• Keine Ergebnisse gefunden

Bedeutung

 Erdgeschosse sind die Vermittler zwischen drinnen und draußen.

Sie liegen auf Augenhöhe der Menschen und damit in ihrem unmittelbaren Gesichtsfeld. Meistens neigen wir den Kopf beim Gehen um zehn Grad nach unten, um auf den Weg zu achten. Doch alles, was in der Nähe auf horizontaler Ebene vor sich geht, nehmen wir mit den Sinnen wahr und verarbeiten es – vor allem Fassaden und Schaufenster der Erdgeschosse. Sie sind Schnittstelle zwischen öffentlichen und privaten Interessen und lassen erkennen, was ein Ort in Sachen Versorgung, Freizeit und Mobilität zu bieten hat. Weil sie große Bedeutung für öffentliche Räume haben, verlangen Nutzung und Gestaltung von Erdgeschossen besondere Aufmerksamkeit. Forschungsergebnisse des Neurowissenschaftlers und Experimentalpsychologen Colin Ellard von der kana-dischen University of Waterloo belegen die Wirkungen von Fassadengestaltungen – besonders der Erdgeschosszonen – auf Gemütszustand und Gehgeschwin-digkeit von Passanten. Monotone Flächen ohne gestalterische Qualitäten sind auf langer Strecke eine Belastung und mindern die Aufmerksamkeit und die Bereitschaft der Menschen, sich dort länger aufzuhalten.

Lebendig wird eine Straße, wenn auch die Erdgeschosszonen öffentlich sind. Die Urbanistin Jane Jacobs hat bereits Anfang der 1960er-Jahre darauf verwiesen, wie wichtig in diesem Zusammenhang Läden, Cafés und Restaurants sind. Händlern und Gastwirten ist schon aus unternehmerischen Gründen daran gelegen, ihre Straße attraktiv, sicher und sauber zu halten. Schließlich zieht das Menschen und damit Kundschaft an. Menschen halten sich zudem gerne auf, wo bereits andere Menschen sind. Öffentliche Räume und Erdgeschoss-zonen stehen dadurch in einem Wechselspiel. Übereinstimmend messen die Industrie- und Handelskammern deshalb öffentlichen Räumen eine sehr hohe Bedeutung für Handel, Gastronomie und Gewerbe bei. Diese Erkenntnis machte sich der dänische Stadtplaner Jan Gehl Anfang der 1990er-Jahre zunutze, als er die entleerten innerstädtischen Räume im australischen Melbourne reaktivierte.

Den Begriff „Donut-Stadt“ haben damals die Menschen in Melbourne erfunden.

Ein maßgeblicher Erfolgsfaktor der Arbeit von Gehl war es, die Erdgeschoss-zonen enger Nebengassen umzubauen. Sie hatten zuvor nur als Funktionsflächen gedient. Gehl öffnete die Fassaden großflächig für den Einzelhandel und Cafés und Restaurants mit Außenflächen. Die transparente Gestaltung kommt der Interaktion zwischen innen und außen zugute. Heute sind die Laneways der Stadt beliebte Treffpunkte für Einheimische und Touristen.

Negative Tendenzen

 In vielen Innenstädten stehen Erdgeschosse leer oder werden monofunktional genutzt. Nach Schätzung des Handelsverbands Deutsch-land (HDE) weisen 10 % der Ladenflächen Leerstand auf. Das Phänomen ist nicht auf strukturschwache Orte beschränkt und hat viele Ursachen: Mit steigenden Gewerbemieten sind Mieter häufig nicht mehr in der Lage, Läden im Erdgeschoss wirtschaftlich zu nutzen. Auch der zunehmende Onlinehandel macht sich in den Einkaufsstraßen bemerkbar. Für das Versandgeschäft spielen Verkaufsräume nur eine untergeordnete Rolle. Globale Marken haben die finanziellen Mittel, für ihre digitalaffine Kundschaft innerstädtische Showrooms einzurichten. Im Ergeb-nis sind in den Fußgängerzonen der ganzen Welt die immer gleichen global agie-renden Ketten anzutreffen. Fast die Hälfte der Einzelhändler leiden mittlerweile

Gestaltung und Attraktivität

Die Attraktivität der Innenstädte ist für 89 % der befragten Bevölkerung (sehr) wichtig.

Auch die Gestaltung der Gebäude, Straßen und Plätze hat für 86 % einen hohen Stellen-wert. B4a

Baukulturbericht 2020/21 – Die Fokusthemen

unter dem Attraktivitätsverlust der Innenstädte. Und fast zwei Drittel sorgen sich, weil die Kundenfrequenz im stationären Handel deutlich sinkt. Die Neuhauser Straße in München mag die beliebteste Einkaufsstraße in Deutschland sein, inzwischen verzeichnen aber selbst solche Hauptgeschäftslagen der Innenstädte rückläufige Kundenzahlen. Das beobachten bereits drei Viertel der Händler.

Inhabergeführten Unternehmen macht nicht nur die Konkurrenz aus dem Netz zu schaffen. Branchen wie der Bekleidungshandel, der bundesweit rund 40 % der Verkaufsflächen belegt, sind im Umbruch. Seit 2009 hat jedes dritte Modegeschäft aufgegeben. Die Auswirkungen sind in den Innenstädten bereits sichtbar. Das IFH Köln führt seit 2016 jährlich die bundesweite Befragung „Vitale Innenstädte“ durch. 2018 wurden dafür über 59.000 Innenstadtbesucher in 116 Städten befragt. Sie gaben deutschen Innenstädten in Sachen Attraktivität zum dritten Mal in Folge nur die Note Drei plus (2,6). Auch die Flächenexpansion innerstädtischer Shoppingcenter und die Konkurrenz durch Factory-Outlet-Center erhöhen den Druck auf kleine Läden. Nach einer Studie der Initiative für Gewerbevielfalt sehen die Verbraucher ihr Einkaufsverhalten durchaus selbst-kritisch. Über 80 % sehen neben der Kommunalpolitik auch sich selbst als haupt-verantwortlich für den Zustand ihrer Einkaufsstraßen. Die Vermieter der Laden-flächen haben ihrer Meinung nach ebenfalls wesentlichen Einfluss.

Die Städtebauförderung des Bundes und der Länder will städtische Zentren und Kernbereiche und deren öffentliche Räume stärken. So unterstützt das Programm „Aktive Kernbereiche in Hessen“ Maßnahmen für eine städtische Mischung aus Einzelhandel, Dienstleistung, Kleingewerbe, Handwerk, Kultur, Gastronomie und Wohnen. Neue Lösungsansätze kommen auch von den Händ-lern selbst. In Mönchengladbach ist aus einem Pilotprojekt die digitale Initiative

„Ebay City“ für Einzelhändler hervorgegangen. Geschäfte präsentieren sich dabei auf einer gemeinsamen Plattform und bieten sowohl den Versand als auch die Abholung vor Ort an. Dieser Form des Multi-Channel-Shoppings gehört sicher die Zukunft. Hierin liegt die Chance für den stationären Handel.

Qualifizierung

 Dem Bedeutungsverlust der Erdgeschosse so Einhalt zu gebie-ten, verlangt neue Wege in der Quartiersentwicklung. Kommunen sollten dem Thema oberste Priorität einräumen: Wer Erdgeschosszonen aktiviert, kann damit ganze Stadtteile qualifizieren. Kopenhagen zum Beispiel hat die Erdgeschoss-zonen in den Mittelpunkt seiner Stadtplanung gestellt. Die Stadt versteht sich als

„Stadt für jeden Maßstab“ und fördert gezielt die Übergänge zwischen innen und außen. Festgehalten ist das in den 2010 veröffentlichten Richtlinien Copenhagen City of Architecture. Das Papier betont die architekturpolitische Bedeutung der Stadtverwaltung als Bauherr und Planungsbehörde ebenso wie ihren Willen, mit Architekten und privaten Bauherren zu kooperieren. Als Ziele wurden vier Quali-tätsmerkmale festgelegt: Charakter und Identität, Architektur, urbaner Raum und Prozess. Als gelungenes Beispiel gilt Sluseholmen, ein Wohnquartier im Südhafen der Stadt. Dabei bezieht Kopenhagen auch den öffentlichen Freiraum in die Betrachtung ein. Eine Design-Richtlinie soll im Einzelfall die Entscheidung erleichtern, in Möblierung, Gehweggestaltung und Pflanzenwahl dem allgemei-nen Erscheinungsbild Kopenhagens zu folgen oder lieber den lokalen Charakter eines Quartiers durch ein eigenes Design zu unterstreichen.

Um Kosten- und Marktmieten zu dämpfen, könnten Erdgeschosse zum Bei-spiel bei der Berechnung der Geschossflächenzahl (GFZ) entfallen. Sie würden Probleme beim

stationären Handel

In 77 % der befragten Kommunen kommt es in Innenstadtstraßen zum Leerstand von Läden und Geschäften. Auch zentrale Plätze (57 %) und Fußgängerzonen (48 %) weisen hohe Leerstände auf. K5

Qualität neuer

Erdgeschossnutzungen

Über 60 % der befragten Industrie- und Handelskammern beschäftigen sich mit der Qualifizierung von Erdgeschossnutzungen in neuen Wohnquartieren. Weitere Aktivitäten sind die allgemeine Information und Kom-munikation (56 %) und die direkte Begleitung geeigneter Handels- und Dienstleistungs-unternehmen (48 %).  IHK  7+8

4.1.2.C

Wachstum besonders in Deutschland

Entwicklung der Gesamtfläche der Factory-Outlet-Center in m2 2010–2018

69

dadurch nicht in das Maß der baulichen Nutzung eines Grundstücks miteinge-rechnet. Im Gegenzug könnte diese Erleichterung an Auflagen zur Attraktivitäts-steigerung von Erdgeschossen gebunden werden. Im Neubau gibt es inzwischen Tendenzen, Kellergeschosse wegzulassen und deren Funktionen in die Erd-geschosszonen zu verlegen. Auch Mobilitätstrends wie Sharing-Angebote oder Elektromobilität stellen neue technische und räumliche Anforderungen.

Eine weitere Möglichkeit, die Qualität von Erdgeschosszonen zu sichern, ist es, Grundstücke in Konzeptverfahren zu vergeben. Das macht der Ergebnisbericht eines Forschungsprojekts des BBSR deutlich. Sein Titel: Baukultur für das Quar-tier. Prozesskultur durch Konzeptvergabe. In fast allen dabei untersuchten Pro-jekten werden die Erdgeschosse gewerblich oder gemeinschaftlich genutzt.

Für Kommunen wird es immer wichtiger, bei ihren Vergabeverfahren lokale Anforderungen zu berücksichtigen. Dabei muss den verschiedenen Interessen von Verwaltung, Nutzern und Immobilienwirtschaft Rechnung getragen werden.

Bewährt haben sich Leitlinien, die bei der Entwicklung eines Quartiers noch vor einem Grundstückverkauf Qualitätsmerkmale festlegen. Neben baulichen Vorgaben lassen sich damit langfristig auch stadträumliche Entwicklungen beeinflussen. In der Seestadt Aspern in Wien hat eine eigens gegründete öffent-lich-private Gesellschaft die Gewerbeflächen der dortigen Einkaufsstraße für zunächst zwölf Jahre zu einem festen Preis angemietet. Dadurch kann sie die weitere Vermietung im Sinne einer quartiersfördernden Nutzungs- und Bran-chenmischung steuern. Paris – um ein weiteres Beispiel zu nennen – nutzt ein Vorkaufsrecht und erwirbt über die gemeinnützige Entwicklungsgesellschaft Semaest Ladenlokale, die dann Einzelhändlern zu einer günstigen Miete über-lassen werden. Bei der Vergabe achtet Semaest auf einen Nutzungsmix, der dem jeweiligen Viertel entspricht. Die Pächter können ihr Lokal aber auch zu einem Preis unterhalb der gängigen Kaufpreise erwerben. Dieses Modell könnte Vorbildfunktion für Deutschland haben. Nach Angaben des Handelsverbands (HDE) werden 74 % der Einzelhandelsflächen vermietet, lediglich 26 % befinden sich im Eigentum der Händler.

„Quartier“ ist in der deutschen Immobilienwirtschaft ein Modebegriff gewor-den. Laut dem Analyseunternehmen Bulwiengesa wird sich das Bauvolumen in Planungen, die die Bezeichnung „Quartier“ tragen, in deutschen Städten im Zeitraum zwischen 2011 und 2021 um das Sechsfache steigern. 1,2 Mio. m2 Quar-tiers-Projektentwicklungen werden alleine 2021 fertig gestellt sein – nicht immer sind funktionale und soziale Mischung ein Thema. Die speziellen Anforderungen an Erdgeschosszonen sind immer noch eine Herausforderung für Immobilien-entwickler. Die einfache Formel „Erdgeschoss = Handel“ gilt schon lange nicht mehr. Hinzukommen hohe und weiterhin steigende Baukosten. Neue Konzepte der Finanzierung und des Betriebs sind gefragt. Erfolg versprechen Kooperatio-nen, bei denen Projektentwickler grundstücksübergreifend zusammenarbeiten.

Wer ein Vorhaben entwickelt, hat maßgeblichen Einfluss auf seine architektonische Qualität und die künftige Nutzungsmischung. Im Verbund können die Entwickler für Gewerbeflächen Rahmenbedingungen wie Mindest- oder Mischmieten, aber auch gemeinsame Öffnungszeiten festlegen. Staffel- oder Umsatzmieten unter-stützen Kleinunternehmer in der Startphase. Unterschiedliche Flächenangebote sorgen für eine ausgewogene, attraktive Mischung aus kleineren inhaberge-führten Geschäften und großen Ankermietern. Pop-up-Stores und ein exklusives Raumangebot für Bewohner und Nachbarn beleben den Ort weiter und erhöhen

Baukulturbericht 2020/21 – Die Fokusthemen

Bautätigkeiten bei Objekten mit der Bezeichnung „Quartier“

Quelle: Bulwiengesa AG 2020

XXX

2010

0 400 800 1.200

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

2020

2021

2022

Auswertung auf Basis der Objektdatenbank der Bulwiengesa AG; kein Anspruch auf Vollständigkeit

Gewerbe (Büro, Retail, Hotel, Sonstiges) Wohnen

Tsd. qm MFG

die Identifikation der Menschen mit ihrem Viertel. Ein Erdgeschossmanagement schließlich kann die Dynamik von Angebot und Nachfrage auch längerfristig steuern. 2011 wurden in Berlin erstmalig Grundstücke rund um den ehemaligen Blumengroßmarkt durch eine konzeptgebundene Vergabe vergeben. Dabei ver-pflichteten sich die Bauherren unter anderem zur ausgewogenen gewerblichen Nutzungsmischung der Erdgeschosse zu einem angemessenen Preis. Beim dortigen „Metropolenhaus“ kuratiert eine Kulturplattform 40 % der 1.000 m2 Erdgeschossfläche als temporäre Projekträume für eine Miete von maximal sechs Euro pro Quadratmeter. Für Neubaugebiete sind auch Gestaltungsregeln hilfreich.

Für den Freiraum der HafenCity in Hamburg gibt es einen Gestaltungsleitfaden für Außengastronomie und für Erdgeschossanlagen mit publikumsnaher Aus-richtung. Er legt bauliche Qualitäten wie Geschosshöhe und flexibles Flächen-layout, aber auch gestalterische Qualitäten wie Farbe, Materialität und die Position von Sonnen- und Wetterschutz oder Werbeanlagen fest.