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Die Rezeption und Wirkung des semiotischen Ansatzes von Saussure in der

2.   Sprache als Zeichenkonstitution: Saussures Neuansatz der Sprachwissenschaft

2.3.   Die Rezeption und Wirkung des semiotischen Ansatzes von Saussure in der

In den fünfziger und sechziger Jahren [des 20. Jahrhunderts] wurden auch in der Bundesrepublik der linguistische Strukturalismus und die generative Sprachtheorie Chomskys rezipiert. Der durch den Krieg und Nachkriegszeit bedingte Ausschluss aus der internationalen Diskussion hatte ein Theoriedefizit bewirkt. Dies aufzuholen, hat sich die Germanistik, soweit ich sehe, redlich bemüht. Die konstitutiven Elemente eines linguistischen Strukturalismus:

System, Struktur, beschreibungsmethodische Explizitheit sowie die generative Erweiterung dieser Konzepte im Rahmen der Sprachkompetenztheorie N.

Chomskys wurden in die germanistische Linguistik übernommen. Dabei hatte der linguistische Strukturalismus in seinen verschiedenen Varianten den Gegenstandsbereich Sprache im Wesentlichen auf innersprachliche Systematizität und Strukturiertheit eingeschränkt. (Henne, H., 1975:16)

Mit einiger Verzögerung im Vergleich zu anderen Nachbarfächern, etwa der deutschen Anglistik und Romanistik, in denen es ja schon viel früher Anknüpfungen an die französische strukturalistische Sprachwissenschaft gab18 und, weil sie die vorherrschende Richtung der Geisteswissenschaften war, demzufolge Saussures Cours bereits in den fünfziger Jahren des

18 Schon weil der Cours de linguistique générale 1922 in zweiter Auflage in Paris erscheint.

20. Jahrhunderts rezipierten, blieben Saussures Gedanken germanistischen Sprachwissenschaftlern auch nach dem zweiten Weltkrieg, d.h. etwa ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen des Cours nahezu vollständig unbekannt, wurden oft übersehen oder ignoriert. Zeitzeugen wie der deutsche Sprachwissenschaftler Adolf Wilhelm Eberhard Zwirner (1899 - 1984) verwiesen im Rückblick bedauernd

auf die mehr als dreißig Jahre, die zwischen der beginnenden Prager Phonologie, der Hjelmslevschen Glossematik und den frühen Arbeiten zum Strukturalismus vergangen sind, ohne dass sie in Deutschland - mit verschwindenden Ausnahmen - überhaupt zur Kenntnis genommen worden sind.(Zwirner, E., 1967: 412)

Nach dem ehemals Chemnitzer Romanisten und Sprachwissenschaftler Harro Stammerjohann (* 1938) galten die Strukturalisten in Deutschland am Ende der sechziger Jahre „noch immer als Neuerer, wenn nicht als Störfriede.“ (vgl. Stammerjohann, H., 1969:160)

In einem Gespräch mit den Tübinger Romanisten Johannes Kabatek und Adolfo Murguía (*

1945) im Sommer 1996 sprach der einflussreiche Tübinger Romanist und Sprachwissenschaftler, Eugenio Coseriu (1921 - 2002), folgende Worte dazu:

Deutschland war während des Krieges weitgehend isoliert gewesen, in der Sprachwissenschaft wie in anderen Wissenschaften [...] Deutschland war deshalb auch ein Land ohne Strukturalismus, im Gegensatz z.B. zu Frankreich, wo immerhin Martinet sowohl mit Prag als auch mit Kopenhagen Kontakt gehabt hatte, mit Kopenhagen sogar direkt.

[…] Auch Saussure war in Deutschland nicht gut bekannt; es gab die alte Übersetzung [von 1931] und einige Kontakte, vor allem über Jost Trier. Trier war der erste, der einiges von Saussure nach Deutschland gebracht hat [...]

Ansonsten war die Indogermanistik dominant, Lehrstühle für Allgemeine Sprachwissenschaft gab es nicht. (Kabatek, J. / Murguía, A., 1997:106ff.)

Konrad Koerner spricht in seinem Saussure-Buch von der „delayed reception of Saussure in Germany“ (vgl. Koerner 1973:214).

Wenn man Spuren der Rezeption des strukturalistischen Ansatzes Saussures in den deutschsprachigen Raum nachgeht, erweist sich, dass die germanistische Sprachwissenschaft, besonders in Deutschland, sowohl in der philologisch- und historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft als auch in der traditionellen Grammatik in der Zeit zwischen beiden Weltkriegen sowie bis weit in die Nachkriegszeit hinein ganz andere und eigenständige Wege gegangen ist. Dies lässt sich zum größten Teil daraus erklären, dass die in Deutschland betriebene (Sprach)Wissenschaft ihre internationale Reputation, wegen der Ereignisse, welche die fatale Geschichte Deutschlands vor allem seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten kennzeichneten, verlor. Zwar gab es ein paar Germanisten, die Saussures Sprach-Ideen gelesen hatten, u.a. der Däne Gunnar Bech (1920 -1981), der Franzose Jean P. Fourquet (1899 - 2001), die Amerikaner William G. Moulton (1907- 2000) und Moris Halle (* 1923), die Deutschen Heinz Vater (* 1932) und Otmar Werner (1932 - 1997), doch war die germanistische Sprachwissenschaft, deren angeblich isolierte Gelehrtengemeinschaft auch mit dem internationalen Umfeld in recht reger wissenschaftlicher Kommunikation stand, bis Mitte der sechziger Jahre noch eindeutig durch die traditionelle Dominanz der Errungenschaften der diachronischen Sprachforschung bzw. der großen Leistungen der historisch orientierten Sprachwissenschaft (Indogermanistik) in der vermeintlichen Kontinuität der stolzen Tradition der Junggrammatiker gekennzeichnet. Diese Tradition war den ‚modernen’ bzw. neuen Lehren gar nicht aufgeschlossen und kümmerte sich in der Tat nicht um Strukturales im Sinne von Saussure und dessen nachfolgenden strukturalistischen Schulen.

[...] aber die Deutschen ignorierten sogar die guten Einführungen [zur Indogermanistik], und es erscheint kein nicht-deutscher Name in der indogermanischen Sprachwissenschaft etwa bei [Hans] Krahe; nicht einmal Meillet wird zitiert, von den Italienern ganz zu schweigen. Es gab diese Art Chinesische Mauer, und das war wahrscheinlich nicht nur in der Indogermanistik so. Das war zum Teil auch vielleicht ein gewisser Nationalstolz und eine bestimmte Tradition, so dass man glaubte, die eigene Tradition sei doch die allerbeste(Ebd.:108)

Damit kann wohl festgestellt werden, dass, wie Stammerjohann im nachfolgenden Zitat schreibt, selbst die von Hermann Lommel (1885 - 1968) gelieferte erste Übersetzung des Cours ins Deutsche aus dem Jahre 1931 jene so konservative Sprachwissenschaft nicht aufknacken konnte,

Weder die deutschen Besprechungen des [Cours de linguistique générale] bei seinem Erscheinen 1916 noch die deutsche Ausgabe des Buches 1931 [...]

beeinflussten die deutsche Sprachwissenschaft ... (Stammerjohann, H.,1969:60) In seinem 1958 veröffentlichten Wege und Ziele des Strukturalismus behauptet der Berliner Anglist und Amerikanist Klaus Hansen (* 1934), dass Deutschland sich bislang „beharrlich aus der Diskussion [um den Strukturalismus] herausgehalten habe (vgl. Hansen 1958:341).

Zwar befasste man sich bis in die sechziger Jahre an vielen deutschen Universitäten auch mit der Gegenwartssprache, doch fast ausschließlich im Rahmen der inhaltsbezogenen Grammatik, auch Sprachinhaltsforschung19 genannt, die vor allem mit den Namen der Neohumboldtianer L. Weisgerber, J. Trier, Walter Porzig (1895 - 1961), Helmut Gipper (1919 - 2005), usw. verbunden war und auf neoidealistische Ansätze der zwanziger und dreißiger Jahre zurückging, die viel zu ‚humboldtianisch’ waren und in nur sehr begrenztem Umfang neuere, strukturalistische Ideen zur Kenntnis nahmen.

Neben der eben geschilderten (sprach)wissenschaftsinternen Realität gab es auch eine wissenschaftsexterne, nämlich die politische Situation in Deutschland, vor allem die totalitäre Zeit des Dritten Reiches und ihre traurigen Ereignisse. Diese Situation führte nicht nur zur Emigration zahlreicher begabter (Sprach)Wissenschaftler und zu einer Abkapselung bzw.

Isolation Deutschlands von der internationalen theoretisch methodischen Szene, sondern war auch „einer Öffnung der deutschen Germanistik für linguistische Methoden des Auslandes nicht günstig“ (vgl. Polenz 1967:293). Als Gründe für die immer wieder festgestellte und oft beklagte Verspätung der deutschen Strukturalismus-Rezeption werden in großer Übereinstimmung folgende drei Faktoren von Stammerjohann angeführt:

Diese Verspätung ist durch drei Umstände bedingt oder wenigstens mitbedingt.

Durch die Isolierung der deutschen Wissenschaft während der Nazizeit, durch die große indogermanistische Tradition in der deutschen Sprachwissenschaft und

19 Die Sprachinhaltsforschung war eine von L. Weisgerber in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts begründete Schule, die die deutsche Sprachwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte, doch ab den späten sechziger Jahren fast völlig in Vergessenheit geriet oder nur noch unter starken ideologischen Vorbehalten rezipiert wurde. Diese Theorie beruft sich auf W. v. Humboldts Weltansicht der Sprache und der inneren Sprachform. Für Weisgerber gilt Sprache als Kraft eines Volkes, das je eigene Weltbild, ja die je eigene Welt zu schaffen. Zwischen Mensch und Realität wird eine von den Sprachinhalten gebildete geistige Zwischenwelt angenommen.

durch die übermächtige Stellung der sogenannten ‚Sprachinhaltsforschung’.(Ebd.:160)

Trotz zum Teil heftigen Widerstandes bereits etablierter historischer Traditionen vollzog sich doch in der germanistischen Sprachwissenschaft in den sechziger Jahren, „Zeit einer methodischen Neubesinnung“ (vgl. Polenz 1967:293), langsam ein Abschied von jener auch nach Kriegsende ungebrochen dominanten sprachwissenschaftlichen Praxis zugunsten einer ernsthaften Erneuerung der theoretischen und methodischen Grundlagen der linguistischen Forschung, nämlich einer vorwiegend synchron systematisierenden Beschreibung der Sprache als System von Zeichen und Werten 20 mit messbaren und nachprüfbaren exakten methodischen Verfahren. Diese Erneuerung der theoretischen und methodischen Grundlagen der linguistischen Forschung fand zugleich langsam Eingang in die germanistischen Lehrpläne. Aus diesem Grunde gelten die späten Sechziger als eine Anschubphase für eine Modernisierung der germanistischen Sprachwissenschaft, in deren Verlauf sich der gegenwärtige Wissenschaftszustand herausbildete.

Deshalb, weil sie wesentlich dazu beigetragen haben, die verspätete Strukturalismus-Rezeption in Deutschland voranzutreiben, sind vor allem der 1966 im ‚Kursbuch‘ erschienene Aufsatz des Berliner Sprachwissenschaftlers Manfred Bierwisch (* 1930), Strukturalismus.

Geschichte, Probleme und Methoden, sowie der Einfluss der beim renommierten Berliner Verlag de Gruyter erschienenen zweiten Auflage der deutschen Übersetzung von Saussures Cours de linguistique générale durch den damals Heidelberger Sprachwissenschaftler Peter von Polenz (* 1928), in den Augen vieler Sprachtheoretiker als Gründungsdokumente bzw.

Initialzündung des deutschen Strukturalismus unverkennbar. Diese zweite Publikation des Cours, die, von einigen Ausnahmen abgesehen, alle zu jener Zeit partout lesen wollten, war umso fruchtbarer, als sie nicht nur die bis heute noch andauernde intensive Saussure-Rezeption einleitete, sondern auch eine Rieseneuphorie unter den damals jüngeren Sprachwissenschaftlern, vor allem der 68-er Generation, auslöste. Damals erlebte man eine Art Befreiung von der traditionellen Philologie, die dann noch von der algebraischen bzw.

generativen Sprachwissenschaft à la Chomsky, etwa zeitgleich mit den wichtigen Entdeckungen der mathematischen Automatentheorie, gekrönt wurde.

20 Auf dem Münchner Germanistentag 1966, wo das alte sprachgeschichtliche Paradigma stark in Misskredit geraten war, beschäftigte sich die Germanistik erstmals mit der prekären Vergangenheit ihres Fachs und politisch belasteten Germanisten (vgl. dazu Jürgen Kolbe (1940 - 2008), Ansichten einer künftigen Germanistik, 1969).

Doch nach einer intensiven und vor allem euphorischen Rezeption Saussurescher Konzepte setzte in den frühen siebziger Jahren, aufgrund von Forderungen nach einer ‚Politisierung der Disziplin Sprachwissenschaft‘, d.h. einer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Praxis von Sprache, eine Ernüchterung ein. Die Kritik an Saussure bestand vor allem darin, dass sein semiotischer Ansatz, der den schon sehr abstrakten Zeichenbegriff auf die Relation von signifiant und signifié beschränkt, deshalb rein psychischer21 Natur ist, weil er die Sprache in einem System sehr stark idealisiert:

sie [die langue] bildet ein System von Zeichen, in dem einzig die Verbindung von Sinn und Lautzeichen wesentlich ist und in dem die beiden Seiten des Zeichens gleichermaßen psychisch sind [...]. (Saussure, F., 1967: 18)

Damit blendet Saussures semiotischer Ansatz aber die gesellschaftliche Wirklichkeit aus und erweist sich im Interesse einer Analyse sozialer Wirklichkeit als nicht praktikabel.