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Am 18. April 1966 hielt Theodor W. Adorno im Hessischen Rundfunk seinen „heute zum Programm gewordenen Vortrag“ (Meseth, 2000, S. 19) „Erziehung nach Auschwitz“. Vor allem dieser Vortrag sollte eine andere, wegweisende Sichtweise auf den pädagogischen Umgang mit der NS-Geschichte auslösen. Sie „prägte Generationen von Pädagogen nach 1968 in ihrem Selbstverständnis“ (Meseth, ebd.) und mündete in Erziehungsprogrammen zu Frieden, Toleranz und Humanität der aktuellen Holocaust Education. Peham und Rajal (2010, S.43) bemerken dazu, dass Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ auf das Konzept der Holocaust Education keinen Einfluss hatte, da er erst 1997 ins Englische übersetzt wurde. Der „ethisch fundierte Imperativ als auch das Anliegen der Aufklärung über Auschwitz“ würden die beiden Konzepte jedoch verbinden. Nach näherer Betrachtung und dem Einbezug weiterer Schriften Adornos würden die Differenzen jedoch deutlich: „Während die AkteurInnen der Holocaust Education häufig darum bemüht sind, ihr Tun zu begründen, auf Zukünftiges und auf die Universalität des Holocaust als Metapher zu verweisen, lehnt Adorno jede Begründung seines kategorischen Imperativs ab“

(ebd.):

Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen, hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Daß man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, wo wenig sich bewußt macht, zeigt, daß das Ungeheuerliche nicht in den Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, daß die Möglichkeit der Wiederholung, was den Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand der Menschen anlangt, fortbesteht.

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Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole (Adorno, 1970, S. 92).

Mit diesen vielzitierten Zeilen spricht Adorno implizit die Ohnmacht und Untätigkeit der Erziehung an und appelliert an sie als ihre vorrangigste Pflicht, alles dafür zu tun, um einer Wiederholung eines solchen Grauens entgegen zu wirken. Er spricht in diesem Zusammenhang von Barbarei, gegen die sich die Erziehung zu richten hätte.

Auschwitz stellte die „Barbarei an sich“ dar, aber sie würde solange fortbestehen,

„solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern“

(Adorno, ebd.). Die Grundstruktur der Gesellschaft und damit ihrer Angehörigen sei noch die gleiche wie vor damals fünfundzwanzig Jahren. „Daß es sich ereignete, ist selbst Ausdruck einer überaus mächtigen gesellschaftlichen Tendenz“ (Adorno, 1970, S. 93). Adorno meinte, es sei notwendig, die Mechanismen zu erkennen, „die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden“, und man „muß ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewußtsein jener Mechanismen weckt“ (S.

94). Es sei also notwendig, sich in die Verfolger hineinzuversetzen, um Strukturen nachvollziehen zu können.

Als auslösenden Grund für das Geschehene meinte er schon damals, in Vorausschau auf die heute noch vielfach verstärkten Globalisierungsmechanismen, zu erkennen, dass sich die Menschen in ein „Netzwerk der Gesellschaft“ eingesperrt fühlen und sich daher mit irrationaler Wut und Gewalt gegen die Zivilisation wehren würden. Hier sieht er die Befähigung zur kritischen Selbstreflexion als die entscheidende und notwendige Aufgabe der Erziehung. „Da aber die Charaktere insgesamt, auch die, welche im späteren Leben die Untaten verübten, nach den Kenntnissen der Tiefenpsychologie schon in der frühen Kindheit sich bilden, so hat Erziehung, welche die Wiederholung verhindern will, auf die frühe Kindheit sich zu konzentrieren“ (Adorno, ebd.).

An dieser Stelle verweist Adorno auf die Notwendigkeit einer möglichst frühen Behandlung des Themas und legte damit den Grundstein zur aktuellen Diskussion über die Aufnahme des Themas ins Grundschulcurriculum. Er erläutert seine Forderung der „Erziehung nach Auschwitz“ näher, in dem er zwei Bereiche dafür

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angibt. Zum einen eine Erziehung in der frühen Kindheit und zum anderen

„allgemeine Aufklärung, die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft, das eine Wiederholung nicht zuläßt, ein Klima also, in dem die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, einigermaßen bewußt werden“ (Adorno, S. 95). Er bezeichnet die Annahme, vor allem von amerikanischer Seite her, dass eine der möglichen Ursachen für den Nationalsozialismus und Auschwitz der

„autoritätsgläubige deutsche Geist“ sei, zu kurz gegriffen. Vielmehr fehlte den Menschen nach dem Zerfall der Monarchie die Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen und sie wären der neu gewonnenen Freiheit nicht gewachsen gewesen. „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie“ (Adorno, S. 96).

Im Sinne Kants meint er damit die „Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (ebd.)

So sieht er die Hinführung zur Autonomie als eine wesentliche Aufgabe der Erziehung. Die damals gängige „Erziehung zur Härte“ lehnt er vehement ab. Sie würde zur Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen und dem Schmerz anderer führen. Die Unmöglichkeit Angst zuzulassen, würde zu zerstörerischen Effekten führen und Menschen dazu bringen sich selbst zu „verdinglichen“. Sie würden sich blind in Kollektive einordnen und damit auch andere wie eine „amorphe Masse“

(Adorno, S. 101) Dingen gleich behandeln.

Als wichtigste psychologische Bedingung für Auschwitz führt Adorno den Mangel an Liebe und die Unfähigkeit zur Identifikation mit anderen an. Jeder Mensch fühle sich seiner Meinung nach zu wenig geliebt, „weil jeder zu wenig lieben kann.“ (S.106) Menschen sehnen sich nach Wärme, Kälte wäre aber vorhanden. Liebe und Wärme könne man jedoch nicht „verordnen“, sondern Adorno empfiehlt, sich dessen bewusst zu werden, warum sie wurde (vgl. Adorno, S. 107f).

Abschließend unterstreicht Adorno nochmals die Forderung an allen politischen Unterricht, „daß Auschwitz sich nicht wiederhole.“ Dies könne man nur erreichen wenn sich der Unterricht „in Soziologie verwandeln würde“ und „ohne Angst, bei irgendwelchen Mächten anzustoßen, [...] über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren“ würde, „das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat“

(Adorno, S.109).

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In den Schlussworten seiner Rede fasste Adorno zusammen, dass eine von ihm geforderte Erziehung zu Autonomie und Wärme vielleicht nicht vor künftigen Schreibtischtätern und Ideologen schützen könne, doch dagegen, dass sich Menschen „selbst entwürdigen“ und sich „als deren Knechte zu Mördern“ machen würden, dagegen könne sie „ein Weniges unternehmen“ (ebd.).

Adorno erkennt, dass diese Ziele nicht alleine durch Aufklärung erreicht werden können und übergibt der Erziehung eine, bis heute wirksame, übermächtige Verantwortung. Sie habe danach zu trachten, eine Wiederholung von Auschwitz zu verhindern. Gleichzeitig warnt er davor, diese Forderung zu negieren, denn das würde einer Wiederholung von Ausschwitz entgegenkommen.