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Kritik an der Abbildfunktion von Sprache

4.   Sprache als mentale Verarbeitung von gesellschaftlicher Wirklichkeit: Von Wilhelm von

4.1.   Kritik an der Abbildfunktion von Sprache

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Saussures semiotischer Ansatz darauf abzielte, die Autonomie der modernen Sprachwissenschaft, wie im Unterkapitel 2.2. der vorliegenden Arbeit (vgl. 2.2. Saussure und der Anspruch auf eine neue bzw. ‚moderne’

strukturelle Sprachwissenschaft) dargelegt, gegenüber anderen Wissenschaften, etwa der Philologie (die in der Zeit der Junggrammatiker eine dominierende Rolle spielte bzw. die Oberhand hatte), der Sozialpsychologie, der Physiologie und den Naturwissenschaften zu begründen. Dafür legte er ein reduziertes Zeichen- bzw. Sprachmodell zugrunde, das besonders durch seine Axiome (Dichotomien) bestimmt war. Die Tatsache, dass Saussure sich auf ein abstraktes Zeichenmodell konzentrierte, sollte aber nicht heißen bzw. den Eindruck vermitteln, dass er die weiteren Aspekte der Sprache, die er ausklammert, wenn er die Unterscheidung zwischen interner und externer Linguistik macht, gar nicht kennt bzw.

negiert. Der Beweis dafür kommt aus dem Cours selbst, denn wenn man ihn durchliest, dann fällt ja auf, dass dieses Werk noch andere Teile enthält, etwa einen geographischen Teil im Kapitel IV (geographische Sprachwissenschaft) und eine ausführliche historische Sprachwissenschaft im Teil V (Fragen der retrospektiven Sprachwissenschaft), die in der klassischen Saussure-Rezeption keine so große Rolle gespielt haben, in denen aber deutlich wird, dass Saussure durchaus noch ein weiteres Bild von Sprache als jenes reduzierte hatte.

Im Interesse einer Autonomie der modernen Sprachwissenschaft, wie sie von Saussure postuliert und sogar gefordert, wurde dieser Weg der technizistischen Konzentration und Reduktion der Sprache später von einigen Sprachtheoretikern noch verschärft, etwa dem Dänen L. Hjelmslev, der Saussures Standpunkt konsequent verfochten und - im Rahmen seines immanentistisch-strukturellen Ansatzes - radikalisiert und ‚linguistisiert’ hat (vgl. dazu Trabant 1986:93). Unter Beibehaltung des System- und Strukturkonzepts gingen dagegen die Prager Funktionalisten einen anderen Weg und nahmen diese Reduktion und Formalisierung der Sprache teilweise zurück. Das wird besonders durch die Betonung des Organon-Charakters der Sprache bei Bühler deutlich, in dessen Ansatz, über die traditionelle zentrale

denotative Funktion der Wirklichkeitsdarstellung hinaus, die schon seit der Antike im Rahmen der Erkenntniskritik der Sprache diskutiert wurde, nun auch andere Sprachfunktionen in den Blick kommen, selbst wenn sie weniger ausgearbeitet werden: die Ausdrucks- und Appellfunktion der Sprache. Dies führte u.a. zu einer stärkeren Beschäftigung mit Phänomenen der parole (Funktionalstilistik) und der Diachronie; kurz gesagt, zu einem stärkeren Einbezug der externen Sprachwissenschaft, die Saussure immer programmatisch zurückgestellt hatte.

Die Dominanz der Darstellungsfunktion, die auch noch bei Bühler die wichtigste der drei Grundfunktionen der Sprache ist und als eine Art Abbildungsverhältnis im Aristotelischen Sinne49 oder auch nach der Augustinischen Sprachauffassung50 verstanden wird, musste aber zu einer idealisierten Vorstellung von Sprache führen, die der kulturell-historischen Sprachpraxis, in der Menschen leben, nicht entspricht. Dass eine solche ahistorische Vorstellung von Sprache nicht haltbar ist (die Gegenstände stehen nicht im Voraus fest), lässt sich auch an drei Evidenzen bzw. Beobachtungen festmachen:

a) An der Sprachverschiedenheit und zwar sowohl der inneren Sprachverschiedenheit als der existierenden Erscheinungsformen einer ‚lebenden‘ Sprache (Dialekte, Sondersprachen, Fachsprachen, Umgangssprachen, Standardsprachen, Stadtsprachen, usw., in denen große Verschiedenheiten feststellbar sind) als auch der äußeren Sprachverschiedenheit, d.h. den rund 6500 verschiedenen Sprachen, die weltweit in

49 Sprachtheoretisch gesehen, setzt Aristoteles eine Welt voraus, in der nicht nur Gegenstände für alle Sprachbenutzer gleich sind, sondern die Vorstellungen über die Gegenstände, die durch die Wörter, Begriffe oder sprachlichen Äußerungen abgebildet bzw. repräsentiert werden, in der historischen oder physischen Welt schon im Voraus prototypisch festgelegt sind.

50 Nach der Augustinischen Zeichentheorie, die wesentlich eine Reflexion über Wörter als Zeichen ist und die er bereits in dem etwa 389 entstandenen Dialog De magistro [Dt. Über den Lehrer] entwickelte, werden das Wort als Zeichen und das Zeichen selbst als eine erkenntnistheoretische Eigentümlichkeit betrachtet. Das heißt, Wörter sind per Definition materielle Gebilde bzw. Zeichen, wobei beim Zeichen aber nicht so sehr darauf ankommt, was das Zeichen ist, sondern auf die Sache, die das Zeichen bezeichnet, worauf es verweist, sozusagen auf seine Benennung, seine Bedeutung. Während eines sprachlichen Austauschs werden Wörter von einem Sprecher (loquens) ausgesprochen, die von einem Hörer (audiens) wahrgenommen und verstanden werden.

Durch dieses Verstehens wird die Aufmerksamkeit des Hörers auf einen Gegenstand als Pendant des Zeichens der natürlichen Wirklichkeit gelenkt wird. Augustinus versteht daher das Wort und damit die Sprache als etwas, was sich zwischen den Menschen ereignet, in dem Wörter auf Gegenstände hinweisen, um das Bezeichnete hervortreten zu lassen.

unterschiedlichen Situationen und Kontexten gesprochen werden und immer wieder unterschiedliche Konzeptualisierungen zeigen. Von daher kann es keine von vornherein feststehenden sprachlichen Konzepte geben51.

b) Am Sprachwandel als natürlichen Prozess, durch den die in Sprache gebundenen Vorstellungen bzw. die durch Sprache gebildeten Zeichen deshalb fortlaufend, permanent semantisch verändert werden, weil die objektive Wirklichkeit dynamisch bearbeitet wird. In seinem Aufsatz Sprache als historischer Gegenstand (2003)52 weist der Göttinger Germanist und Sprachwissenschaftler Dieter Cherubim (* 1941) darauf hin, dass jede lebende bzw. natürliche Sprache immer auch als historischer Gegenstand zu betrachten ist, denn sie unterliegt Veränderungen, solange sie lebt bzw.

verwendet wird.

c) Die dritte Evidenz bzw. Beobachtung, an der sich die Nicht-Haltbarkeit einer solchen ahistorischen Vorstellung von Sprache festmachen lässt, ist der Sprachgebrauch selbst;

vor allem in kommunikativen, sozialen Situationen oder Zusammenhängen, in denen Sprachbenutzer unterschiedliche Vorstellungen haben bzw. gemeinsame Vorstellungen erst aushandeln müssen. Demzufolge prallen Meinungen aufeinander, etwa in politischen Debatten zwischen Protagonisten unterschiedlicher politisch-ideologischer Lager oder in Kommunikationssituationen zwischen Fachleuten und Laien.

An den eben drei erwähnten Punkten, die alle den lange in der sprachwissenschaftlichen Diskussion geltenden einfachen Abbildungscharakter der sprachlichen Darstellung ad absurdum führen bzw. in Frage stellen, setzt dann auch die moderne Sprachphilosophie des Wiener Philosophen und Sprachanalytikers Ludwig Josef Johann Wittgenstein (1889 - 1951) sinnvollerweise ein53:

51 An dieser Stelle kann sehr schön auf den für die Vielfalt der Differenzierungen bzw. der Variationen von Sprachen von H. Henne (1986) ins Spiel gebrachte Terminus ‚innere und äußere Mehrsprachigkeit‘ verwiesen werden.

52 Cherubim, Dieter 2003: Sprache als historischer Gegenstand. In: Linke, A., Ortner, H., & Portmann-Tselikas, P.R. (Hrsg.) Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis (S. 231 - 242). Tübingen:

Niemeyer.

53 In seinen früheren Schriften, besonders in seinem sprachanalytischen Tractatus Logico-Philosophicus (1921), in dem es um den Zusammenhang von Welt und Sprache geht, entwickelt Wittgenstein die Idee einer

Ludwig Wittgenstein […] hat zwei grundverschiedene Philosophien entwickelt;

die erste, etwa 1920 vollendet, ausgedrückt in ‚Tractatus logico-philosophicus’, die zweite, etwa 1930 begonnen und nie vollendet, gipfelnd in den

‚Philosophischen Untersuchungen’. Wie der ‚Tractatus’ eines der Hauptwerke des idealsprachlichen Trends der analytischen Philosophie ist, so gehören die

‚Philosophischen Untersuchungen’ zu den drei Hauptwerken der Philosophie der normalen Sprache.

[…]: wir fassen sie [Die Philosophischen Untersuchungen] auf als die in der Auseinandersetzung mit der Gegenstandstheorie der Bedeutung entwickelte Vorstellung Wittgensteins davon, wie die Sprache sinnvoll ist - woher die Wörter ihre Bedeutung nehmen.(Savigny, E. v., 1969:13ff.)

Kennzeichnend für Wittgensteins programmatischen Ansatz ist die Vorstellung, die Bedeutung eines Wortes sei sein Gebrauch in der Sprache, später verbessert durch die konsensfähigere Formulierung, die Bedeutung eines Wortes sei das, was sein situativer Gebrauch in der Sprache erklärt, d.h. sie wird durch Kommunikation konstruiert;

Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.(Wittgenstein, L., PU, §1)

An diesem Zitat lässt sich dann festmachen, dass die Verwendung von Wörtern, Begriffen oder sprachlichen Äußerungen, die sich ihrem Wesen nach über die verschiedensten Kontexte

künstlichen und logisch vollkommenen bzw. Idealsprache (die von allen Widersprüchlichkeiten und kulturbedingten Mehrdeutigkeiten gereinigt und sowohl klare logische als auch realbezogene Begriffe vermitteln kann), indem er davon ausgeht, dass natürliche Sprachen in ihrem alltäglichen Gebrauch - weil sie Wirklichkeit abbilden - sehr ungenau, defizitär, den strengen Ansprüchen der Logik nicht genügen und für Zwecke der Wissenschaft, der Philosophie bzw. für klares Reden nicht geeignet seien. Interessanter für die Problematik der vorliegenden Arbeit sind zweifellos Wittgensteins spätere Schriften in seiner 1953 posthum veröffentlichten Abhandlung Philosophische Untersuchungen, in der er das Ungenügen seiner früheren Thesen nicht nur diskutiert, sondern auch revidiert bzw. verwirft [Zweck von Sprache ist ja hier nicht mehr (ausschließlich) die Abbildung der Wirklichkeit]. So lehnt er, in seiner viel beachteten Gebrauchstheorie der Bedeutung, eine künstliche und logisch vollkommene bzw. Idealsprache ab und erkennt dafür eine Vielfalt von Sprachspielen der natürlichen Sprachen. Demzufolge kann der Mensch ausschließlich über die wahrnehmbaren Gegenstände der Welt reden und nicht über abstrakte Begriffe, denn erst wenn wir den konkreten Gebrauch einer Äußerung im sprachlichen und außersprachlichen Kontext untersuchen, dann können wir z.B. die Täuschungsmanöver besser erfassen, die unsere alltäglichen Kommunikationssituationen bestimmen.

hinwegbewegen, sehr verschiedenartig sein kann. Um deren spezifischen kommunikativen Bedeutungen erschließen zu können, stellte Wittgenstein eine Theorie auf, die an der Sprachpraxis bzw. an deren situativen Gebrauch in den vielfältigen Situationen des alltäglichen Lebens orientiert ist54. Dadurch, dass die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung nur im konkreten Sprachgebrauch, in kontingenten Handlungskontexten und komplexen Lebensformen hergestellt bzw. festgelegt werden kann, kann folgerichtig behauptet werden, dass die Sprache als ein Medium zur Mitteilung von Gedanken über Gegenstände und Sachverhalte per se die objektive Wirklichkeit bzw. die Verhältnisse in der Welt nicht einfach abbildet, repräsentiert oder wiedergibt, sondern an der Erfahrung der Welt als Wirklichkeit wesentlich beteiligt ist bzw. ein Repräsentationssystem darstellt, das auch u.a. von der Macht legitimer Benennung und Weltdeutung durchdrungen ist, denn wer die Begriffe besetzt und definiert, der verschleiert nicht nur gesellschaftliche Verhältnisse, sondern konstruiert eine gesellschaftliche Wirklichkeit auf der Basis seiner Ideologie. Dies kann sich anhand der Angriffskriegs-Rhetorik des 43. amerikanischen Präsidenten George Walker Bush (* 1946) und seiner neokonservativen Regierung gut verdeutlichen lassen, die, nach den Anschlägen vom 11. September 2001, vor allem im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Irak-Feldzug, unermüdlich bemüht gewesen sind, durch sprachliche Regelungen der Art Achse des Bösen, Schurkenstaaten55, Kreuzzug gegen den Terrorismus, Gott mit uns, gottgewollt, usw., die Welt in ihrem Interesse zu ordnen bzw. zu ‚konstruieren‘.

Diese Vorstellung bzw. These, dass Darstellung nicht einfache bzw. direkte Abbildung ist, d.h. Sprache und Sprachen eine objektive Welt bzw. eine soziale Wirklichkeit nicht abbilden, sondern soziale Wirklichkeit konstruieren, ist zwar ein moderner sprachtheoretischer Ansatz,

54 Für das Vorkommen von Wörtern, Begriffen oder sprachlichen Äußerungen in kontext- und situationsgebundenen und abhängigen Zusammenhängen verwendet Wittgenstein das Bild oder die Metapher des Sprachspiels. Dies wird am Unterschied der Denotation und der Konnotation von Wörtern, Begriffen oder sprachlichen Äußerungen verdeutlicht. Die Denotation von Wörtern, Begriffen oder sprachlichen Äußerungen ist fest und objektiv, während ihre Konnotation, die meistens auf individuelle Assoziationen verweisen, in der Regel kontext- und situationsgebunden und abhängig ist.

55 In seiner 48-minütigen jährlichen Rede zur Lage der Nation am 29.01.2002 sprach George W. Bush erstmals öffentlich von einer Achse des Bösen (Bush: States like these, and their terrorist allies, constitute an axis of evil, arming to threaten the peace of the world.), der Schurkenstaaten (rogue states) wie Regimen in Irak, Iran und Nordkorea angehören. Hauptkennzeichen dieser Staaten waren nach Auffassung der US-Administration ein diktatorisches und menschenverachtendes Regime, der Besitz von bzw. das Streben nach Massenvernichtungswaffen und die Unterstützung - oder gar Beherbergung - terroristischer Netzwerke wie Al-Qaida des Islamisten Osama Bin Laden (* 1957).

doch nicht ganz neu, denn sie lässt sich eben durchaus auch schon in älteren Reflexionen über Sprache festmachen, etwa im 18. Jahrhundert in Johann Gottfried Herders (1744 - 1803) Nationalphilologie und vor allem im 19. Jahrhundert bei W. v. Humboldt, in dessen romantischer Sprachtheorie, in der die Sprache uns in ihrem wirklichen Wesen nicht in erster Linie als Werkzeug oder Werk (εργον), sondern als reine Tätigkeit bzw. Kreativität (ενεργεια) entgegentritt, wir zwei Kernbegriffe herausgreifen, die für unsere Diskussion hier maßgeblich sind:

a) Der Begriff der inneren Form von Sprache, welche der äußeren Sprachform (Lautform) vorausgeht und mittels derer Gedanken und die eigentümliche Weltansicht von Sprachbenutzern objektiviert werden,

b) Der Begriff der enérgeia bzw. sprachzeichenschaffende Kraft oder lebendige Sprachtätigkeit.

4.2. Anteil der Sprache am Prozess der Konstruktion der sozialen