• Keine Ergebnisse gefunden

Versuch der Einordnung von Humboldt in die geschichtliche Entwicklung der

4.   Sprache als mentale Verarbeitung von gesellschaftlicher Wirklichkeit: Von Wilhelm von

4.2.   Anteil der Sprache am Prozess der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit: Zur

4.2.2.   Versuch der Einordnung von Humboldt in die geschichtliche Entwicklung der

Setzt man sich kritisch mit Schriften oder Grundthesen der Sprachphilosophie W. v.

Humboldts auseinander, dann kommt man zu der Erkenntnis, dass er seinen sprachphilosophischen Ansatz gegen den der Grammatiker seiner Zeit abgrenzte, deren Aufgabe es war, die Sprache in ihre Bestandteile aufzuteilen, zu zerlegen und zu kategorisieren. Er war also weniger an Fragestellungen bezüglich der Grammatik oder der Lexik von Sprachen interessiert, die er als todte Masse (= Ergon) bezeichnete oder als statisch konzipiert empfand. Das heißt Grammatik und Lexik waren statische Systeme von Zeichen, die nur als Mittel zum Zweck der Kommunikation eingesetzt werden können; damit wäre dann die Sprachwissenschaft zwar eine Kommunikationswissenschaft, welche aber die konstruktiv-kognitivistische Funktion der Sprache aus dem Auge verloren hat;

Die zunächst liegende, aber beschränkteste Ansicht der Sprache ist die, sie als ein bloßes Verständigungsmittel zu betrachten. ... Die Sprache ist aber durchaus kein bloßes Verständigungsmittel, sondern der Abdruck des Geistes und der Weltsicht des Redenden, die Geselligkeit ist das unentbehrliche Hilfsmittel zu ihrer Entfaltung aber bei weitem nicht der einzige Zweck, auf den sie hinarbeitet. (Humboldt, W. v., Bd. VI, S. 22ff.)

Demzufolge war Sprache, Humboldts Ansicht nach, nicht das in Grammatik und Lexikon niedergelegte System von Zeichen, sondern ein dynamisches Verwandeln der außersprachlichen Wirklichkeit in den sprachlichen Ausdruck durch die innere Geistestätigkeit eines jeden Menschen. Auf eine Kurzformel gebracht, heißt es, dass sprachliche Zeichen nicht einfach Abbildungen sind, obwohl sie eine referentielle Dimension

haben, sondern der Inhalt dessen, was im sprachlichen Zeichen gebunden ist, nämlich der Begriff oder die Vorstellung eine Leistung des Menschen bzw. seines menschlichen Schaffens sind: darin liegt der Kern der Humboldtschen Sprachphilosophie. Damit wird deutlich, dass Humboldt ein klassischer Sprachphilosoph war, der eine Philosophie der Sprache betrieb, die von der unverbrüchlichen Einheit von Denken und Sprechen ausgeht. Das kann man als Phänomen oder Prinzip der Aufklärung bezeichnen, in das sich die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus einzeichnet. Dabei besteht Humboldts großartige Leistung darin, dass er, mit seinem Versuch, die Sprache auf eine synthetische Tätigkeit zurückzuführen (das ist sein sprachphilosophisches Anliegen), zwei philosophische Strömungen bzw. Ansätze des 18. Jahrhunderts aufgreift, die er dann versucht, zusammen zu bringen. Zu dieser besonders großartigen Leistung Humboldts sagt H. Arens folgendes:

Mit Recht aber sage ich ‚Idealbild’, denn er [Humboldt] verband mit umfassender und tiefer Sprachkenntnis ein hohes Sprachdenken, die sich beide in ihm so unauflöslich durchdrangen, dass zum ersten Mal die Grenze zwischen Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie aufgehoben war, die - aus menschlicher Unzulänglichkeit - durch die Jahrhunderte hindurch bestanden hatte und nach ihm - vielleicht noch schärfer als zuvor - sich fortsetzte. (Arens, H., 1969:170)

a) Die erste philosophische Strömung des 18. Jahrhunderts, auf die sich Humboldt bezieht, ist die allgemeine oder philosophische Grammatik seiner Zeit, d.h. des 17.

und 18. Jahrhunderts, die vor allem auf der Erkenntnistheorie bzw. der rationalistischen Tradition des deutschen Philosophen der Aufklärung Immanuel Kant (1724 - 1804) sowie der philosophischen Grammatik des deutschen Sprachforschers und Philosophen August Ferdinand Bernhardi (1769 - 1820) beruht. Etwa mit Kants Begriffen wie à priori und à postériori will Humboldt versuchen, die konstruktiven Tätigkeiten des menschlichen Geistes zu fassen und sie in die Sprachtheorie einzuführen. Damit impliziert de facto jeder neue schöpferische Akt des Sprechens eine mögliche Form des Denkens, eine dynamische bzw. produktive Tätigkeit des menschlichen Geistes. Um Humboldt zu paraphrasieren, würde man einfach sagen, Sprache sei eine Art sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen bzw. die Materie der Erscheinungswelt in die Form der Gedanken zu gießen.

b) Die zweite philosophische Strömung, sensualistischer Inspiration60, die Humboldt sehr faszinierte und auf der seine Sprachphilosophie beruht, ist die vergleichende empirische Sprachbetrachtung oder empirische Sprachenkunde, die, muss man an dieser Stelle erwähnen, nicht mit der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft verwechselt werden darf, die F. Bopp im Rahmen der indogermanistischen Tradition des 19. Jahrhunderts betrieb. Besonders durch die großangelegten und systematischen Sprachenexpeditionen, -sammlungen und -erhebungen des 17. und 18. Jahrhunderts, wie in nachfolgenden Darstellungen von D. Cherubim illustriert, bekommt die vergleichende empirische Sprachbetrachtung des 18. Jahrhunderts zu Humboldts Zeit Boden unter die Füße;

Der ‚Allgemeinen Grammatik’ der unterschiedlichen rationalistischen Traditionen wird nun eine empirische Sprachforschung gegenübergestellt, deren

‚Principien’ neu zu begründen sind.

[…] Um aber diese geforderten ‚critischen’ Untersuchungen in größerem Stil vornehmen zu können, bedurfte es zunächst einer breit angelegten empirisch-deskriptiven Sprachforschung, wie es sie bis dahin einfach nicht gab. Zwar kann man auf mehr oder weniger reichhaltige sprachvergleichende Vorarbeiten des 16. und 17 Jahrhunderts verweisen, die mit verschiedenen (theologischen, philologischen, taxonomischen) Zielsetzungen versuchten, Wissensbestände über möglichst viele Sprachen zusammenzutragen, und es gab schon im frühen 18.

Jahrhundert ein wachsendes Interesse an der ‚inneren Mehrsprachigkeit’ z.B.

des Deutschen, das sich u.a. in der Zusammenstellung zahlreicher sog. Idiotika oder Spezialwörterbücher äußerte, aber großangelegte Sprachensammlungen, zumal mit erklärendem Anspruch, wurden erst in der zweiten Hälfte des 18.

Jahrhunderts möglich, als durch verschiedene private oder institutionelle Expeditionen hinreichend Material zusammengetragen wurde und Prinzipien einer übergreifenden, gleichsam transdisziplinären Sprachbetrachtung diskutiert wurden.(Cherubim, D. 2008:258ff.)

60 Der Sensualismus (lat. sensus : Gefühl, Empfindung, Sinn), als spezifische Form des englischen Empirismus ist eine besonders in Frankreich heimische philosophische Strömung des 18. Jahrhunderts, die alle Erkenntnis aus Sinneseindrücken oder -wahrnehmungen ableitet. Bedeutendste Vertreter des Sensualismus in Deutschland und Frankreich sind u.a. Étienne Bonnot de Condillac (1715 - 1780), Denis Diderot (1713 - 1784), J. G. Herder und Johann Christoph Adelung (1732 - 1806).

Diese Sprachforschung ist deswegen typologisch vergleichend, weil andere große Sprachen der Welt, die bis dato weitgehend unbekannt sind, von Sprachforschern des Okzidents, die schon Kenntnisse über klassische Sprachen (Griechisch, Latein) oder andere europäische Sprachen (Französisch, Italienisch, Englisch, usw.) haben, auf der Grundlage einer Fülle zusammengetragener Daten sprachlicher, historischer, geographischer und biologischer Art systematisch erforscht werden. Zum Zusammentragen jenes Sprachmaterials berufen sich europäische Sprachforscher, wie eben bei D. Cherubim erfahren, auf Unternehmungen wie zum Beispiel die großangelegten Sprachenexpeditionen des deutschen Naturforschers Peter Simon Pallas (1741 - 1811) in Russland und Sibirien, die Sprachenexpeditionen und Entdeckungsreisen des englischen Seefahrers und Entdeckers James Cook (1728 - 1779) in der Südsee oder die des Kartografen und Forschungsreisenden Carsten Niebuhr (1733 - 1815) nach Arabien, dem mittleren Osten und Afrika. Die durch den spanischen Jesuitenmissionar, Lorenzo Hervas (1735 - 1809), in Mittel- und Südamerika unternommenen Indianer-Sprachensammlungen dürfen ebenfalls an dieser Stelle erwähnt werden.

Aus diesem Ansatz Humboldts resultiert eine ethnologisch-anthropologische Konstante bzw.

Wende in der Sprachwissenschaft. Das heißt, die Sprachwissenschaft nimmt ethnologische und anthropologische Standpunkte ein und zielt von nun an darauf ab, sich nicht nur mit der sprachschöpferischen Leistung einzelner Sprache zu beschäftigen, sondern, indem die sie sehr verstärkt auf die Menschen eingeht, herauszufinden, in wie weit die menschliche mentale Verarbeitung von objektiver Wirklichkeit in die Sprache eingeht. Das heißt, die Sprachwissenschaft befasst sich noch stärker mit Sprache als Verfahren und Produkt der Wirklichkeitsverarbeitung. Diese Ansicht Humboldts als Theoretiker der Sprachphilosophie bringt ihn dazu, die Sprache als eine dynamische, wirkende Kraft bzw. Tätigkeit des Geistes eines jeden Menschen (= enérgeia) zu betrachten, deren innere Form eine spezifische Weltansicht (‚world view‘) von Sprachgemeinschaften bzw. Nationen vermittelt. Wie Humboldt formulierte, ist damit jede Sprache der Ausdruck einer allgemeinen Sicht der Welt, der Spiegel der Geisteseigentümlichkeit eines Sprechenden, einer Nation. Durch ihren dynamischen Tätigkeitscharakter schafft die Sprache immer etwas Neues, d.h. sie konstruiert, selektiert, sedimentiert und archiviert sogar immer wieder neue Wirklichkeiten und macht von endlichen Mitteln, einen unendlichen Gebrauch. Daraus ergibt sich für die sprachphilosophische Tradition des 19. Jahrhunderts vor allem den Begriff von Organismus,

denn Sprachen werden von Sprachforschern als Naturorganismen aufgefasst, die wachsen, blühen und gedeihen. Einer der Hauptvertreter dieser These ist August Schleicher, der folgendes dazu behauptet:

Die Sprachen sind Naturorganismen, die ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstanden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen ‚Leben‘ zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft; ihre Methode ist im Ganzen und Allgemeinen dieselbe, wie die der übrigen Naturwissenschaften. (Schleicher, A., 1863:6)

Selbstverständlich steckt hinter Humboldts sprachphilosophischem Ansatz, der, wie bereits erwähnt, im 20. Jahrhundert im sogenannten Neohumboldtianismus weitergeführt wird, und dabei mit einem Sprachdeterminismus oder -relativismus (Whorf, Weisgerber, usw.) verbunden ist, der Versuch oder die Absicht, die Kluft zwischen der rationalistischen und der sensualistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts in gewisser Weise zu überwinden.

4.2.3. Kritische Revision der Positionen des Humboldtschen