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Kritik der Prager Schule an Saussures hermetischem bzw. rigidem Zeichenbegriff 34

3.   Die funktionale Betrachtung von Sprache: Von der Prager Schule bis zur sog

3.2.   Kritik der Prager Schule an Saussures hermetischem bzw. rigidem Zeichenbegriff 34

Was sie [die Prager Schule] von den anderen [strukturalistischen Schulen] trennt, ist die enge Bindung an die Tradition sowie die Betonung der Funktion (in ihrem Sinne) und der Funktionalität. Deswegen ist die Prager Schule auch als funktionelle Linguistik bekannt [...]

[...] Wenn die funktionelle Linguistik der Prager Schule die Sprache unter dem Gesichtspunkt der Funktion betrachtet, versteht sie unter Funktion die Aufgaben, die die sprachlichen Mittel erfüllen.(Helbig, G., 1990:51)

Als Alternative zum statischen und rein internen Sprachmodell von Saussure, das ein einseitiges Bild von Sprache vermittelte, indem es Sprache von der gesellschaftlichen Wirklichkeit isolierte, wurde am 6. Oktober 1926 von Saussures Nachfolgern die stark funktionalistisch orientierte Prager Schule, der so genannte Cercle linguistique de Prague, gegründet. Neben der amerikanischen taxonomischen und der Kopenhagener Schule wird sie die Sprachwissenschaft zu jener Zeit in ganz Europa bestimmen; eine Tradition, die nie vollständig abgebrochen ist und heute noch fortwirkt. Was die Prager Schule, dem Leipziger Sprachwissenschaftler Gerhard Helbig (1929 - 2008) zufolge, mit den anderen strukturalistischen Schulen gemeinsam hat,

ist die Absage an den Atomismus der Junggrammatiker sowie die Auffassung der Sprache als System und der Sprachwissenschaft als autonome Wissenschaft und nicht als Konglomerat von Psychologie, Logik und Soziologie.(Helbig, 1974:

51)

Was sie von den anderen strukturalistischen Schulen trennt,

ist die enge Bindung an die Tradition sowie die Betonung der Funktion (in ihrem Sinne) und der Funktionalität. Deswegen ist die Prager Schule auch als funktionelle Linguistik bekannt.(Ebd.)

Zu den prominentesten geistigen Vertretern jenes stark sozio- und psycholinguistisch geprägten linguistischen Pantheons gehörten renommierte Gelehrten und Wissenschaftler verschiedener Nationalitäten, u.a. die Prager Sprachwissenschaftler Vilém Mathesius (1882 - 1945), Bohuslav Havránek (1893 - 1978), Josef Vachek (1909 - 1996), Eduard Beneš (1884 - 1948), Bohumil Trnka (1895 - 1984), Vladimír Skalička (1909 - 1991), Jan Firbas (1921 - 2000), Milo Weingart (1890 - 1939), František Daneš (* 1919), die russischen Sprachwissenschaftler Nikolaj Sergevic Trubetzkoy (1890 - 1938) mit seinem 1939 posthum erschienenen Grundzüge der Phonologie 32 , Roman Jakobson, der Genfer Sprachwissenschaftler Serge Karcevskij (1884 - 1955), die Franzosen Lucien Tesnière (1893 - 1954), Émile Benveniste (1902 - 1976), André Martinet, der Pole Witold Doroszewski (1899 - 1976), der Holländer Albert Willem de Groot (1892 - 1963), der Engländer Daniel Jones (1881 -1976), der Jugoslawe Aleksandar Belić (1876 - 1960) und vor allem auch der Wiener Karl Bühler, dessen Funktionsmodell der Sprache großen Einfluss auf die Linguisten des Prager Strukturalismus gehabt hat und mit dem wir uns im Folgenden ausführlicher auseinandersetzen werden.

Was diese multinationale bzw. heterogene Zusammensetzung von Sprachtheoretikern zusammenführte, war weniger eine gemeinsame methodologische Sprachauffassung als vielmehr ein gemeinsames Interesse an bestimmten Themen der allgemeinen Sprachwissenschaft (vgl. Vachek 1966). In ihrem Standardwerk Linguistik. Eine Einführung charakterisiert H. Pelz den Prager Ansatz zusammenfassend so:

Die Frage nach den Funktionen von Sprache ist nicht eine linguistische im eigentlichen Sinne, sondern, je nach der Antwort, die man darauf geben möchte, eine psychologische oder eine soziologische, evtl. auch eine philosophische und sicher auch eine pragmatische. In der Tat war der Prager Kreis die einzige der drei strukturalistischen Schulen, die die Psychologie nicht ausdrücklich programmatisch aus ihrer Konzeption von Sprachwissenschaft verbannt hat.(Pelz, H., 1999:27)

Nach Meinung der Prager Strukturalisten,

32 Einem Standardwerk der strukturalistischen Linguistik, in dem nicht nur die Kerngedanken der Hauptströmung des europäischen Strukturalismus, sondern auch die phonologischen Konzeptionen der Prager Schule umfassend dargelegt sind.

[...] war es die Aufgabe der Linguistik, die inneren Strukturgesetze des Sprachsystems zu erkennen, die Sprachelemente in ihren Wechselbeziehungen zueiander und vor allem im Hinblick auf ihre Funktion als menschliches Kommunikationsmittel zu untersuchen. (Th. Shannon, In: Jakobson / Waugh, 1986:xii)

Wie bereits bei Saussure angedeutet, greifen im Grunde auch die Prager Funktionalisten auf den Zeichenbegriff als untrennbare Verbindung zwischen einer perzeptiblen Form, dem signifiant, und einem intelligiblen Inhalt, dem signifié, zurück. Doch dadurch, dass sie sich nicht nur für die inneren Strukturen des sprachlichens Zeichensystems interessierten, sondern auch die Sprache immer als gesellschaftliche Erscheinung betrachteten und sich anschließend besonders den Finalitäten bzw. den Funktionen der verschiedenen Elemente und Ebenen der Sprache widmeten, versuchten sie, nicht nur den sehr abstrakten und hermetischen semiotischen Ansatz von Saussure, wie er im Cours erscheint, aufzubrechen, sondern bewirkten zugleich eine bedeutsame Öffnung des ‚Käfigs‘, in dem Saussures orthodoxer Ansatz seinen Untersuchungsgegenstand, nämlich la langue, isoliert hatte. Dieser Ansatz war - zum Großteil dank der Arbeiten von R. Jakobson und N. S. Trubetzkoy - auf phonologischer Ebene überaus erfolgreich und trug auch wesentlich zur Erforschung der Syntax und anderer Bereiche der Sprache bei. Von nun an sollte die Strukturiertheit des Systems auch im Zusammenhang mit den kommunikativen Zwecken der Sprache gesehen werden, die zur Interpretation sprachlicher Zeichen herangezogen werden müssen;

Der Strukturalismus ist unserer Ansicht nach eine Richtung, die die sprachliche Realität als Realisierung eines Systems von Zeichen betrachtet, die für ein bestimmtes Kollektiv verbindlich sind und von spezifischen Gesetzen beherrscht werden. Unter dem Zeichen versteht die Prager Schule ein sprachliches Korrelat zur außersprachlichen Wirklichkeit, ohne die es keinen Sinn und keine Existenzberechtigung hat.(Helbig, G., 1990:51ff.)

Überlegungen bzw. Ansätze zur Sprache als System sowie Thesen vom Zusammenhang bzw.

der funktionalen Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem begegnen wir aber bereits in viel früheren Ansätzen, etwa bei Philipp Wegeners (1848 - 1916) Grundfragen des Sprachlebens (1885), in denen er schon im 19. Jahrhundert die Funktion von sprachlichen Zeichen sachentsprechend unter dem obersten Gesichtspunkt, dass sie Signale sind, beschrieb.

Ebenso begegnen wir jenen Thesen von einer funktionalen Relation zwischen Zeichen und

Bezeichnetem bei A. Martinet in den früheren Phasen des Strukturalismus, dessen Ansatz auf den traditionellen Begriff der syntaktischen Funktion zurückgreift und das Verhältnis einer sprachlichen Form zu ihrer Umgebung bei der Erfüllung ihres Zwecks, d.h. ihrer Funktion in der Gesellschaft analysiert.

Im Gegensatz zu Genfer Linguisten-Schule des Strukturalismus können die erstmals auf dem Internationalen Linguistenkongress in Den Haag 33 (Niederlande) im Jahre 1928 vorgetragenen kritischen Grundthesen der Prager Schule in folgenden drei Punkten zusammengefasst werden:

(1) Sprache ist ein strukturiertes und funktionales System, d.h. ein System von Ausdrucksmitteln, die bestimmte kommunikative Zwecke - über Vorgänge und Gegenstände der außersprachlichen Wirklichkeit - erfüllen. Somit ist Sprechen eine Form sozialer Praxis, die, wie der französische Sprachsoziologe P. Bourdieu später behaupten wird, in eine Sozialstruktur sprachlicher Produktionsverhältnisse eingebettet ist, denn

[…] die Sprache ist eine Tätigkeit des Menschen mit finalem Charakter; sie ist ein System von Ausdrucksmitteln, die einem Zweck dienen. Mit ihrer Hilfe verwirklicht der Sprecher seine Absicht, etwas auszudrücken und mitzuteilen.(Lepschy, Giulio C., 1969:41)

Daraus ergibt sich die Priorität des funktionalen Gesichtspunkts der Sprache sowie die Tatsache, dass kein Element der Sprache außerhalb des Systems selbst betrachtet werden kann;

Ein semiotisches Mittel wie Sprache kann man nicht analysieren, ohne nach dessen Funktion zu fragen. Rein formale Untersuchungen, die diesen

33 Dieser Internationale Linguistenkongress, der zwei Jahre nach der Gründung der Prager schule, nämlich vom 10. bis 15. April 1928 in Den Haag stattfand, stellte damals einen wichtigen Meilenstein in der Geschichte der strukturellen Sprachwissenschaft dar, denn es war nämlich das erste Mal, dass sich die Sprachwissenschaft in der Welt als eine autonome Wissenschaft präsentierte. Weitere Kongresse fanden in Genf, Rom, Kopenhagen und nach dem 2. Weltkrieg unter anderen in Cambridge (MA, USA), Tokio und Quebec statt, was die Absicht widerspiegelt, die Kongresse nicht auf Europa zu beschränken.

funktionalen Aspekt außer Acht lassen, sind wertlos, da sie an dem semiotischen Wesen der Sprache vorbeigehen.(Th. Shannon, In: Jakobson / Waugh, 1986:xiii) Durch den funktionalen Charakter des Sprachgebrauchs dient die Sprache ihren Benutzern, wie G. Helbig im nachfolgenden Zitat behauptet, vornehmlich als Werkzeug der Kommunikation bzw. zur Informationsübermittlung in der Gesellschaft:

[…]Da die Sprache ein Werkzeug ist, um Informationen zu übermitteln, kann man - wie vor allem Jakobson (1959, 142f.) betont hat - die einzelnen Teile des Instruments nicht beschreiben ‚with disregard of their functions‘, ebenso wie die Beschreibung eines Autos unvollständig und inadäquat ist ohne Beziehung auf die Aufgaben der einzelnen Teile(Helbig, G., 1990:51)

(2) Weil die Sprache von der Prager strukturalistischen Schule als Kommunikations- und Verständigungsmittel in Beziehung zur außersprachlichen Wirklichkeit gesetzt wird, ist sie [die Sprache] nicht mehr nur sprachliche Form, entsprechend der Formulierung und Forderung von Saussure, sondern auch sprachliche Substanz, die das kommunikative Miteinander der Sprechenden in einer Gemeinschaft überhaupt erst ermöglicht. Expliziter heißt es, durch die Tatsache, dass in gewissen komplexen Sprechereignissen einem signifiant mehrere signifiés entsprechen können, hat die parole für die Funktionalisten keine einheitliche Form, sondern existiert in vielen Formen, die je nach Verwendungsart und Sprechabsichten jeweils anders genutzt wird, etwa als Poesie, als Prosa, als gewöhnliche oder als wissenschaftliche Rede, usw. Ausgangspunkt der Prager strukturalistischen Schule ist also die Substanz der sprachlichen Äußerung, aus der sich ihre Funktionen und Formen ableiten lassen.

(3) Die logische Folge aus der Tatsache, dass Sprache immer als Korrelat der außersprachlichen Wirklichkeit angesehen wird, ist die Ablehnung der Saussureschen strengen und unüberbrückbare Dichotomisierung des sprachwissenschaftlichen Gegenstandsgebiets durch die Synchronie und Diachronie;

„[...] Zwischen der synchronischen und der diachronischen Methode dürfen keine unüberwindlichen Schranken aufgerichtet werden, wie es die Genfer Schule tut.

Wenn man in der synchronischen Sprachwissenschaft die Elemente des Sprachsystems unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktionen betrachtet, kann man

Veränderungen, denen die Sprache unterworfen ist, nicht mehr bewerten, ohne das System, das von den genannten Veränderungen betroffen wird, zu berücksichtigen. Es wäre nicht logisch, anzunehmen, dass die sprachlichen Veränderungen nur destruktive, zufällig wirkende und unter dem Gesichtspunkt des Systems heterogene Eingriffe sind. Die sprachlichen Veränderungen betreffen oft das System, seine Festigung, seine Wiederherstellung usw. Die diachronische Untersuchung schließt also die Begriffe des Systems und der Funktion nicht nur nicht aus, sondern sie ist im Gegenteil unvollständig, wenn sie diese Begriffe nicht berücksichtigt. Andererseits kann die synchronische Beschreibung den Begriff der Entwicklung nicht mehr völlig ausschließen, weil selbst in einem synchronisch betrachteten Ausschnitt immer das Bewusstsein von einem im Schwinden begriffenen Stadium, von einem gegenwärtigen Stadium und von einem sich herausbildenden Stadium vorhanden ist. Die stilistischen Elemente, die als Archaismen empfunden werden, sowie die Unterscheidung zwischen produktiven und nichtproduktiven Formen sind diachronische Erscheinungen, die man aus der synchronischen Linguistik nicht eliminieren kann(Thesen des Prager Linguistenkreises zum ersten internationalen Slawistenkongress 1929:44ff.)

Ferner wies Jakobson darauf hin,

[...] dass die Diachronie auch systematisch und die Synchronie auch dynamisch ist, denn Sprachwandel ist Systemwandel und die Veränderlichkeit ist ein wichtiger Zug des synchronen Systems. (Th. Shannon, In: Jakobson / Waugh, 1986:xiv)

In diesem Versuch, die Begriffe Diachronie und Synchronie komplementär aufzufassen bzw.

einander anzunähern, hat auch der Schweizer Sprachwissenschaftler und Romanist Walther von Wartburg (1888 - 1971) in seinem 1931 erschienen Aufsatz Das Ineinandergreifen von deskriptiver und historischer Sprachwissenschaft von einer „unlösbaren Verflechtung von Diachronie und Synchronie“ gesprochen. Damit erwies er sich als ein Vorläufer der modernen, soziolinguistisch inspirierten historischen Sprachwissenschaft.

All diese Modifikationen, betrachtet als Kritik des Zeichenbegriffs von Saussure sowie die Fokussierung auf die funktionalistische Betrachtung der Sprache erklären wohl, warum beispielsweise der dänische Sprachwissenschaftler L. Hjelmslev, auf den Saussure am

stärksten eingewirkt hatte und der dessen Formalismus auf die Spitze trieb, der Prager Schule das Prädikat strukturell absprach und ihre Vertreter [der Prager Schule] diesen Ausdruck ebenfalls lieber durch funktional-strukturell ersetzten;

Die Prager Schule möchte lieber funktionalistisch als strukturalistisch genannt werden, um nicht mit den Kopenhagener Strukturalisten verwechselt zu werden;

und die Kopenhagener Schule möchte lieber glossematisch als strukturalistisch genannt werden, um nicht mit den Pragern Strukturalisten verwechselt zu werden. Hinter dieser scheinbaren Paradoxie verbirgt sich nichts als die Tatsache der großen Differenziertheit dessen, was man allzu global als Strukturalismus oder strukturelle Linguistik bezeichnet(Helbig, G., 1990:63) Weil die Prager Funktionalisten eher besonderen Wert darauf legen, dass Sprache als System von Zeichen in erster Linie funktional ist, d.h. davon ausgehen, dass sich kommunikative Tätigkeiten in Form von sprachlichen Äußerungen vollziehen und diese wiederum integrierte Bestandteile gesellschaftlicher Tätigkeiten sind, ergibt sich in der Tat, dass sprachliche Äußerungen für diverse semantische Funktionen zweckdienlich eingesetzt werden, gleichzeitig und mit wechselnden Gewichtungen, die nicht nur die Polyfunktionalität der Sprache und somit einen kommunikativen Akt bzw. Redeakt als solchen ausmachen, sondern eben ihn als sprachliches Produkt mit der extralinguistischen Realität verbinden.

3.3. Der Funktionalismus der Prager Schule

Die Sprache ist ein System von zweckmäßigen Ausdrucksmitteln […] Die Untersuchung einer Sprache verlangt, dass man streng auf die Verschiedenheit der sprachlichen Funktionen und ihrer Realisationsweisen im jeweiligen Fall achtet.

Wenn man dies nicht berücksichtigt, wird die Beschreibung der Sprache […]

notwendigerweise verzerrt und, bis zu einem gewissen Grad, fiktiv sein. Je nach diesen Funktionen und Weisen variiert sowohl die lautliche Struktur als auch die grammatische Struktur sowie der lexikalische Aufbau der Sprache.(Hager, F. / Haberland, H. / Paris, R. 1973:46ff.)

Dadurch, dass die Prager Sprachwissenschaftler - in ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache - nicht nur sprachimmanente Faktoren berücksichtigten, sondern auch den funktionalen Charakter der Sprache sehr stark betonten, hoben sie sich nicht nur von anderen Strukturalisten ab, sondern verschafften sie sich zugleich einen besseren Zugang zum Verständnis und Erfassen der Sprachfunktionalität, der Sprachvariation und des Sprachwandels. Ihnen ging es also darum, die Sprache an die Realität und den kommunizierenden Menschen zu binden; d.h. die Sprache aus funktional-kommunikativer Perspektive zu erfassen.

Angesichts der heterogenen Zusammensetzung und der Vielfalt wissenschaftlichen Tätigkeiten der Prager Schule soll an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass der schillernde Funktionsbegriff bei den Pragern keineswegs streng und einheitlich ist. Das heißt, wie an früherer Stelle bereits angedeutet, dieser Linguistenkreis war nicht nur eine relativ lose Vereinigung einiger Sprachtheoretiker aus unterschiedlichen Nationen, Ausbildungen und Backgrounds, sondern seine Mitglieder betrieben in der Tat keine geschlossene Sprachtheorie und lieferten demzufolge Beiträge zu den verschiedensten Gebieten;

In ihr [der Prager Schule] vereinigten sich zahlreiche Linguisten, die zum Teil ganz verschiedene linguistische Ausbildungen und backgrounds hatten, so dass es nicht Wunder nimmt, wenn die Prager Schule nie zu einem strengen und alle verpflichtenden Programm kam, sondern stets von einer starken Heterogenität der Ansätze gekennzeichnet bleib. (Heeschen, C. 1972:42ff.)

Allerdings und trotz unterschiedlicher Positionen und Traditionen, die sich nicht ausschlossen, sondern auch einander ergänzten und die - alle - für unsere Diskussion bzw.

Fragestellung keine vordergründige Rolle spielen, hatten die Anhänger dieser linguistischen Schule doch ein paar Gemeinsamkeiten, etwa die funktionalistische Ausrichtung:

Was die betreffenden Linguisten dennoch verband, waren gewisse Gleichrichtungen ihrer Interessen, worunter vor allem das Interesse an phonologischen Fragen zu nennen wäre. Außerdem versuchten irgendwie alle, die strukturelle Betrachtung mit der funktionellen zu synthetisieren.(Ebd.:43) Von Funktionen der Sprache in den Arbeiten der Prager Funktionalisten ist zunächst die Rede bei den Referenzbeziehungen; später wird dann doch die Bühlersche Differenzierung in

Darstellungs-, Ausdrucks- und Appelfunktion übernommen (vgl. Vachek, 1966:30ff.). Bei der Referenzfunktion und der Bühlerschen Darstellungsfunktion haben wir es offenbar mit Funktionen zu tun, welche die Sprache nach außen hin (etwa in gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen) erfüllt.

Auf der Ebene des Satzes und des Textes als abgegrenzter, zusammenhängender Äußerung in geschriebener Sprache prägte auch die Prager Schule den linguistischen Funktionalismus in verschiedenen Ansätzen aus, besonders die in den späten dreißiger Jahren des 20.

Jahrhunderts von V. Mathesius eingeführte Thema-Rhema-Struktur bzw. -Gliederung34 von Sätzen und Texten bzw. den Begriff der funktionalen Satzperspektive (vgl. Vachek, 1966:65), die untersucht, wie die lineare thematische Progression bzw. die informationstragende Struktur eines Satzes bzw. eines Textes stattfindet. Diese lineare thematische Progression liegt u.a. dem folgenden Beispiel zugrunde:

1. Es war einmal vor langer, langer Zeit lebten ein König und seine wunderschönen Töchter in einem Schloss.

2. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer, dunkler Wald, und in dem Walde, unter einer alten Linde war ein tiefer Brunnen.

3. Wenn der Tag recht heiß war, so ging die jüngste Königstochter hinaus in den Wald und setzte sich an den Brunnen, und wenn sie Langweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; das war ihr liebstes Spielwerk.

4. Eines Tages kam es vor, dass die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel, sondern vorbei auf die Erde schlug, sodass die Arme zuschauen musste, wie ihre goldene Kugel ins Wasser hinein rollte; da fing sie an zu weinen.

34 Nach G. Helbig geht V. Mathesius (1939) davon aus, dass die Funktion von Sätzen und Texten darin besteht, neue Informationen zu vermitteln. Der Satz bzw. der Text wird daher nicht mehr nach seiner formalen Struktur, sondern nach seiner Informationsträchtigkeit bzw. seiner thematischen Progression gegliedert. Das Thema (engl.: Topik) ist das, was im Satz bereits bekannt ist bzw. worüber etwas ausgesagt wird, das Rhema (engl.:

Comment) das, was eine neue Mitteilung enthält bzw. was darüber ausgesagt wird (das Neugesagte), was wiederum Thema werden kann.

und kann in folgender Weise schematisiert werden:

Die funktionale Satzperspektive war auch deshalb für die Sprachwissenschaft von großer Bedeutung, weil sie zur Herausbildung der Stilistik als Zweig der Linguistik beitrug. So muss - vor allem in den Ansätzen und Publikationen von Vachek, Beneš und anderen - an dieser Stelle die funktional orientierte Stilistiktheorie (Funktionalstilistik) erwähnt werden, die zu den ersten wichtigen linguistischen Auseinandersetzungen mit Stil gehört, wobei es hauptsächlich um die Theorie der Standard- und Literatursprache und deren verschiedene funktionale Untergliederungen geht, d.h. um die Untersuchung unterschiedlicher Verwendung der Sprache in Alltag, Wissenschaft, Politik, Presse und Publizistik und Werbung, öffentlichem Bereich (Behörde, Gerichte, etc.), literarischen Texten.

Als ernste Konkurrenz bzw. kommunikative Alternative zu Saussure und vor allem im Sinne einer Modellierung, einer Einordnung der in vorliegender Arbeit behandelnden Problematik wollen wir, wie bereits an früherer Stelle angedeutet, eines der wichtigsten und bekanntesten Sprachfunktionen-Modelle innerhalb der neueren Sprachwissenschaft näher betrachten, mit dessen Hilfe versucht wird, den geschlossenen bzw. rein langue-bezogenen Ansatz von Saussure zu überwinden. Dieses im Sinne der Prager Schule und im Verhältnis zu Saussure weniger geschlossene sprachfunktionalistische Modell stammt von jenem Sprachtheoretiker, der sich auf die von Saussure gezogenen linguistischen Grenzen nicht hat einengen lassen wollen, nämlich von dem - nicht-behavioristischen - Wiener Sprachpsychologen und Kommunikationswissenschaftler Karl Bühler, einem Schüler des Begründers der deutschen Denkpsychologie Oswald Külpe (1862 - 1915).