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4.2 Betrachtung des Projektablaufes

4.2.15 Aus dem Vergessen holen/ Religion

Das Bilderbuch „Janusz Korczak“ endet mit der Ermordung aller. Die Lehrerin ergänzt diesen Inhalt, sich an das „Prinzip Hoffnung“ haltend, mit einem jüdischen Sprichwort. Demnach sei es wichtig, an die toten Menschen zu denken, denn

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anderenfalls würden sie ein zweites Mal sterben müssen. Diesen, für Kinder sehr abstrakt wirkenden, Inhalt vereinfachte Frau U., indem sie meinte, sie würden die toten Menschen nun aus dem „Vergessen holen“. Sie breitete bunte Tücher auf und die Kinder konnten ihre Püppchen, begleitet von positiven Gedanken, darauf stellen.

Sie konnten ihnen dadurch eine Art „Weiter- oder Wiederleben“ schenken. Dass die meisten Kinder dieses Vorgehen in Bezug zum Himmel stellten, ist nachvollziehbar, da es ihrer religiösen Sozialisation entspricht. Eine weitere Analyse dieser Thematik findet sich bei den Brieftexten.

Obwohl sich die Lehrerin davon distanziert, den Himmel als „Lösung“ angesprochen zu haben, ist diese religiöse Variante durch ihr Handeln implizit vorgegeben und durchaus eine didaktisch empfohlene, um Kindern den Tod näher zu bringen und ihnen auch Hoffnung zu geben.

Bodarwe (1989, S.57f) führt „religiös gefärbte, konventionelle Bilder (Himmel und Hölle, Tote als freundliche Engel)“ als eine gangbare Möglichkeit der didaktischen Bearbeitung an. Im übertragenen Sinn könnte man das Vorgehen der Kinder im Sinne einer christlichen Auferstehungshoffnung sehen; wobei das jüdische Sprichwort eher mit dem Transzendenzstreben einer spiritualistischen Auffassung, welche sicher erst in der späteren Kindheit erfassbar ist, erklärbar wäre.

Z.816-825: I hab den Zug entfernt, hab die Kerze angezündet, hab so, so a Klezmer-Melodie ausgesucht, die so ein bisschen langsam und getragen ist, hab das leise laufen lassen und hab dann auch gsagt:“ Die Kinder sind jetzt tot“. ... und dann „Wir holens jetzt aus dem Tod raus, wir schaun, dass sie nit vergessen sind“ [...]

Die Lehrerin habe den Zug entfernt, eine Kerze angezündet und eine langsame und getragene Klezmermusik leise laufen lassen. Dann habe sie gesagt, dass die Kinder jetzt tot seien. Die Lehrerin sagte den Kindern, dass sie sie aus dem Tod herausholen würden, damit sie nicht vergessen seien.

In dieser problematischen Situation kommt es zur absoluten theatralischen Zuspitzung, in der die Kinder sehr belastet werden. Die Lehrerin geht aber offensichtlich davon aus, dass die Kinder ihre Mitteilung des Todes rasch hinnehmen. Sie bietet den Kindern keine Gelegenheit der Verarbeitung und lenkt sofort zu einem positiven Ende, im Sinne des „Prinzips Hoffnung“ über. Damit überspielt und übergeht sie den kritischsten Punkt in diesem Projekt, nämlich den der Ermordung aller. Es ist anzunehmen, dass dieser von den Kindern nicht, in dem von

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der Lehrerin erwünschten Maß, einfach ignoriert oder als Tatsache hingenommen werden konnte. Eine weitere Rezeption durch die Kinder wird sich in deren Briefen wiederfinden, die nachfolgend besprochen werden (vgl. Kap.5.1).

Z.827-852: Interviewer: Haben die Kinder das verstanden?

Lehrerin: Das haben sie total verstanden. Das haben sie so verstanden und ah...[...] Also ich glaub das war ein extrem wichtiger Schritt, dass man´s jetzt nicht zum Beispiel da enden lasst, die sind jetzt tot. [...]. Sondern weil wir das jetzt gemacht haben sind sie net vergessen. Weil wir an sie denken. [...] I mein, das kann man jetzt sehen wie man will. Das ist jetzt a a persönliche Einstellungssache. Für mich ist das so. Wir vergessen die Menschen net und drum sind sie a net wirklich tot. [...]

Interviewer: Das ist recht abstrakt...

Lehrerin: ..es kommt mir jetzt selber sehr abstrakt vor, wenn ichs Ihnen erzähl.

Es war aber wirklich so, dass das für die Kinder durch das Rausholen, durch das Angreifen von den Püppchen und Rausholen sehr konkret worden ist [...].aber wenn Sie dann die Briefe lesen, werden Sie sehen, es ist schon in die richtige Richtung gangen, gö.

Die Frage, ob die Kinder das verstanden hätten, bejaht die Lehrerin und verstärkt, dass sie das „total verstanden hätten“. Sie meint es sei ein extrem wichtiger Schritt gewesen, die Geschichte nicht mit dem Tod enden zu lassen, sondern den Kindern zu sagen, dass sie nicht vergessen sind, weil sie das [Projekt, Anm.] jetzt gemacht hätten und damit an sie denken würden. Man könne das sehen, wie man wolle, das sei eine persönliche Einstellungssache.

Für die Lehrkraft sei das so; wenn man die Menschen nicht vergessen würde, so wären sie auch nicht wirklich tot. Der Lehrerin kam das dann selbst, so wie der Interviewerin, sehr abstrakt vor, als sie es erzählte. Für die Kinder sei das Herausholen durch das Angreifen der Püppchen jedoch sehr konkret gewesen, das würde man sehen, wenn man die Briefe lesen würde. Es sei schon in die richtige Richtung gegangen.

Z.1010-1014: Interviewer: Das nicht, aber ob die Kinder das realisieren, das hab ich mich gefragt, ob die Kinder wissen, dass nicht das Kind, das konkrete Kind jetzt wieder auf der Wiese spielt...

Lehrerin: ...das wissen´s mit Sicherheit, das wissen´s. I glaub das wissen a die, die nit so gut begabt sind. I glaub schon, dass ihnen das klar war.

Auf die Frage, ob die Kinder diese Form eines „zweiten Lebens“ der Püppchen auch wirklich verstanden hätten, entgegnet die Lehrerin sofort, dass das die Kinder mit Sicherheit wissen würden. Auch denjenigen, die nicht so gut begabt wären, so glaubt die Lehrerin, sei das klar gewesen.

In diesen Passagen fällt besonders auf, wie sehr die Lehrerin darauf Wert legt, dass die Kinder diese Situation sehr gut verstanden hätten. Hier bemerkt sie sehr wohl die Skepsis in den bewusst gesetzten Nachfragen. Dadurch sollte die Lehrerin etwas aus der Reserve gelockt und zu detaillierteren Aussagen gebracht werden. Die Reaktion der Lehrerin war ein immer stärker werdendes Festhalten an ihrer Meinung,

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die in der Definition der „persönlichen Einstellungssache“ und der Feststellung, dass es schon „in die richtige Richtung“ gegangen wäre, mündete. Für sie wäre ein Mensch nicht wirklich tot, wenn man an ihn denken würde. Diese abstrakte Aussage ist natürlich im übertragenen Sinn zu verstehen, für Kinder kann sie in dieser Dimension nicht richtig nachvollzogen werden. Die konkrete Handlung des Umstellens der Püppchen suggerierte ein Aufheben des vorhergehenden Schreckens, ein Wiedergutmachen, eine Chance auf ein neues Leben. Das dadurch signalisierte „Herausholen aus dem Tod“ kann für Kinder nur im Sinne einer Wiedergeburt oder eines Weiterlebens im Himmel verstanden werden; wie sich auch aus deren Briefen herauslesen lässt (vgl. Kap. 5.1).

Wie die Lehrerin berichtet, wollten die Kinder zum Abschluss des Projektes diese religiösen Gedanken weiterspinnen und suchten aus eigenem Antrieb heraus ein religiöses Lied, um das Projekt angemessen abzuschließen. Den von der Lehrerin gedachten Abschluss mit einem etwas fröhlicheren Lied, das sie während des Aufräumens spielen wollte, lehnten sie damit ab.

Z.896-921: Ah... was für mich jetzt noch total berührend war ist... i hab mir gedacht, ich lass am Schluss wieder ein bisschen eine Musik laufen, ein bisserl eine fröhlichere, und wir räumen das auf, und dann ist das von den Kindern kommen, die haben gsagt: „Nein jetzt müssen wir was singen oder wir müssen was beten.[...]“. Und i hab mir gedacht: „Ist eigentlich a Wahnsinn, was sie für ein Gspür haben, was da jetzt passt am Schluss, gö“.

[...] sie habens Gefühl gehabt, das braucht jetzt wirklich einen angemessenen Abschluss und das war [...] „Meine Hoffnung und meine Freude, meine Stärke mein Licht, Jesus meine Zuversicht“ [...].

Die Lehrerin wollte am Schluss beim Aufräumen noch eine fröhlichere Musik spielen. Die Kinder lehnten dieses aber ab und sagten, dass sie jetzt etwas singen oder beten müssten. Die Lehrerin war von den Kindern, die jetzt gespürt hätten, was am Schluss passen würde, sehr beeindruckt. Die Kinder hätten das Gefühl nach einem angemessenen Abschluss gehabt. Dies sei das Lied „Meine Hoffnung und meine Freude, meine Stärke mein Licht, Jesus meine Zuversicht“ gewesen.

Auch hier ging die Lehrerin davon aus, dass Kinder in einer solchen Situation auf Zuruf ab- und umschalten können. Offensichtlich hatten die Kinder das Bedürfnis eines längeren Verbleibens und einer entsprechenden Bearbeitung ihrer Gefühle. In diesen Worten gibt die Lehrerin implizit zu, dass die Kinder hier ein besseres Gespür für einen passenden Abschluss hatten, als sie selbst. An dem Wunsch der Kinder, ein religiöses, besinnliches Lied am Ende singen zu wollen, kann man ihre religiöse

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Prägung, aber auch ihren Wunsch nach eigenen Lösungen erkennen. Sie boykottierten die Vorstellungen der Lehrerin und suchten selbst nach einem

„angemessenen“ Abschluss. Indem sie sich die Liederbücher beim Pfarrkurator besorgten und sich auch über ein zu singendes Lied einigten, wurden die Kinder tätig. Es gab ihnen die gute Möglichkeit, das Projekt in ihrem Sinne zu beeinflussen und auch aktiv zu werden. Dass sie sich hier ein Lied aussuchten, das mit religiöser Zuversicht zu tun hat, zeigt eine selbstgewählte Möglichkeit in dieser Situation in religiösen Vorstellungen des Himmels Trost zu suchen und eventuell auch zu finden.