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Saussures Relektüre: Dekonstruktion und abschließende Kritik

2.   Sprache als Zeichenkonstitution: Saussures Neuansatz der Sprachwissenschaft

2.4.   Saussures Relektüre: Dekonstruktion und abschließende Kritik

Als einer der meistzitierten Sprachtheoretiker gilt Ferdinand de Saussure heute allgemein als der Begründer der ‚modernen’ Sprachwissenschaft und die im Cours de linguistique générale

‚innovatorischen’ dargelegten Prinzipien (die Betonung des Sprachsystems und der Synchronie) als die theoretische Grundlage des linguistischen Strukturalismus. Dies zeigt sich daran, dass man zu Recht die Geschichte der Sprachwissenschaft in eine Geschichte der Sprachwissenschaft vor Saussure und eine nach Saussure unterteilt hat;

[…] man könnte die Entwicklung der Sprachwissenschaft in eine Periode vor und eine nach Saussure einteilen. (Arens, H., 1969:573)

Doch inwiefern die Gedanken in Cours tatsächlich dem Saussureschen Denken zuzuordnen sind, bleibt bis heute nicht hundertprozentig geklärt. Dies lässt sich schon daraus erklären,

21 Psychischer Natur deswegen, weil die Zeichenvorstellung von Saussure aus einer Form (dem Lautbild) und einem Inhalt (dem Konzept) besteht, die beide in dem Kopf des Sprechers, und nicht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, zu finden sind.

dass viele Quellenstudien und kritische wissenschaftliche Publikationen den Verdacht bestärkt haben, dass Saussure nicht mit der Prinzipienlehren-Tradition aus dem letzten Drittel des 19.

Jahrhunderts radikal bricht, letztere eher fortführt und letztendlich als erster am konsequentesten zuspitzt bzw. in einen großen Zusammenhang bringt - darin liegt eines seiner großen Verdienste. Damit wird wohl deutlich, dass er nicht der ganz erste gewesen ist, der diese Differenzierungen und Systemfähigkeit der Sprache postuliert hatte, zumal der Cours, wie bereits erwähnt, ein von Saussure selbst nicht redigiertes Werk ist, das sowohl Saussures Anhänger als auch Kritiker auf unterschiedliche Art gelesen und interpretiert haben. Dazu schreibt Koerner in seinem Saussure-Buch:

The fact that Saussure did not consider publishing his lectures on general linguistics and that they were compiled after his death with the help of students´

notes constitutes a problem which will be dealt with in the section devoted to an analysis of the most influential aspects of Saussurean linguistic theory.(Koerner 1973:31)

Von daher die vielen disziplinübergreifenden und historischen Rekonstruktionsversuche des

‚authentischen Saussure’, mit denen seine authentische Sprach-Idee kritischer eruiert werden kann, etwa durch den Genfer Turkologen und Bally-Schüler Robert Godel (1902 - 1984)22, die Aachener Sprach- und Kommunikationswissenschaftler Ludwig Jäger (* 1943) und Christian Stetter (* 1943) oder beim Italiener und Herausgeber der 1972 in Paris erschienen kritischen Edition des Cours de linguistique générale Tullio de Mauro (* 1932);

Wie angesichts der Art der Entstehung des ‚Cours’ nicht anders zu erwarten, sind manche Zweifel an der Authentizität zahlreicher Passagen und Gedankengänge aufgekommen und haben eine intensive Saussure-Forschung ausgelöst.(Heeschen, C., 1972:21)

Die sicherlich oft aus rein methodologischen Gründen entwickelten Dichotomien, mit denen Saussure den Modernitätsanspruch der Sprachwissenschaft begründete, lassen sich also bereits bei einigen seiner Vorläufer und Zeitgenossen (auch in der Leipziger Schule) als

22 Unter dem Titel Les sources manuscrites du Cours de linguistique générale de Ferdinand de Saussure erschien 1957 in Genf Robert Godels Dissertation, die - auf Anregung von Henri Frei und nach dem Tod der beiden Herausgeber des Cours verfasst - in der Tat eine Kompilation aus handschriftlichen Aufzeichnungen Saussures ist, die Godel als ‚Quellen‘ für den Cours ansah.

vorhanden bzw. angedacht nachweisen23; etwa bei Schulgrammatikern jener Zeit, die mit Regeln der Schulgrammatik immer synchronisch vorgegangen sind, oder bei August F. Pott, Hermann Paul, dem Systemtheoretiker der Junggrammatiker, und vor allem bei Georg von der Gabelentz (1840 - 1893), den Saussure in seiner Leipziger Zeit24 sehr wahrscheinlich gekannt hat. Fünfundzwanzig Jahre vor dem Erscheinen des Cours de linguistique générale, d.h. in seinem im Jahre 1891 erschienenen und im Jahre 1901 von seinem Neffen Albrecht Graf von der Schulenburg (1865 - 1902) überarbeiteten Hauptwerk Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, nahm bereits Gabelentz Saussure vorweg, indem er folgende Worte formulierte:

Jede Sprache ist ein System, dessen sämmtliche Theile organisch zusammenhängen und zusammenwirken. Man ahnt, keiner dieser Theile dürfte fehlen oder anders sein, ohne dass das Ganze verändert würde. Es scheint aber auch, als wären in der Sprachphysiognomie gewisse Züge entscheidender als andere. Diese Züge gälte es zu ermitteln; und dann müsste untersucht werden, welche anderen Eigentümlichkeiten regelmäßig mit ihnen zusammentreffen. Ich denke an Eigentümlichkeiten des Wort- und Satzbaues, an die Bevorzugung oder Verwahrlosung gewisser grammatischer Kategorien. Ich kann, ich muss mir aber auch denken, dass alles dies zugleich mit dem Lautwesen irgendwie in Wechselwirkung stehe. Die Induktion, die ich hier verlange, dürfte ungeheuer schwierig sein; und wenn und soweit sie gelingen sollte, wird es scharfen philosophischen Nachdenkens bedürfen, um hinter der Gesetzlichkeit die Gesetze, die wirkenden Mächte zu erkennen. Aber welcher Gewinn wäre es auch, wenn wir einer Sprache auf den Kopf zusagen dürften: Du hast das und das Einzelmerkmal, folglich hast du die und die weiteren Eigenschaften und den und den Gesamtcharakter! - wenn wir, wie es kühne Botaniker wohl versucht haben, aus dem Lindenblatte den Lindenbaum konstruieren könnten. Dürfte man ein ungeborenes Kind taufen, ich würde den Namen Typologie wählen. Hier sehe ich der allgemeinen Sprachwissenschaft eine Aufgabe gestellt, an deren Lösung sie

23 Für einen Überblick nenne ich aus der Fülle der Literatur lediglich Erben Johannes (* 1925) [1977] mit Hinweis auf W. v. Humboldt und A. F. Pott.

24 Georg von der Gabelentz erhielt im Herbst 1878 einen Ruf als Professor für ostasiatische Sprachen der Universität Leipzig. Saussure kam im Jahre 1876 als neunzehnjähriger Student nach Leipzig. Er hörte bei August Leskien Slavisch und Litauisch, bei Heinrich Hübschmann Altpersisch, bei Ernst Windisch Keltisch und bei Georg Curtius Vergleichende Sprachwissenschaft. Weiterhin besuchte er Vorlesungen und Übungen bei Braune, Osthoff und Brugmann.

sich mit ihren heutigen Mitteln wagen darf. Hier würde sie Früchte zeitigen, die denen der sprachgeschichtlichen Forschung an Reife nicht nachstehen, an Erkenntniswerte sie wohl übertreffen sollten. Was man bisher von geistiger Verwandtschaft, von verwandten Zügen stammverschiedener Sprachen geredet hat, das würde sofort greifbare Gestalt gewinnen, in ziffernmäßig bestimmten Formeln dargestellt werden; und nun träte das spekulative Denken an diese Formeln heran, um das Erfahrungsmäßige als ein Notwendiges zu begreifen.(Gabelentz, Georg von der, 1901:481)

Auch bei Gabelentz ging es nicht um das Sprechen, sondern um das System der Sprache. Eine weitere Bestätigung dafür, dass Saussures Ideen bereits früher in der Luft lagen, besonders bei Gabelentz, bringen uns folgende Worte des deutschen Sprachwissenschaftlers Karl Heinz Rensch (* 1936):

Die Übereinstimmung zwischen Saussure und von der Gabelentz beschränkt sich nicht allein auf die Dreieinteilung der Sprache in langue, langage und parole. Sie geht weiter. Auch die Scheidung von synchronischer und diachronischer Sprachwissenschaft im Cours de linguistique générale findet sich bereits bei Georg von der Gabelentz. Wenn auch nicht die heute gebräuchlichen Termini fallen, so werden doch die Sachverhalte mit solcher Eindeutigkeit beschrieben, dass kein Zweifel besteht, was gemeint ist.

Von der Gabelentz unterscheidet zwischen historisch-genealogischer Sprachforschung, die zu seiner Zeit als das Hauptanliegen der Sprachwissenschaft betrachtet wurde, und der einzelsprachlichen Forschung.

Dass mit diachronischer Sprachwissenschaft bzw. historisch-genealogischer Sprachforschung bei beiden dasselbe gemeint ist, wird schon aus der Bezeichnung klar. Anders verhält es sich mit dem Begriff „einzelsprachliche Forschung“. Wo gibt es da Beziehungen zu dem, was de Saussure synchronische Sprachwissenschaft nennt?

[...] Von der Gabelentz hat der Forschung, die das System einer Sprache zum Gegenstand hat, den Namen einzelsprachliche Forschung gegeben.(Rensch, H., 1966: 36ff.)

Hier wird wohl deutlich, dass Saussure Ideen aufgriff, die bereits im 19. Jahrhundert u.a. unter dem Stichwort Organismus25 diskutiert wurden, führte danach den alten aristotelischen (nicht den platonischen) Zeichenbegriff fort und spitzte diese Ideen zu, indem er daraus eine Zeichen- bzw. Sprachtheorie entwickelte26, welche Sprache als Zeichensystem definiert, mit dessen Hilfe der Mensch Ideen ausdrücken kann (vgl. Saussure 1916:155).

Die besonders in der deutschen Germanistik erst mit Verspätung vorgenommene quellenkritische Rezeption Saussurescher Gedanken über die Systemfähigkeit der Sprache hat also seine Kritiker dazu gebracht, die Sprache bzw. seine Zeichenkonzeption als etwas Gegebenes, eine statische Erscheinung, eine bloß formale und somit inhaltsleere Angelegenheit oder auch als eine in sich geschlossene autonome Menge von Zeichen, die durch Regeln miteinander verbunden werden, anzunehmen, d.h. solche, welche funktional nicht in die gesellschaftliche Wirklichkeit eingebettet sind. Somit wurden soziale, kulturelle, psychologische oder auch anthropologische Bezüge aus der Sprachwissenschaft ausgegrenzt und die Sprache quasi isoliert betrachtet27. Damit wird wohl deutlich, dass eine gewisse empirische Historizität28 der Sprache in Saussureschem semiotischem Ansatz fehlt; das ist zum Beispiel eine Kritik, die N. Chomsky an ihn ausübt, der sich mit seiner generativen Transformationsgrammatik stärker auf Humboldts energetischer Sprachauffassung bezieht, d.h. von Kreativität des sprachlichen Zeichensystems spricht und in der Saussureschen langue

25 Immerhin kommt auch im Cours noch gelegentlich der Terminus Organismus vor: „Nous ne parlons plus les langues mortes, mais nous pouvons fort bien nous assimiler à leur organisme linguistique“ (Saussure, 1972:31).

26 Saussure nennt sie Semeologie; heutzutage benützt man eher den vom amerikanischen Semiotiker Charles Sanders Peirce (1839 - 1914) verwendeten Ausdruck Semiotik.

27 Das Bemühen von Saussure, was zumindest auch im Cours im Allgemeinen erkennbar ist, liegt einfach darin, dass er für die Sprachwissenschaft einen spezifischen Gegenstand entwickeln möchte, den nur die Sprachwissenschaft bearbeiten kann. Ansonsten käme die Sprachwissenschaft in Konkurrenz mit all den anderen Wissenschaften wie Geschichte, Ethnologie, Anthropologie, Philologie, usw.

Für Saussure soll sich der moderne Sprachwissenschaftler nur auf den Kreislauf des Sprechens konzentrieren, nämlich auf diese Stelle, wo sich das Lautbild mit dem Konzept vereinigt: eine interne Zeichentheorie also, die andere Bereiche ausblendet.

28 Hier bezieht sich die Historizität der Sprache, in einem sehr viel breiten Sinne, nicht allein auf das Vergangene oder das Gewordene oder auch das Werdende, sondern auf die Differenz des Sprachbesitzes und -gebrauchs, denn der tatsächliche Sprachgebrauch innerhalb der Sprachgemeinschaft ist, wie bereits erwähnt, nicht einheitlich, zumal verschiedene Sprecher leicht verschiedene Formen gebrauchen, und auch ein und derselbe Sprecher variiert beim Sprechen.

nur ein „store of signs“ sieht (vgl. Chomsky 1964:23). Sprache ist für Chomsky vielmehr ein zeichenerzeugendes System und nicht ein System von Zeichen und Regeln.

Obwohl die Zeichentheorie von Saussure einen beachtlichen Allgemeinheitsgrad erlangte (sie kann durchaus als erfolgreiches didaktisches Modell angesehen werden), lassen doch die vorhergehenden Ausführungen deutlich festhalten, dass Fragen bezüglich der sozialen Verwendung von Sprache in Kommunikationssituationen systematisch und funktionalistisch ausgeklammert blieben. Saussures Überbetonung der Synchronizität der modernen Sprachwissenschaft, die sich, wie bereits erwähnt, allein auf der Basis der Forderung nach beschreibungsmethodischer Explizitheit auf die Informationsfunktion des sprachlichen Zeichens beschränkt und es nicht als Funktion von etwas anderem behandelt, enthält, Saussures Kritiker zufolge, Lücken und Nachteile. An dieser Stelle setzen vor allem die Kritiker des Strukturalismus à la Saussure ein, zumal fast in der gleichen Zeit wie Saussure der einflussreiche amerikanische Linguist und Philologe William Dwight Whitney (1827 - 1894) lebte und in seinen linguistischen Ansätzen viel Wert auf das Konventionelle und Gesellschaftliche der Sprache legte.

Saussures Sprachbegriff ist also deshalb rein abstrakter Natur und positioniert somit die Sprache auf einer artifiziellen Ebene, weil er nicht nur den uns interessierenden Bereich, nämlich die Sozialität des sprachlichen Zeichens, bzw. die referenzsemantische und semiotisch-pragmatische Dimension der Sprache kaum erfasst bzw. de facto weitgehend ausklammert. Darüber hinaus richtet sich sein Fokus nicht nur auf die ahistorische (synchrone) Betrachtung und Beschreibung der langue, sondern er transportiert, wie die deutsche Romanistin Heidrun Pelz (* 1935) meint, zugleich ein Sprachbild, das die für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit zentralen sprachlichen sowie außersprachlichen Phänomene nicht ausreichend modellieren kann.

De Saussures dyadisches Zeichenmodell beschränkt sich auf zwei rein physische Größen signifiant und signifié, zwischen denen es eine rein statische Beziehung etabliert, die außersprachliche Wirklichkeit (die schließlich ein nicht unwesentlicher Grund für die Existenz von Sprache als Zeichen ist) hat in diesem Modell keinen Platz.(Pelz, H., 1999:48)

Ferner reduziert sein Ansatz die kommunikativen Handlungen des sprechenden Subjekts auf die scheinbar allgemeinen, allen Subjekten der Sprachgemeinschaft inkorporierten

Kompetenzen, die notwendig sind, um kommunikative Handlungen hervorzubringen und zu verstehen. Von daher ist wohl nachvollziehbar, weshalb ein solcher zu idealistischer Ansatz keine deutliche Antwort auf die Frage liefern kann, welchen Zweck der Mensch als sprechendes Subjekt tatsächlich verfolgt, wenn er Ideen ausdrückt bzw. wenn er sich der Sprache bedient.

Ab den späten zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde Saussures Sprach- und Zeichenmodell von seinen Nachfolgern, der Genfer und vor allem der Prager Schule, die bei ihm das Fehlen einer Linguistik der parole bemängeln, aufgegriffen und auf zahlreiche

‚Texturen‘ (Poesie, Architektur, usw.) ausgedehnt. Somit versuchten die auf ihn folgenden linguistischen Schulen des Strukturalismus, die sich nicht immer in der mehr oder weniger strikten Befolgung des einen oder anderen Leitmerkmals des Saussureschen Gedankenguts einig waren und zum Teil unabhängig oder parallel eigene Wege beschritten, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die funktionelle Dimension des sprachlichen Zeichens der strukturellen Auffassung von der Sprache eingegliedert werden kann, denn im Blick auf das Bühlersche Organon-Modell29 und die darin beanspruchten drei kommunikativen Funktionen der Sprache, die wir im Folgenden näher erläutern werden, berücksichtigt Saussures Sprachtheorie nämlich nur die Darstellungsfunktion und verliert zugleich mit dem Sprecher als realem Sprachbenutzer auch die Ausdrucks- und die Appellfunktion des sprachlichen Zeichens.

29 Karl Bühler wird hier deshalb herangezogen, weil, wenn man sich mit der Funktion bzw. den Funktionen von der Sprache befassen will, es unvermeidlich ist, auf ihn zu sprechen zu kommen.