schachbrettern. Was all diese verschiedenen Tätigkeiten ermöglicht, ist die Nut-zungsoffenheit des Platzes, der von den reinen Verkehrsräumen getrennt ist.

Gesellschaft von morgen

 Die öffentlichen Räume von morgen müssen neuen Bedürfnissen gerecht werden. Den Prognosen nach wird die erwerbsfähige Bevölkerung bis 2060 um zehn Millionen abnehmen. Zwar sind nicht alle im erwerbsfähigen Alter auch erwerbstätig; dennoch werden Millionen Menschen weniger jeden Tag zur Arbeit pendeln und auf entsprechend ausgebaute Stra-ßen, Bus- und Bahnverbindungen angewiesen sein. Die Menschen, die heute vor der Rente stehen, sind gesünder und aktiver als frühere Generationen. Schon 2014 war fast die Hälfte der 50- bis 64-Jährigen ehrenamtlich aktiv – vor allem im sozialen Bereich, aber auch in Sport und Bewegung. Die Zahl Hochbetagter (über 90) soll sich bis 2060 mehr als verdreifachen. Senioren sind mit zuneh-mendem Alter auf eine altersgerechte Gestaltung des öffentlichen Raums ange-wiesen. Ihre Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe hängen unmittelbar von der Beschaffenheit ihrer näheren Wohnumgebung ab, gerade wenn sie nicht mehr selbst mit dem Auto mobil sein können. Öffentlich zugängliche Orte und ein attraktiv gestalteter öffentlicher Raum beugen der Vereinsamung im Alter vor. Wenn Begegnungsorte fehlen oder nicht zu erreichen sind, drohen ältere Menschen den Zugang zur Gemeinschaft zu verlieren. Kommunen können dem aktiv entgegenwirken, indem sie öffentliche Begegnungsorte und Mobilitäts-angebote für Ältere schaffen.

Die Digitalisierung eröffnet die Chance, Leben und Arbeit anders zu organi-sieren. Ein neuer Trend, den das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in seiner Studie Urbane Dörfer ausgemacht hat, ist zum Beispiel, dass Arbeits-kräfte aus dem digitalen Bereich gemeinsam aufs Land ziehen – Breitband- und ÖPNV-Anschluss vorausgesetzt. All das macht deutlich: Die Nutzung der öffent-lichen Räume wird sich grundlegend ändern. Reine Transit- und Verkehrsräume gehören der Vergangenheit an. Diesen Wandel zu gestalten birgt große Chancen.

Öffentliche Räume, die für Junge wie Alte gleichermaßen funktionieren, bedeuten mehr Lebensqualität für die ganze Gesellschaft. Die Bedürfnisse beider Gruppen miteinander zu verschränken fällt nicht schwer: Verkehrsräume besser baulich integrieren, Plätze städtebaulich fassen und barrierefrei zugänglich machen, in regelmäßigen Abständen für Sitzgelegenheiten sorgen und vor Wind und Sonne schützen – so entstehen öffentliche Räume, die allen entgegenkommen. Dabei gilt es, gerade den Bedürfnissen jüngerer und älterer Menschen in der Planung und Gestaltung öffentlicher Räume mehr Gehör zu schenken.

Orte zur Pflege sozialer Kontakte sind für Ältere besonders wichtig

Ältere Menschen halten Parks und Grünflä-chen (65 %) sowie gastronomische Angebote im öffentlichen Raum (83 %) als Orte für gemeinsame Freizeitaktivitäten für besonders geeignet. Damit sind öffentliche Räume für Menschen über 60 wichtiger als für alle anderen Altersklassen. B7

Um öffentliche Räume zukunftsfähig zu gestalten, ist ein Paradig-menwechsel notwendig. Umwelt, Technik und gesellschaftliche Bedürfnisse ändern und entwickeln sich. In diesem dauernden Spannungsfeld entsteht Raum für neue Ideen. Baukultur ist dabei eine der wichtigsten Handlungs- und Entscheidungsebenen. Wie innovative und beispielhafte Lösungen aussehen, zeigen die Fokus-themen „Städtebau und Freiraum“, „Gestaltung von Infrastrukturen“

und „Demokratie und Prozesskultur“. Sie alle tragen dazu bei,

dass den Gemeinschaftsflächen unserer Gesellschaft mehr

Aufmerk-samkeit zukommt. Denn öffentliche Räume brauchen eine Lobby!