• Keine Ergebnisse gefunden

Juli 1944, die militärische Widerstandsgruppe um Carl Szokoll und die O5

Im Dokument JAHRBUCH 2009 (Seite 27-31)

Zweifellos war der 20. Juli 1944 die wichtigste Aktion des militärischen Widerstandes, weil sie unmittelbar auf den Sturz Hitlers und des NS-Regimes abzielte und dieses Ziel beinahe erreichte. Ich hielte es für eine sehr vereng-te, ja gehässige Interpretation, die Verschwörung der hohen Offiziere und ihres politischen Umfeldes bloß als letzten Versuch der herrschenden Eliten zur Rettung des deutschen Imperialismus zu sehen, wie es in der DDR-Historiographie lange Zeit der Fall war. Es gab in dem breiten politischen

38 Egon Ehrlich / Helga Raschke, Josef Ritter von Gadolla. Ein Grazer Offizier im militärischen Widerstand, in: Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Wien 2003, S. 162–191; Matthias Priestoph, Josef Ritter von Gadolla. Gedenkschrift der Residenzstadt Gotha, Gotha 1998, S. 18 ff.

39 Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten, Bd. 1: Arbeiterbe-wegung, hrsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes u. Institut für Wissenschaft und Kunst, Wien–München 1985. Bearbeitung u. Zusammenstellung:

Siglinde Bolbecher, Brigitte Galanda, Konstantin Kaiser, Brigitte Lichtenberger-Fenz, Wolfgang Neugebauer, Andreas Pittler, S. 254 ff.

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 Spektrum des 20. Juli reaktionäre Kräfte, die mit Demokratie und plura-listischem Parteienstaat nichts am Hut hatten, und deutsche Patrioten, die den Krieg zu günstigen Bedingungen beenden und möglichst viele Gebiete, darunter auch Österreich, bei Deutschland belassen wollten. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Offiziersverschwörer, allen voran Graf Stauffenberg, bemüht waren, eine breitere politische Basis zu schaffen und viele Kontakte zu NS-Gegnern aus verschiedenen Lagern geknüpft hatten.

Neben dem Kreisauer Kreis der liberalen Aristokraten um Helmuth James Graf Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg sowie Christdemokraten waren deutsche Sozialdemokraten und Gewerkschafter in die Aktion einbe-zogen; zuletzt wurden auch kommunistische Widerstandskämpfer kontak-tiert. Ein Gelingen dieser Widerstandsaktion hätte jedenfalls das NS-Regime sofort beseitigt und noch Millionen Menschen vor dem Tod im Krieg und in der Nachkriegszeit bewahrt.

Der Plan des Umsturzes, die „Operation Walküre“, war ebenso einfach wie genial. Ein für Unruhen im Reich ausgearbeiteter Generalstabsplan, der die Übernahme der vollziehenden Gewalt durch die Wehrmacht vorsah, wur-de aktiviert, wobei die normale militärische Befehlskette – von oben nach un-ten – auch solche Leute eingebunden hätte, die gar nicht in die Verschwörung eingeweiht waren. Ein entscheidender Fehler im Konzept war gewiss, dass Oberst Stauffenberg, das Herz und Hirn dieser Aktion, gleichzeitig das At-tentat auf Hitler in der Wolfsschanze und die Leitung der Aktion in Berlin durchführen sollte.40

Zu Österreich bestanden zwei Schienen: Zum einen wurden auf der politischen Ebene von deutschen Sozialdemokraten und Christdemokraten österreichische Gesinnungsfreunde, u. a. Adolf Schärf, Felix Hurdes und Lois Weinberger, kontaktiert. Adolf Schärf hat in seinen Erinnerungen die Dramatik dieser Besprechungen eindrucksvoll festgehalten: Das Verbleiben bei Deutschland nach einem Sturz Hitlers wurde österreichischerseits ab-gelehnt. Dessen ungeachtet wurden in einem Fernschreiben der Berliner Militärverschwörer der Sozialdemokrat Karl Seitz und der Christlichsoziale Josef Reither als politische Beauftragte für den Wehrkreis XVII angeführt, was deren Verhaftung nach dem Scheitern der Aktion zur Folge hatte. Zum anderen lief auf der militärischen Ebene die Verbindung Stauffenbergs über

40 Siehe dazu u. a.: Gerd R. Ueberschär, Der militärische Umsturzplan „Walküre“, in: Peter Steinbach / Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945, Berlin 2004, S. 489 ff.

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 Oberstleutnant i. G. Robert Bernardis, einen ursprünglichen

NS-Sympathi-santen, zu einigen im Wehrkreiskommando XVII in Wien tätigen Offizieren:

Hauptmann Carl Szokoll, Oberst Rudolf Graf Marogna-Redwitz, ein anti-nazistisch gesinnter Reichsdeutscher, und Oberst i. G. Heinrich Kodré, ein Ritterkreuzträger, der 1935 der illegalen NSDAP beigetreten war. Es war das Verdienst vor allem des mutig und entschlossen handelnden Carl Szokoll, dass die Aktion in Wien gelang und führende Wiener NS-Funktionäre vor-übergehend festgenommen werden konnten. Erst das Scheitern des Aufstands in Berlin führte zum Ende der Wiener Aktion. Während Oberstleutnant Robert Bernardis und Oberst Rudolf Marogna-Redwitz aus der Wehrmacht ausgestoßen und vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden (am 8. August bzw. 12. Oktober 1944) und der gleichfalls unehren-haft entlassene Oberst Kodré Anfang 1945 in das KZ Mauthausen kam, blieb Szokoll unentdeckt und konnte im Widerstand weiterwirken.41

Der inzwischen zum Major beförderte Carl Szokoll baute systematisch ein Netz von österreichisch gesinnten Offizieren und Soldaten im Wehrkreis XVII auf und nahm ab Herbst Verbindungen zur Widerstandsgruppe O5 auf, um auch den zivilen Widerstand in den beim Heranrücken der alliierten Truppen geplanten Aufstand einzubinden.

Die Widerstandsgruppe O5, die größte und bekannteste überparteiliche Widerstandsgruppe in der Endphase des NS-Regimes 1944/45 wurde nicht zuletzt deshalb zu einem politischen Faktor, weil sie über den jungen, muti-gen und intellimuti-gent operierenden Soldaten Fritz Molden eine feste Verbin-dung mit den Westalliierten herstellen konnte. Der schon ab 1938 im katho-lisch-konservativen Jugendwiderstand tätige, 1940 erstmals festgenommene Molden war als Wehrmachtsangehöriger im Sommer 1944 zu italienischen Partisanen desertiert und dann in die Schweiz geflüchtet. Er konnte das Ver-trauen von Allan W. Dulles, dem Leiter des OSS in Bern, gewinnen, mit dem er, unterstützt von den Exilösterreichern Kurt Grimm und Hans Thalberg,

41 Widerstand und Verfolgung in Wien, Bd. 3, S. 409 ff.; Ludwig Jedlicka, 20. Juli 1944 in Ös-terreich, Wien 1965, S. 50 ff.; Karl Glaubauf, Robert Bernardis. Österreichs Stauffenberg, Wien 1994, S. 41 ff.; Karl Glaubauf, Oberst i. G. Heinrich Kodré. Ein Linzer Ritterkreuzträ-ger im militärischen Widerstand, in: Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichi-schen Widerstandes, Wien 2002, S. 41–68.

Robert Bernardis hatte als Ic des 51. Armeekorps noch am 12. 7. 1941 eine „Beurteilung der strategischen Lage“ abgegeben, in der der Angriffskrieg Hitlerdeutschlands gegen die Alliierten als „Kampf gegen das Weltjudentum“ gerechtfertigt wurde (DÖW 51.318, Kopien aus dem Bundesarchiv – Militärarchiv Freiburg).

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 nun eng zusammenarbeitete. In der Folge pendelte Molden, mit gefälschten Papieren und unter größtem Risiko, mehrmals zwischen Wien, Tirol und der Schweiz, um Gespräche zu führen und Nachrichten auszutauschen, und trug wesentlich zur Aktivierung der Widerstandsarbeit der O5 in Österreich bei.42 Mit der um Carl Szokoll gescharten militärischen Widerstandsgruppe im Wehrkreiskommando XVII arbeitete die O5 eng zusammen und war in die Planungen des Aufstands im April 1945 eingebunden, jedoch nicht im Sinne einer politischen Leitungsinstanz.

Um Wien das Schicksal des lang umkämpften und weitgehend zerstörten Budapest zu ersparen, entwickelte Carl Szokoll den Plan zur kampflosen Übergabe der Stadt Wien an die Rote Armee – die Operation Radetzky. Zu diesem Zweck schickte er Anfang April 1945 seinen Mitstreiter Oberfeldwe-bel Ferdinand Käs in das Hauptquartier der heranrückenden Roten Armee in Hochwolkersdorf – ein äußerst gefährliches, aber geglücktes Unterfangen.

Bei dieser Besprechung wurde vereinbart, dass die Widerstandsbewegung im Zusammenwirken von militärischen und zivilen Gruppen in Wien einen Auf-stand durchführen und die Rote Armee – nach Möglichkeit kampflos – von Westen in die Stadt einrücken werde. In diesem Zusammenhang ist festzu-halten, dass die Frage, ob die Rote Armee erst aufgrund Szokolls Vorschlag die Westumgehung Wiens durchführte oder eine solche schon vorher geplant hatte (was der Verfasser annimmt), nicht geklärt ist, zumal keine militärhis-torische Arbeiten über die sowjetischen Planungen und Operationen auf der Grundlage russischer Quellen vorliegen. Jedenfalls wurde der Aufstandsplan verraten – u. a. vom Inhaber einer bekannten Wiener Maturaschule – und drei österreichische Mitkämpfer von Szokoll – Major Karl Biedermann, Haupt-mann Alfred Huth und Oberleutnant Rudolf Raschke – wurden von einem SS-Standgericht noch am 8. April 1945 zum Tode verurteilt und auf brutale Weise gehenkt.43

Die Kämpfe und Zerstörungen konnten infolge des Scheiterns des Auf-stands zwar nicht verhindert werden, doch die sowjetischen Streitkräfte

er-42 Fritz Molden, Fepolinski und Waschlapski auf dem berstenden Stern, Wien–München–Zü-rich 1976, S. 265 ff.; Luža, Widerstand, S. 240 ff.

43 Widerstand und Verfolgung in Wien, Bd. 3, S. 412 ff., 427 ff.; Luža, Widerstand, S. 258 ff.;

Otto Molden, Der Ruf des Gewissens. Der österreichische Freiheitskampf 1938–1945.

Beiträge zur Geschichte der österreichischen Widerstandsbewegung, Wien–München 1958, S. 218 ff.; Barbara Stelzl-Marx, Carl Szokoll und die Sowjets, in: Karner / Duffek (Hrsg.), Widerstand, S. 167–194.

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 oberten Wien relativ schnell – wohl auch auf Grund der Zersetzungsarbeit

der österreichischen Widerstandskräfte in der Wehrmacht. Major Szokoll (u. a. Widerständler) wurde nach Ende der Kämpfe zweimal von der sowjeti-schen Besatzungsmacht wegen seiner Kontakte zu der als US-Geheimdienst-organisation angesehenen O5 verhaftet und verhört, aber bald wieder frei-gelassen und später vollständig rehabilitiert.44 Anlässlich seines Todes 2004 richtete der Botschafter der Russischen Föderation ein Kondolenzschreiben an das DÖW, in dem die historischen Leistungen Carl Szokolls gewürdigt wurden.

Obwohl sich Carl Szokoll durch seine Widerstandsaktivitäten größte Ver-dienste erworben hatte, blieb der Dank des offiziellen Österreich nach 1945 aus. Das österreichische Bundesheer wollte ihn nicht; für die das Heer do-minierenden ehemaligen Wehrmachts- und SS-Angehörigen waren Szokoll und die anderen Widerstandskämpfer „Eidbrecher“ und „Verräter“ – Vor-urteile, die bis heute bestehen, wie die unwürdige Diskussion um eine Ka-sernenbenennung nach Robert Bernardis 2004 zeigte. Carl Szokoll reüssierte dennoch im Berufsleben, vor allem als Filmproduzent, der Glanzlichter des österreichischen Nachkriegsfilms wie „Der letzte Akt“ oder „Der Bockerer“

schuf. Erst spät fand Szokoll die ihm gebührende Anerkennung – u. a. wurde er Bürger der Stadt Wien.

Im Dokument JAHRBUCH 2009 (Seite 27-31)