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Stefan Wirlandner in Istanbul

Im Dokument JAHRBUCH 2009 (Seite 114-117)

Anfang Februar 1943 erhielt Gedye einen führenden Repräsentanten der ös-terreichischen Exil-SozialistInnen als Organisator für die Kontaktaufnahme mit SozialistInnen in Österreich.16 Die Wahl der X Section war auf Karl Hans

9 Stefan Wirlandner, Erinnerungen, privat, S. 98 f., Nachlass Stefan Wirlandner (NSW). Für den Zugang zum Nachlass danke ich sehr herzlich seiner Tochter Susi Wirlandner.

10 TNA, HS9/915/2 PF Alice Lepper.

11 Complete List of Gedye’s Contacts in Turkey and their Activities, TNA, HS7/146.

12 TNA, HS9/1612 PF Stephan Wirlandner (PF Wirlandner 1); TNA, HS9/1613 PF Stephan Wirlandner (sic!) (PF Wirlandner 2).

13 Feuerlöscher stammte aus einer sozialistischen Fabrikantenfamilie im steirischen Prenning und arbeitete von 1941 bis 1944 vor allem als „black propaganda agent“ für SOE. Er or-ganisierte lt. Gedye den Schmuggel von bis zu einer Million Stück Anti-Nazi-Propaganda sowie Anleitungen zur Selbstverstümmlung und Desertion in das Deutsche Reich. A/H108.

Dokument 75 E, TNA, HS6/8.

14 Work into Austria from Turkey, TNA, HS7/146.

15 Vgl. Siegfried Beer, „Arcel/Cassia/Redbird“: Die Widerstandsgruppe Maier-Messner und der amerikanische Kriegsgeheimdienst OSS in Bern, Istanbul und Algier 1943/44, in: DÖW, Jahrbuch 1993, S. 75–100.

16 Work into Austria from Turkey, TNA, HS7/146.

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 Sailer gefallen. Gedye kannte Sailer aus Wien. Er hatte ihn 1939 als „einen

der besonnensten und mutigsten unter den jungen Führern der illegalen Be-wegung“ beschrieben.17 Eine der wichtigsten Mitarbeiterinnen der X Sec-tion, Clara Holmes, hatte 1936 den Sozialisten-Prozess der Regierung Schuschnigg in Wien mitverfolgt, bei dem Sailer einer der Hauptangeklagten war. Sailer hatte sie mit einer patriotischen Verteidigungsrede beeindruckt.18 Für die X Section war von Bedeutung, dass sich ihre sozialistischen Ko-operationspartner von der gesamtdeutschen Perspektive der Auslandsvertre-tung der österreichischen Sozialisten (AVÖS) verabschiedeten.19 Sailer hatte gewiss schwere Vorbehalte bei den Exil-SozialistInnen in New York zu über-winden. Der ehemalige Vorsitzende der Revolutionären Sozialisten, Joseph Buttinger, nannte Sailer auch verächtlich einen „Agenten des englischen Nachrichtendienstes“.20 Doch Sailer erfüllte die Erwartungen Gedyes in kei-ner Weise. Er fand sich in der Istanbuler Schattenwelt und in seikei-ner zweiten Identität nicht zurecht, beschwerte sich viel und brachte offenbar wenig zu-stande. Gedye schickte Sailer kurzerhand zurück in die USA.21

Sailer wurde durch Stefan Wirlandner ersetzt. Wirlandner gehörte vor 1938 der illegalen Gewerkschaftsführung in Österreich an und flüchtete knapp vor Kriegsbeginn mit viel List aus Wien.22 Im Herbst 1941 arbeitete er einige Monate für die subversive britische Propaganda – als Redakteur des Schwarzsenders „Radio Rotes Wien“. Etwa ein Jahr nach dem Scheitern dieses gemeinsamen Projekts von SO1/PWE23 und Exil-Sozialisten wurde Wirlandner auf Empfehlung von Oscar Pollak von der X Section rekrutiert.24 Nachforschungen zu seiner Person hatten Folgendes ergeben: „On the whole he subscribes to the usual Revolutionary Socialist line, but is unreservedly in favour of an independent Austria, and is against cooperation with the

17 Gedye, Bastionen, 261.

18 SOE Meeting, 18. 5. 1945. NARA, RG226, Entry210/Box305/Folder S.O.E. Meetings.

19 Report on the Activities of X Section, 10. 12. – 16. 12. 1941; 7. 1. – 13. 1. 1942. TNA, HS6/692.

20 Joseph Buttinger, Das Ende der Massenpartei. Am Beispiel Österreichs, Frankfurt/M. 1972 [1953], S. 365.

21 From D/H98 to X, 8. 12. 43, PF Wirlandner 1; Complete List, TNA, HS6/9.

22 Archiv-Blatt, VGA, Wirlandner Stefan, NSW; Paul Pasteur, Unter dem Kruckenkreuz, Wien 2008, S. 54.

23 Im Sommer 1941 wurde SO1, der Propaganda-Flügel von SOE, in die Political Warfare Executive (PWE) umgewandelt und dem Foreign Office unterstellt. Zu Radio Rotes Wien:

Bernhard Kuschey, Die Wodaks, Wien 2008, S. 192–200.

24 From X to D/H.98, 1. 2. 43, PF Wirlandner 1.

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 Communists. [...] He is a decent character and Aryan.“25 Damit entsprach Wirlandner dem Typus eines österreichischen Sozialisten, wie er der X Sec-tion als Organisator von Widerstand ideal schien – Österreich-patriotisch, antikommunistisch, nicht-jüdisch.

Für den 37-jährigen Wirlandner kam die Einladung zu SOE wie gerufen.

Endlich konnte er die verhasste Pioniereinheit in der britischen Armee ver-lassen und es bestand Aussicht, etwas Effektiveres gegen NS-Deutschland zu leisten. Eine mehrmonatige Spezialausbildung (Sabotage, Funken, Nah-kampf, Fallschirmspringen, Intelligence) schloss er mit herausragenden Be-wertungen ab.26 Mitte Juni 1943 wurde Wirlandner, der bei SOE intern

„Whirlwind“ genannt wurde, mit einem etwas erhöhten Sold eines einfachen Armeekorporals auf die Reise geschickt. Seine Mission war simpel definiert:

„[…] to establish permanent communications with Revolutionary Socialist resistance groups and stimulate their activities“.27 Vor der Abreise hatte ihm die X Section ausreichend Gelegenheit gegeben, die politischen Aspekte sei-ner Mission mit Oscar Pollak abzusprechen. Die beiden erstellten eine Liste von insgesamt 62 als zuverlässig geltende Kontaktpersonen überwiegend in Wien: Das war der Rohstoff, nach dem es SOE dürstete und den Pollak bis-lang weitgehend verweigert hatte.

Wirlandner war hochmotiviert, wirkte unscheinbar, trat umgänglich und vertrauenerweckend auf und war zugleich alles andere als ein schreckhafter oder ängstlicher Charakter. Seine Persönlichkeit war ein Grund, warum ihn SOE auf das glatte Terrain in Istanbul sandte.28 Die Reise nach Istanbul dauerte drei Monate und führte ihn über Lagos, Kairo und Palästina an seinen Bestimmungsort. Sie gab ihm Zeit, sich an seine neue Identität als englisch-schweizerischer Geschäftsmann namens „John Miller“ zu gewöh-nen. Wirlandner sprach von nun an ausnahmslos englisch. Seine Deckung war eine Beschäftigung bei der britischen Handelskammer in Istanbul. Am 25. 9. 1943 traf er erstmals seinen „Betreuer“ Gedye, den er bislang nicht persönlich gekannt hatte, aber als Journalisten hoch schätzte.29

Gedye stellte Wirlandner zwei Subagenten zur Verfügung, die ihrerseits über eine Reihe von Informanten verfügten. Beide waren Österreicher, die

25 Stephen Wirlandner, 19. 12. 1942, PF Wirlandner 1.

26 12.C.14 Wirlandner, Stephan, Eintragung 4. 3. 43; Finishing Report, 19. 5. 43, PF Wirland-ner 1.

27 Wirlandner, Dokument 54A. PF Wirlandner 2.

28 X/A to X, [o.D.], PF Wirlandner 1.

29 Ebenda.

www.doew.at – Jahrbuch 2009 www.doew.at – Jahrbuch 2009 schon länger in Istanbul lebten. Ihre Aufgabe war es, Wirlandner

unverfäng-lich Geschäftsleute oder Dienstreisende aus Österreich zuzutreiben, Kuriere, etwa türkische Studenten, anzuwerben sowie für Deckadressen in Istanbul zu sorgen.30 Schon die Kontaktaufnahme mit potentiellen KurierInnen war eine höchst aufwändige, kleinteilige, riskante und zermürbende Arbeit, die sich zunächst nur darauf bezog, die alten Adressen von GenossInnen in Wien zu überprüfen. Jede Verbindung nach Wien war verloren gegangen. Erst in ei-nem weiteren Schritt konnten von eiei-nem anderen Kurier oder einer anderen Kurierin Nachrichten an Zielpersonen überbracht werden.31 Allein aus idea-listischen Motiven war kaum jemand bereit, das Risiko eines Kurierdienstes auf sich zu nehmen. Jeder Dienst musste mit barer Münze bezahlt werden, was zugleich risikoreich und kostspielig war. Wirlandner wurde vor Ort sehr schnell klar, dass ohne die finanzielle und organisatorische Hilfe von SOE jede Kontaktaufnahme mit GenossInnen in Österreich von vornherein un-möglich war.32 Eine erste Kurierin brachte Mitte Oktober 1943 nieder-schmetternde Berichte aus Wien zurück. Keiner der von ihr in Wien aufge-suchten GenossInnen wollte sich auf eine weitere Kontaktaufnahme einlas-sen oder für den ehemaligen Gewerkschaftsführer Johann Böhm bestimmte Nachrichten an diesen weitergeben.33

Im Dokument JAHRBUCH 2009 (Seite 114-117)