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Vier Geschichten

Im Dokument JAHRBUCH 2009 (Seite 35-40)

Nun also, die Deserteure: Opfer des Nationalsozialismus? Verräter an den eigenen Kameraden? Widerstandskämpfer? Feiglinge? Oder doch aufrechte Patrioten? Pauschale Kategorien werden den komplexen Realitäten genauso wenig gerecht wie die rückwirkende Unterstellung mehr oder weniger ehren-hafter Motive. Die Fahnenflucht war aber zuallererst eine zutiefst individuel-le Entscheidung, ein Aufbegehren des Individuums gegen die Maschine, die entmenschlichte und unmenschliche Institution Wehrmacht. Die Desertion wird nur aus einer persönlichen Perspektive verständlich. Aus diesem Grund sollen hier vier Einzelgeschichten vorgestellt werden, wobei ich mich bemü-he, auf nachträgliche Psychologisierungen weitgehend zu verzichten.

2 Vgl. dazu ausführlich Hannes Metzler, Ehrlos für immer? Die Rehabilitierung der Wehr-machtsdeserteure in Deutschland und Österreich, Wien 2007.

3 Falter 12/2005, 23. 3. 2005.

4 So ein österreichischer Staatsanwalt im Jahr 1946. Zit. n. Hellmut Butterweck, Verurteilt und begnadigt. Österreich und seine NS-Straftäter, Wien 2003, S. 99 f.

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 Alle vier von mir zu Illustrationszwecken gewählten Männer haben den Krieg überlebt. Dies darf aber nicht den Blick darauf verstellen, dass die NS-Militärjustiz Schätzungen zufolge rund 20.000 Todesurteile gegen Deser-teure verhängte, von denen 16.000 auch vollstreckt wurden.5 Es ist davon auszugehen, dass sich unter diesen Todesopfern zwischen 1200 und 1400 Ös-terreicher befunden haben.6

„Der Querulant“? Franz Piontek7

Franz Piontek wurde am 3. Dezember 1924 in Wien geboren. Sein Vater kämpfte im Februar 1934 aufseiten der Sozialdemokraten. Nach dem „An-schluss“ begann Piontek eine Lehre als Kammmacher. Er weigerte sich, in die Hitlerjugend einzutreten. Stattdessen schloss er sich den so genannten Schlurfs an: Er hörte verbotene Musik, trug weite Hosen und lange Haare und lieferte sich immer wieder Schlägereien mit Angehörigen der HJ. Zweimal wurden ihm auf offener Straße die Haare geschoren.

Aufgrund seines Berufs war Piontek vom Reichsarbeitsdienst befreit. Im Oktober 1942 wurde er direkt zur Wehrmacht eingezogen. Nach über einem Jahr an der Ostfront beging Piontek eine Befehlsverweigerung, wofür er mit 14 Tagen Haft bestraft wurde. Da die Strafe an der Front nicht verbüßt wer-den konnte, wurde sie aufgeschoben. Dank einer Verwundung und anschlie-ßendem Lazarettaufenthalt gelangte Piontek im Herbst 1943 wieder zu seiner Einheit in Linz, von wo aus er mehrmals unerlaubterweise nach Wien fuhr.

Als seine Truppe wieder an die Front verlegt werden sollte, kehrte er nicht zurück, wurde aber rasch verhaftet und am 7. Dezember 1943 wegen uner-laubter Entfernung zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt.

Piontek trat seine Strafe in der Linzer Schlosskaserne an, aber schon nach wenigen Tagen gelang ihm die Flucht. Er schaffte es nach Wien, wo er bei einer Tante Unterschlupf fand, aber bereits nach wenigen Tagen von einer

5 Vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005, S. 393 f.

6 Vgl. Thomas Geldmacher, „Auf Nimmerwiedersehen!“ Fahnenflucht, unerlaubte Entfer-nung und das Problem, die Tatbestände auseinander zu halten, in: Walter Manoschek (Hrsg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Öster-reich, Wien 2003, S. 133–194. Vgl. auch den Beitrag von Wolfgang Neugebauer in diesem Band.

7 Sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt, stammen die Angaben aus Hannes Metzler,

„Soldaten, die einfach nicht im Gleichschritt marschiert sind …“ Zeitzeugeninterviews mit Überlebenden der NS-Militärgerichtsbarkeit, in: Manoschek (Hrsg.), Opfer, S. 494–602, insbes. 583–585.

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 Nachbarin denunziert und von der Polizei verhaftet wurde. Diesmal wurde

Piontek der Fahnenflucht beschuldigt. Seinem Pflichtverteidiger gelang es zwar, die drohende Todesstrafe mit Bezug auf die Jugend des Angeklag-ten – Piontek war gerade 19 Jahre alt – abzuwenden, der Richter verhängte aber eine Zuchthausstrafe in Höhe von vier Jahren.8

Zuchthaus bedeutete die Aberkennung der „Wehrwürdigkeit“. Juristisch betrachtet war Piontek daher kein Soldat mehr. Wie viele Leidensgenossen auch kam er in die berüchtigten Lager der Reichsjustizverwaltung im nord-deutschen Emsland, nahe der niederländischen Grenze.9 Über die Lager Bör-germoor und Esterwegen, die „Hölle am Waldesrand“, gelangte Piontek ins Lager V, Neusustrum, wo er unter ständigen Misshandlungen beim Torfstich zu arbeiten hatte. Binnen weniger Monate magerte Piontek auf 36 Kilo ab.

Im November 1944 überstellte man Piontek in die Nähe von Prag, wo er bei der Zuckerrübenernte zu helfen und mit bloßen Händen die Früchte aus dem gefrorenen Boden zu graben hatte. Danach musste er sich im Wehrmachtgefängnis Torgau/Fort Zinna einer Tauglichkeitsprüfung für die Bewährungstruppe 500 unterziehen.10 Er bestand und wurde nach Olmütz, später nach Brünn – den Aufstellungsorten dieser Einheiten – versetzt. Bei einem Gefecht an der Ostfront Anfang 1945 erlitt Piontek eine Verwundung;

das Lazarett, in das er eingeliefert wurde, fiel kurze Zeit später der Roten Armee in die Hände. Piontek wurde am 2. Oktober 1945 nach mehreren Mo-naten Kriegsgefangenschaft entlassen und kehrte nach Wien zurück.

„Der Feigling“? Angelus F.11

Angelus F. wurde am 23. Mai 1921 in Wien geboren. Von Beruf Maschinen-bauer, rückte er im Juni 1941 zur Marine ein. Er machte drei

U-Boot-Feind-8 Oö. Landesarchiv, Division Nr. 487, St. L. 684/43.

9 Zu den Emslandlagern siehe grundlegend Erich Kosthorst / Bernd Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland 1933 bis 1945. Zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz. Darstellung und Dokumentation, Düsseldorf 1985; sowie Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrations-lager. Bd. 2: Frühe Lager. Dachau. Emslandlager, München 2005.

10 Zu den Bewährungseinheiten siehe Hans-Peter Klausch, Die Bewährungstruppe 500. Stel-lung und Funktion der Bewährungstruppe 500 im System von NS-Wehrrecht, NS-Militär-justiz und Wehrmachtstrafvollzug, Bremen 1995.

11 Sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt, stammen die Angaben aus ÖStA, AdR, Div. 177, St. L. III/59/44 (Kopien in DÖW 6054).

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 fahrten im Nordatlantik mit, avancierte zum Maschinengefreiten und erhielt einige Auszeichnungen. Am 31. Mai 1944 ließ er sich von dem Heeres-Kraft-fahrer Adolf S. in dessen Wohnung in Wien eine Knieverletzung zufügen, tags darauf täuschte er im Stadionbad einen Unfall vor.

In jenem Frühjahr war in Wien eine ungewöhnliche Häufung von Arm- und Beinbrüchen sowie Bänderrissen aufgetreten. Das Feldgericht der in Wien stationierten Division 177 und insbesondere Oberfeldrichter Karl Everts vermuteten ein Netzwerk von kriegsunwilligen Soldaten, die sich gegenseitig Knie oder Unterarme brachen, und ermittelten mit großem Eifer gegen diese „Selbstverstümmlerseuche“.12 Es gelang Everts schließlich, ei-nen Spitzel in ein Lazarett einzuschleusen, dessen Hinweise im Spätsommer 1944 zu Verhaftungen in großer Zahl führten. Da Beweismittel praktisch zur Gänze fehlten, war die Behörde auf Geständnisse angewiesen. Die Verhafte-ten wurden daher in die Rossauer Kaserne gebracht, wo man sie Folterungen und Misshandlungen unterzog, um entsprechende Aussagen zu erzwingen.

Zwischen 23. Oktober und 19. Dezember 1944 verurteilte Kriegsgerichtsrat Leopold Breitler 68 Personen wegen Selbstverstümmelung, davon 19 zum Tode, unter ihnen Adolf S. Everts fungierte als Anklagevertreter.13

Angelus F. wurde am 26. Oktober 1944 zu acht Jahren Zuchthaus verur-teilt (Ankläger Everts hatte zehn Jahre gefordert). F. gab an, er habe sich in ein Mädchen verliebt und daher nicht mehr an die Front zurückkehren wol-len. Das Gericht nahm einen „minder schweren Fall“ an.

F. wurde in das Lager Trasdorf/Moosbierbaum im niederösterreichischen Tullnerfeld überstellt, von wo ihm am 27. Dezember 1944 die Flucht gelang.

Er schloss sich den jugoslawischen Partisanen an und überlebte den Krieg.14

„Das Opfer“? David Holzer15

David Holzer wurde im Jahr 1923 als jüngster Sohn einer Bauernfamilie in Glanz in Osttirol geboren. Ab August 1942 kämpfte er an der Eismeerfront

12 Vgl. Gerhard Artl, Oberfeldrichter Everts und die Serie von Selbstverstümmelungen im Sommer 1944 in Wien, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 43 (1993), S. 194–205.

13 Artl, Everts, S. 203 f.

14 MA 12, OF Wien, F 340/52.

15 Sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt, stammen die Angaben aus Metzler, „Soldaten, die einfach nicht im Gleichschritt marschiert sind …“, S. 494–602, insbes. 572–574.

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 im nördlichen Finnland. Aufgrund von Erlebnissen in der Wehrmacht – „die

rabiate Weise mit den Gefangenen und mit der Unmenschlichkeit im Gesam-ten“16 – fasste er bei einem Heimaturlaub im Juni 1943 den Entschluss, nicht mehr zur Truppe zurückzukehren. Auch seine christlich-soziale Erziehung und sein Patriotismus – „ein freies Österreich, das war unser Ding“17 – be-einflussten seine Entscheidung.

Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Alois und dem in Stalingrad verwundeten Franz Stolzlechner bereitete Holzer in einer Höhle im Kraus-bachgraben oberhalb von Schlaiten ein Versteck vor. Ihre einzige Verbindung zur Außenwelt war ein in ihre Fahnenflucht eingeweihter Jäger. Da das er-hoffte rasche Kriegsende ausblieb, mussten die drei Deserteure in der Höhle überwintern.

Nach sieben Monaten im Hochgebirge wurde Stolzlechner am 11. Jänner 1944 von einem Gendarmen angeschossen und verhaftet, als er Verpflegung holen wollte.18 Daraufhin stellten sich David und Alois Holzer freiwillig.

Am 14. März 1944 wurde David Holzer von einem Divisionsgericht in Salz-burg zum Tode verurteilt und saß monatelang in der Todeszelle. Das Gna-dengesuch seines Pflichtverteidigers war schließlich aber erfolgreich – die Todes- wurde in eine 22-jährige Zuchthausstrafe umgewandelt. Wie Franz Piontek gelangte er, „wehrunwürdig“ geworden, in die Lager der Reichsjus-tizverwaltung im Emsland. Im Lager Börgermoor musste Holzer Zwangs-arbeit beim „Kommando Torfstich“ leisten.

Im November 1944 wurde David Holzer für die Bewährungstruppe 500 rekrutiert. In Schlesien bestand die Aufgabe seiner Einheit hauptsächlich darin, von der Roten Armee eingekesselte reguläre Einheiten zu befreien.

Einige Monate später, im Frühjahr 1945, wurde Holzer verwundet und ge-riet in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung kurz nach Kriegsende wurde er in der Tschechoslowakei erneut verhaftet und bis Ende 1945 in einem Sammellager interniert. Erst im Jänner 1946 kehrte David Holzer nach Hause zurück. Sein Bruder Alois war im März 1945 gefallen.

16 Interview mit David Holzer, geführt von Hannes Metzler und Peter Pirker, 4. 9. 2002.

17 Ebenda.

18 Er wurde am 8. Juli 1944 auf dem Militärschießplatz Wien-Kagran erschossen. Siehe Herbert Exenberger / Heinz Riedel, Militärschießplatz Kagran. Mit einem Vorwort von Walter Manoschek u. einem Beitrag von Maria Fritsche, Wien 2003, S. 88.

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„Der Verräter“? Richard Wadani19

Richard Wadani wurde als Sohn österreichischer Eltern am 11. Oktober 1922 in Prag geboren. Sein Vater war Sozialdemokrat, er selbst sympathisierte schon früh mit den Kommunisten und war Mitglied der JPT, der Sportbewe-gung der KP.

Nach dem „Anschluss“ 1938 musste die Familie nach Wien übersiedeln.

1939 meldete sich Wadani freiwillig zur Luftwaffe, weil er sich dort die größten Überlebenschancen ausrechnete. Nachdem er den Feldzug gegen Jugoslawien aufgrund einer Nasenscheidenoperation verpasst hatte, wurde er im Frühjahr 1942 ins polnische Hinterland versetzt, wo er seinen ersten – er-folglosen – Desertionsversuch unternahm. Der Plan, bei Suchfahrten nach abgestürzten oder abgeschossenen Flugzeugen einfach die Fronten zu wech-seln, erwies sich als undurchführbar.

Ab Ende 1942 diente Wadani in Olmütz in einer Übersetzerschule der Luftwaffe. Als diese Schule aufgelöst wurde, erfolgte im Herbst 1944 die Versetzung an die Westfront. Bereits zwei Tage nach seiner Ankunft, in der Nacht von 15. auf 16. Oktober 1944, lief Wadani von seiner Stellung im Schützengraben aus zwischen Stachel- und Stolperdrähten zur US-Armee über. Seine Mutter erhielt bereits am 17. Oktober die Nachricht, dass „Ihr Sohn an der Front in feiger Weise zum Feind übergelaufen ist. Er ist damit zum Verräter des deutschen Volkes geworden.“20

Wadani war kurz in einem Gefangenenlager in Cherbourg interniert und meldete sich dann, da es keine kämpfende österreichische Einheit gab, zur tschechoslowakischen Armee in England. Erst im November 1945 kehrte er zurück nach Wien, um seine Mutter zu suchen. Im Jänner 1946 quittierte er offiziell seinen Dienst und wurde als österreichischer Staatsbürger aus der tschechoslowakischen Armee entlassen.

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