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Das Transkriptionsverfahren HIAT

6.   Diskurse und die Inszenierung sozialer Macht: Zum sprachsoziologischen Ansatz von

7.3.   Das Transkriptionsverfahren HIAT

Von ganz besonderer Bedeutung für die Auswertung bzw. weitere Bearbeitung von bereits erfassten und auf Videogeräten bzw. Tonträgern festgehaltenen authentischen Elementen einer Konversation, eines Dialogs, eines Gesprächs sowie eines gesprochenen Diskurses, wie es der Fall bei dem uns vorliegenden empirischen Material ist, sind ihre detaillierte Verschriftung (Transkription) sowie die Analyse dieser schriftlichen Notationen unter Fragestellungen, die vorwiegend aus dem empirischen Arbeitsmaterial selbst entwickelt und theoretisch geklärt werden. In diesem Sinne bezieht sich der Terminus ‚Transkription‘ (Vom Lateinischen transcribere - (hin)überschreiben, umschreiben, schriftlich übertragen) auf die in

möglichst vielen Details (Pause, Unterbrechungen, Versprecher, Reparaturen, simultanes Sprechen, usw.) wiedergegebene bzw. wissenschaftliche Verschriftung eines gesprochenen Diskurses in einem situativen Kontext mit Hilfe vorher vereinbarter alphabetischer und anderer Schriftzeichen und Symbole, die auf kommunikatives Verhalten verweisen. Das Erstellen von sorgfältigen Transkripten, besonders dann, wenn mehrere Gesprächsteilnehmer zum Teil simultan sprechen, erfordert einen hohen Arbeitsaufwand und die Entscheidung für oder gegen ein Transkriptionsverfahren bestimmen einerseits die durch die Art der Aufzeichnung zur Verfügung stehenden Aspekte der Kommunikation, andererseits u.a. auch folgende Fragen:

a) Wie soll die Transkription in der Gesamtlage aussehen?

b) Was wird von den verbalen Phänomenen transkribiert?

c) In wie weit sollen paraverbale Phänomene erfasst werden?

d) Soll nonverbales Verhalten miterfasst und was davon in die Transkription hineingenommen werden?

Für die vorliegende Arbeit, deren Korpus aus Tonbandaufnahmen von authentischen Gesprächen mit mehreren Sprecherinnen bzw. Sprechern besteht, wurde damals eine innovative und im deutschen Sprachraum sehr erfolgreiche Transkriptionstechnik entwickelt, nämlich die ‚Halbinterpretative Arbeitstranskriptionen‘ (HIAT); halbinterpretativ deswegen,

weil der Transkribent einerseits in der Gliederung und Kommentierung auf der Grundlage seiner reflektiert eingesetzten Alltagskenntnisse von der Sprache eine Strukturierung des sprachlichen Materials bereits vornimmt; weil er aber andererseits keine darüber hinausgehenden lnterpretationsraster über das Material legt.(Ehlich, K. / Rehbein, J., 1976:22ff.)

Das heißt, dass bei der Verschriftlichung des verbal Ausgedrückten schon eine Reihe theoretischer bzw. interpretativer Entscheidungen im Hinblick auf das Analyseziel vom Transkribenten vorgenommen werden können. Dieses Verschriftungssystem diskursiver Daten für Zwecke der linguistischen Diskursanalyse, welches 1976 maßgeblich von K. Ehlich und J. Rehbein entwickelt und 1979 um intonatorische Phänomene und die Notation

nichtverbaler Phänomene bzw. Äußerungen der beteiligten Sprecher (etwa Lachen oder Räuspern) erweitert wurde, knüpft nicht nur an das konversationsanalytische Transkriptionsverfahren an, sondern wurde seit der kommunikativ-pragmatischen Wende das in Deutschland am häufigsten benutzte standardisierte System. Grund dafür ist, wie schon K.

Halm in dem Anhang ihrer Dissertation erwähnt, wohl die Tatsache, dass es damals noch keine vernünftige Transkriptionstechnik gab;

Zur damaligen Zeit standen uns keine, für unsere Zwecke brauchbare Transkriptionsverfahren zur Verfügung, so dass wir unser eigenes entwickeln mussten. Verglichen mit anderen, inzwischen vorgestellten Transkriptionssystemen (vgl. Ehlich / Switalla 1976) entspricht es am ehesten - wenn auch noch nicht so detailliert ausgearbeitet - den ‚Halbinterpretativen Arbeitstranskriptionen‘.(Halm, K., 1979:2)

Heutzutage und aufgrund der Fortschritte der elektronischen Datenverarbeitung bzw. der Digitalisierung wurden das HIAT-Transkriptionsverfahren als Computerversionen

‚MacIntosh‘ und ‚HIAT-DOS 2.2‘ 117 sowie andere modernere Verschriftungssysteme (weiter)entwickelt118.

Das wesentliche Kennzeichen von HIAT als diskursanalytischem Verfahren besteht, wie in der Musik, in der sog. Partitur-Schreibweise, in der das Gesprochene für jeden Sprecher bzw.

jede Sprecherin in einer eigenen, im Prinzip beliebig langen Zeile transkribiert wird. In seinem 2004 erschienenen Buch Transkription - ein Leitfaden mit Aufgaben für Studenten, Forscher und Laien sagt der Berliner Sprachwissenschaftler Norbert Dittmar (* 1943) :

Mit der Partiturschreibweise wird ein hoher Grad an natürlicher

‚Nachahmungsauthentizität‘ der Rede erreicht; Syn- und Diachronizität kommunikativer Beiträge werden radikal genau abgebildet.(Dittmar, N.

2004:124)

Wie die nachfolgende Abbildung aus einem Beispieltranskript von K. Ehlich zeigt, wird:

117 Unter folgender Internet-Adresse http://www.ehlich-berlin.de/HIAT/HIAT.htm können ausführlichere Informationen zum Transkriptionsverfahren HIAT abgerufen werden.

118 Einen umfassenden Leitfaden zur Transkription bietet Dittmar N. 2004; Einzelheiten zu den verschiedenen Transkriptionsverfahren (z. B. CHAT, DIDA, DT, GAT, HIAT). Vgl.: Dittmar, N., 2004:109 - 185.

a) dabei besonders Wert darauf gelegt, dass die zeitliche Abfolge der Rede- bzw.

Sprecherbeiträge (engl.: turns), das simultane Reden mehrerer Sprecher, die Überlappungen von Redebeiträgen sowie andere nichtverbale Phänomene in der Transkription so präzise wie möglich dokumentiert und ablesbar werden,

b) wie in Abbildung 7 verdeutlicht, wird das Lesen von transkribierten sprachlichen Austäuschen in zwei Richtungen realisiert: die gewohnte Links-Rechts-Richtung, die dem normalen Gesprächsverlauf folgt und die vertikale Leserichtung von oben nach unten, die es möglich macht, das simultane Reden mehrerer Sprecher nachzuvollziehen.

Abbildung 4: Beispiel für ein Transkript aus HIAT-DOS (Vgl. Ehlich, K. 1994)

Um das vorliegende empirische Arbeitsmaterial qualitativ analysieren zu können, etwa den Unterschied in der Sprechweise der Jugendlichen (Berliner Dialekt) und der der in der

‚Brücke‘ tätigen Studenten (Strukturierende Redebeiträge, überwiegend Standardsprache, z.

T. schwäbischer Dialekt) bei der Transkription deutlich zu machen, erweist sich das hier gewählte Transkriptionsverfahren, das, methodisch gesehen, auf teilnehmender

Beobachtung119 bzw. participant Observation beruht, insofern als ausgesprochen praktikabel und vorteilhaft, weil alle ganz oder teilweise ausgesprochenen Wörter oder Wortfolgen in der literarischen Umschrift wiedergegeben werden, ohne dass diese sich unbedingt an der Schreibweise der Schriftsprache orientieren müssen, d.h. unter Einhaltung von Normen der Orthographie. Dabei

[…] wird von den üblichen Regeln der Orthographie immer dann abgewichen, wenn die Sprachrealisierung in den Daten für den Transkribenten in auffälliger Weise als abweichend erscheint. Das gilt insbesondere für starke Dialektkennzeichen. […]

Aber auch individuelle, soziale und Registerbesonderheiten gegenüber der Standardsprache werden in derselben Weise gekennzeichnet.(Ehlich, K. / Rehbein, J., 1976:23)

Damit ist gemeint, dass Phänomene der sprachlichen Varianz, nämlich sowohl Sprachvarietäten (gesprochene / geschriebene Sprache, Standardsprache / Non-Standardsprache) als auch umgangssprachliche, dialektale und soziolektale Abweichungen von der Standardsprache im Transkriptionsverfahren erfasst werden. So erfahren beispielsweise dialektale oder umgangssprachliche Äußerungen in der Transkription keine Umwandlung in die hochsprachliche Form, so dass wenn etwa zu Äußerungen wie:

Wir ham noch folgnde Frare“,

Wir sind im Grunde jenommn mit den Beratern inner letztn Zeit nisch sehr einverstandn!“,

Peter wo bisch=n üwwerhaupt geschten gewese?“ oder

119 Ausführlicheres zur ‚teilnehmenden Beobachtung‘ als einem der wichtigsten Instrumente in der Gesprächs- oder Diskursanalyse in: Henne, H. / Rehbock, H. 2001 im (Methoden)Kapitel 2 bzw. beim Kölner Sozialwissenschaftler Jürgen Friedrichs (* 1938), der diese wissenschaftliche und qualitative Methode der Sozial- und Kulturwissenschaften als „die geplante Wahrnehmung des Verhaltens von Personen in ihrer natürlichen Umgebung durch einen Beobachter, der an den Interaktionen teilnimmt und von den anderen Personen als Teil ihres Handlungsfeldes angesehen wird,“ definiert. (Vgl. Friedrichs, J., 1990:288)

Ick sach jetzt jar nüscht mehr!“ kommt, so werden sie nicht ‚standardisiert‘ wie z. B. in

„Wir haben noch folgende Frage“,

„Wir sind im Grunde genommen mit den Beratern in den letzten Zeiten nicht sehr einverstanden!“,

„Peter, wo bist du überhaupt gestern gewesen?“ oder

Ich sage jetzt gar nicht mehr!“,

sondern hier hält sich der Transkribent an die authentische Aussprache der Sprecher bzw. der Sprecherin.

Dadurch, dass bei Bild- bzw. Tonaufnahmen und Verschriftungsverfahren immer noch vom tatsächlichen Interaktionsprozess abstrahiert wird, und für eine im Sinne Bourdieus anspruchsvollere und wirklich adäquatere sprachsoziologische Analyse und Interpretation eines mündlichen Diskurses oder einer Gesprächshandlung, die selbstverständlich auch die Erfassung der sozialen Differenzen der Sprecher, ihre Selbstdarstellungen, die Konstitution ihres Weltbildes, usw. berücksichtigt, sind eigentlich mehr Hinweise bzw. Daten als nur die verbalen (dialektalen, soziolektalen), paraverbalen oder eine gewisse Menge nonverbaler Erscheinungen120 zu berücksichtigen, wie sie zum Beispiel Henne und Rehbock ausführlich dargestellt haben (vgl. (Methoden)Kapitel II, in: Henne, H. / Rehbock, H. [2001:52ff.]).

Menschliche Kommunikation in den verschiedenen Erscheinungsformen (z. B. in Gesprächen, Diskursen, Texten, usw.) ‚lebt davon‘, dass hierbei zahlreiche manifeste oder

120 In der Gesprächs- bzw. Diskursanalyse ist sprachliches Verhalten generell an paraverbale Phänomene (Intonation) gebunden, die wir in Dynamik (Lautstärke), Melodik (Tonhöhe, Tonschwankungen und Intonation), Tempo (Rhythmus und Pausen), Artikulation (Deutlichkeit des Klanges), Stimme (Tonfall, Stimmqualitäten) und andere emotionale Färbungen zusammenfassen können. Auf der anderen Seite bezieht sich auch Nichtsprachliches ständig auf verbale und nonverbale Phänomene wie Gestik, Mimik, Proxemik (Raum, Distanz), Husten, Lachen, Weinen, Stöhnen, Hand- bzw. Blickkontakt, Kopfnicken bzw. -schütteln, Schulterheben oder andere Körperhaltungen.

latente Informationen fortlaufend und wechselseitig kontrolliert mitverarbeitet werden: z. B.

Informationen zur Situation (wie schätzen die Gesprächspartner die Situation vorweg oder im Gesprächsverlauf ein?), zu den persönlichen Voraussetzungen der Teilnehmer (Sprecher und Hörer), zu ihrem tatsächlichen oder unterstellten Verhältnis zueinander, zu erkennbaren oder erschließbaren Gefühlen, Einstellungen, Haltungen, Dispositionen etc. der Beteiligten, zu Sinn und Zweck der Kommunikation (Gesprächsform und Gesprächstyp), zur Vorgeschichte und Verknüpfung mit anderen Gesprächen, usw. Im Unterschied zur strikten Lehre der ethnographischen Schule ist es im Sinne einer sinnvollen Interpretation all dieser Daten notwendig, immer eine gewisse Menge an kommentierenden Äußerungen zu berücksichtigen, denn diese versuchen, ein Teil des Vorwissens der Beteiligten zu erschließen bzw. zu rekonstruieren und anschließend zu sehen, wie weit sich dieses Vorwissen der Beteiligten mit dem Gesprächsablauf tatsächlich vereinbaren lässt.

Es soll zum Schluss erwähnt werden, dass der hohe Arbeitsaufwand, der bei einer Transkription betrieben wird, damit letztere letztendlich angemessen ist, selbstverständlich begrenzt sein muss, denn je mehr Daten in die Interpretation hineingenommen werden, um so schwieriger bzw. komplexer sind ihre Analyse und Interpretation.