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Hintergrund der Gesprächsaufzeichnung

6.   Diskurse und die Inszenierung sozialer Macht: Zum sprachsoziologischen Ansatz von

7.2.   Hintergrund der Gesprächsaufzeichnung

Als Freizeitangebot, zunächst von der Evangelischen Kirche getragen und von Vikaren geleitet, später vom Berliner Senat finanziert, war die ‚Brücke‘ ein Jugendheim im Märkischen Viertel im damaligen West-Berlin, in dem Studenten der ehemaligen Pädagogischen Hochschule Berlin freiwillig als Betreuer bzw. sog. Berater tätig waren. Sie ist in der Tat der Ort, an dem die Gruppendiskussion stattfindet und aufgezeichnet wird. Dabei bestand die Aufgabe der Berater, die meist aus bürgerlichen, gut situierten Familien stammten, darin, die ‚Brücke‘-Besucher116, die selbst unterschiedliche Interessen hatten und meistens aus Arbeiterfamilien und schwierigen sozialen Verhältnissen stammten (etwa

116 Im Rahmen ihrer nicht ganz einfachen Betreuungsarbeit in der ‚Brücke‘ haben die Berater mit zwei unterschiedlichen Kategorien von Jugendlichen zu tun, die in der Einrichtung verkehren. Einmal sind es die sog.

‚Zielgruppe‘-Jugendlichen, auf die die Konzeption ihrer Arbeit und damit ihr Interesse ausgerichtet sind. Dies Jugendlichen, mit denen die Betreuungsarbeit schon schwierig genug ist, suchen in der ‚Brücke‘ einen Treffpunkt, wo sie unter sich sein können, das tun können, was sie wollen, ohne kontrolliert und bevormundet zu werden; eine repressionsfreie Atmosphäre, die sie begrüßen und nicht gestört sehen wollen. Auf der anderen Seite haben die Berater mit einer zweiten und noch viel schwierigeren Gruppe, den sog. ‚Rocker‘-Jugendlichen, zu tun. Wegen der Konflikte, die sie in die ‚Brücke‘ bringen, repräsentieren sie eine zusätzliche Komplizierung der Betreuungsarbeit in der ‚Brücke‘, die für sie ein Ort ist, wo sie sich primär austoben und die deprimierenden Bedingungen ihres Alltags kompensieren können. Deprimierenden Bedingungen, die in übermäßigem Alkoholkonsum ihren Ausdruck finden. Damit überfordern ihre Interessen nicht nur die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Berater, sondern verletzten sie auch fundamental die der sog. ‚Zielgruppe‘-Jugendlichen, die ständig Opfer ihrer Aggressionen werden; Aggressionen, denen sie gerade entfliehen wollten.

Probleme mit und im Elternhaus, in der Schule bzw. Ausbildung oder schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Kriminalität, Alkohol, Schlägerei, usw.), bei der Selbstorganisierung ihrer Probleme zu betreuen, und dadurch zu verhindern, dass das Heim von der Behörde geschlossen wird. Darüber hinaus und angesichts der Tatsache, dass Berlin zu jener Zeit Hochburg der politischen Studenten war, die durch ihr politisches Engagement sowie ihre politischen Proteste tatsächlich erreichen wollten, dass sich die Gesellschaft verändert, hatten auch die in der ‚Brücke‘ tätigen PH-Studenten die Absicht, wie K. Halm im Anhang ihrer Dissertation unterstreicht, die Jugendlichen in der ‚Brücke‘ zu indoktrinieren bzw. politisch zu beeinflussen;

Sie [die ‚Brücke‘] wurde zunächst von der evangelischen Kirche getragen und von Vikaren geleitet, später vom Senat finanziert. Eine Gruppe von Sozialarbeitern und PH-Studenten, die ‚Berater‘, übernahm die Leitung. Ihre Konzeption sah eine Politisierung der ‚Brücke‘-Besucher vor. Die Jugendlichen reagierten auf die Politisierungsversuche zwiespältig, z. T. mit heftigen Aggressionen.(Halm, K. [Anhang], 1979:1)

Dass einerseits einige Jugendliche sich an gewissen Regeln im Heim nicht halten wollen, etwa den Alkoholkonsum einzuschränken, Schlägereien, Randalieren und gewaltsame Ausschreitungen zu vermeiden, das Heim sauber zu halten, und andererseits die Studenten darum bemüht sind, die im Heim existierenden Probleme irgendwie einzudämmen, um somit das Weiterführen des Heims zu gewährleisten, ist Anlass zum Konflikt zwischen beiden Gruppen, an dem sich auch zeigt bzw. gezeigt werden soll, wie in unterschiedlicher Weise bestimmte sprachliche Muster oder Verhaltensweisen, die auf unterschiedlichen sozialen Stellungen, Interessen und Erfahrungen beruhen, durchgesetzt oder legitimiert werden sollen.

Es gibt freilich keine zusammenfassende Darstellung dieser Projektarbeit bzw. keine vollständige Analyse des dabei aufgezeichneten Gesprächsmaterials. Doch es wurde in unterschiedlicher Weise in zwei wissenschaftlichen Arbeiten benutzt:

a) Einmal, mit einem kleinem Materialausschnitt, in einem ausführlicheren Beitrag (Entwicklungen der Diskursanalyse) in einem Sammelband, Studien zur Sprechakttheorie, den D. Wunderlich 1976 herausgab. In dieser an den Bedingungen sprachlichen Verhaltens interessierten Analyse gesprochener Texte der Alltagssprache wird wohl sichtbar, wie im Beitrag selbst nachzulesen ist, dass

der sprachliche Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichem Habitus, d.h. mit unterschiedlicher sozialer Stellung, mit unterschiedlichen Interessen, Sprach- und Kommunikationsgewohnheiten stets schon ein bestimmtes Konfliktpotential enthält;

Aufgrund der unterschiedlichen Interessen in der Gruppe der Jugendlichen selbst, zwischen den Jugendlichen und Studenten und im Verhältnis zu den Institutionen sowie aufgrund der bestehenden Probleme und der Notwendigkeit, sie irgendwie einzudämmen, wenn das Freizeitheim weitergeführt werden soll, besteht ein klares Konfliktpotential. In der ergebnislosen Austragung des Konflikts werden überdies Kommunikationsbarrieren sichtbar, die einen tieferen Hintergrund haben. Partiell ist dafür die soziale Herkunft bestimmend: die Jugendlichen sind zum Teil ungelernt, zum Teil ohne Arbeit und einige bereits vorbestraft, sie entstammen - soziologisch gesehen - der sozialen Unterschicht.

Die Studenten sind als Akademiker an der verbalen Austragung und Lösung von Konfliktproblemen orientiert.[…].

Die Hauptdifferenz zwischen den Studenten und Jugendlichen scheint auf der Ebene des Sprachbewusstseins zu bestehen: […]

1. Für die Studenten hat die Sprache die Funktion, individuelle Erfahrungen und Bedürfnisse im Rahmen der Gruppe öffentlich machen zu können, sie unter den Ansprüchen dieser Gruppe zu beurteilen und sie damit auch in eine neue, zum Teil argumentativ geklärte Qualität zu transformieren. Komplexe soziale Handlungszusammenhänge werden sprachlich-analytisch differenziert, damit werden Erfahrungen differenziert verarbeitet und schließlich neue Wahrnehmungsmöglichkeiten für soziale Zusammenhänge geschaffen. Letztlich ist Sprache also ein Mittel, nicht nur Erfahrungen zu verarbeiten, sondern auch neue, differenzierte Erfahrungen zu produzieren.

2. Für Jugendliche, speziell den einen unter ihnen, nämlich Hucker, hat Sprache gerade nicht die Funktion, die individuellen Erfahrungen und Bedürfnisse in der Gruppe öffentlich zu verarbeiten bzw. unter einem allgemeinen Anspruch dieser Gruppe zu reflektieren. Für sie besteht eine unüberwindbare Grenze zwischen persönlichen Empfindungen und Erfahrungen, die unter privaten Geltungsansprüchen wie Selbstachtung usw. gesehen werden, und den

Gruppeninteressen, in die ihre privaten Erfahrungen ständig hineingezogen werden. […].

Die Diskrepanz zwischen diesen beiden Formen des Sprachbewusstseins führt nun im Verlaufe der Diskussion zu ständigen Deutungsdiskrepanzen, die aber nicht mehr aufgelöst werden, sondern nur in Form von wechselseitigen Vorwürfen und Gegenvorwürfen thematisiert sind.(Wunderlich, D., 1976:383ff.) b) Zweitens wurde das im Rahmen des MV-Projekts aufgezeichnete

Gesprächsmaterial, diesmal mit einem größerem Materialausschnitt, in einer selbständigen Monographie, nämlich der 1979 angefertigten Dissertation von Katja Halm, einer Projektmitarbeiterin, mit folgendem Titel Alltagssprachliche Diskussionen: Struktur - Verlauf - Techniken benutzt. Zu diesem empirischen Material sagt sie in der Einleitung ihrer Dissertation:

Unsere damalige Arbeitsgruppe wollte anhand von empirischem Material die Verständigungsprobleme zwischen Sprechern verschiedener sozialer Schichten analysieren. Bei diesem Material handelt es sich um Tonbandaufnahmen von einer Diskussion und zwar nicht nur zwischen Sprechern aus verschiedenen sozialen Schichten, sondern auch zwischen Teilnehmergruppen mit je spezifischen Interessen in Bezug auf einen gemeinsamen Handlungszusammenhang, aus dem die Themenstellung der Diskussion resultierte.(Halm, K., 1979:1)