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Verformungsgerechtes Handaufmaß

Im Dokument Ulrich Weferling (Seite 74-78)

5 Methoden der Bauaufnahme

5.1 Handaufmaß

5.1.2 Verformungsgerechtes Handaufmaß

Mit dem Begriff 'verformungsgerechtes Handaufmaß' wird eine Methode zur kombinierten Erfassung von inhaltlichen und geometrischen Bauwerkseigenschaften bezeichnet. Das Handaufmaß wird als Messver-fahren für die geometrische Objektmodellierung eingesetzt, durch das vorangestellte Adjektiv 'verfor-mungsgerecht' werden die Anforderungen an den Gesamtvorgang der Modellierung näher eingegrenzt.

Obwohl die Bezeichnung 'verformungsgerechtes Handaufmaß' nahezu immer als feststehender, zusam-mengehörender Begriff verwendet wird, soll hier zunächst näheres zur Eigenschaft der Verformungstreue herausgearbeitet werden, bevor die Messmethode 'Handaufmaß' charakterisiert und abschließend die besondere Bedeutung dieser Erfassungsmethode aufgezeigt wird.

Der Einsatz des verformungsgerechten Handaufmaßes für die Bauaufnahme wird besonders dann in Erwägung gezogen, wenn ein anzufertigendes Bauwerksmodell das Original in seiner tatsächlichen, nicht idealisierten Form mit allen eventuell vorhandenen Deformationen, Schäden etc. wiedergeben soll. Es wird demnach keine Generalisierung der Objektgeometrie vorgenommen, die dazu führen würde, dass z.B. durchlaufende begrenzende Kanten als gerade Linien dargestellt würden. Vielmehr werden Abweich-ungen von dieser ideellen Linie durch Messung bestimmt, modelliert und dargestellt. Wird das Verfahren des verformungsgerechten Handaufmaßes angewendet, soll generell genau die Differenz von der geome-trischen Idealform bestimmt werden, weil aus diesen, jeden Baukörper individuell charakterisierenden Informationen wichtige Erkenntnisse über Baugeschichte, statischen Zustand etc. gewonnen werden können. Inwieweit die Forderung nach Verformungstreue erfüllt werden kann, hängt wesentlich von dem gewählten Arbeitsmaßstab ab.

Um diesen Anspruch an die Bauaufnahme sicherstellen zu können, kann die Messmethode des Handauf-maßes eingesetzt werden. Die Messungen im Handaufmaß werden generell mit den einfachen Werkzeu-gen Zollstock5, Wasserwaage und Lot ausgeführt (Abb. 5.2a) und sofort maßstäblich mit Bleistift auf Karton oder Folie gezeichnet6 (Abb. 5.2b).

a) verformungsgerechtes Handaufmaß mit Zollstock

b) Bleistiftplan, Palatin, Ausschnitt Ebene 5, Originalmaßstab 1:50

c) Tuscheplan, Palatin, Ausschnitt Ebene 5, Originalmaßstab 1:50

Abb. 5.2: Verformungsgerechtes Handaufmaß

Hierdurch ist sichergestellt, dass die Analyse des Baukörpers, die Messung der Geometrie und die Dar-stellung in Form einer Zeichnung, also der gesamte Modellierungsvorgang, vor Ort in einem

4vgl. [MADER, 2001]

5Hierzu zählt auch der 'elektronische Zollstock', ein reflektorlos arbeitender Entfernungsmesser, der auch und besonders für das Architektenaufmaß eingesetzt wird. Vgl. auch Kap. 5.2.2, 'Tachymetrische Verfahren ohne unmittelbare Signalisierungs-möglichkeit am Objekt'.

6 Die sofortige Integration von Handaufmaßmessungen in CAD-Pläne wird im Kap. 5.1.1, 'Architektenaufmaß' und im Kap.

5.2.3, 'Online-Darstellung tachymetrischer Messungen' behandelt.

prozess ausgeführt werden kann. Die enge räumliche Beziehung zum Objekt der Bauaufnahme soll eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Bauwerk sicherstellen, durch die während der Bauaufnahme eine bessere Interpretation der Informationen ermöglicht werden soll.

Damit ist das verformungsgerechte Handaufmaß nicht nur Messmethode zur Bestimmung der Bauwerks-geometrie, sondern analytischer Vorgang zum Erkennen und Modellieren der übrigen inhaltlichen Bauwerksparameter7. Gleichzeitig wird durch die sofort ausgeführte Zeichnung der gemessenen Eigen-schaften eine Kontrolle der Genauigkeit, der Zuverlässigkeit und der Vollständigkeit ermöglicht. Dies gilt besonders im Vergleich zum Architektenaufmaß oder allen anderen Verfahren, die nach den Prinzipien der Skizziermethode arbeiten und somit eine zeitliche oder örtliche Trennung von Messung und Zeich-nung vornehmen. Um ein Bauaufnahmeobjekt in seiner gesamten komplexen Form umfassend verfor-mungsgerecht aufnehmen zu können, sind in Abhängigkeit von der Objektstruktur und dem verwendeten Arbeitsmaßstab eine Vielzahl von Messungen auszuführen. Auch wenn durch das Handaufmaß Messun-gen schnell und einfach vorMessun-genommen werden können, ist der verformungsgerechten Modellierung aus praktischen Gründen eine Grenze gesetzt, die dazu führt, dass auch bei Anwendung des verformungs-gerechten Handaufmaßes eine Punktauswahl vorgenommen werden muss. Um für alle nicht gemessene Bereiche eine verformungsgerechte Modellierung annähernd sicherstellen zu können, erfolgt die Darstel-lung in portraitierender Art und Weise. Durch eine portraitierende Zeichnung werden z.B. Linienverläufe, Ausbrüche, Verwitterungskanten skizzenhaft in ihrer Art und Ausprägung, aber nicht in ihrem exakten geometrischen Verlauf erfasst8. Diese Form der Darstellung betont die inhaltliche Aussage vor der geometrischen Richtigkeit. Sie ist damit ein typisches Beispiel für eine Reduktion einer Eigenschaft, um die wichtigere besonders deutliche herausarbeiten zu können. Je nach Abstand der mit dem Handaufmaß bestimmten Punkte kommt die portraitierende Darstellung auch in geometrischer Hinsicht dem Original nahe. Dieses Vorgehen kann auch als Erfassungsgeneralisierung angesehen werden, wobei die Arbeits-weise beim verformungsgerechten Handaufmaß von sonst üblichen geometrischen Generalisierungen abweicht. In nachfolgender Abbildung werden die Unterschiede zwischen einer generalisierenden und verformungsgerechten Erfassung aufgezeigt.

Abb. 5.3: Generalisierende und verformungsgerechte Erfassung

In der generalisierenden Vorgehensweise, wie sie in der Mehrzahl der geodätischen, photogramme-trischen oder kartographischen Anwendungen anzutreffen ist, wird der theoretische Schnittpunkt der beiden Kanten als Messpunkt erfasst (Abb. 5.3a). Für die verformungsgetreue Modellierung (Abb. 5.3b) werden dagegen nur die Punkte gemessen, die auch am Original zu verifizieren sind, und der dazwischen liegende Bereich wird portraitierend gezeichnet. Um die gemessenen Punkte auch tatsächlich reprodu-zieren zu können, wird in einigen Fällen eine Vermaßung aller Handaufmaßpläne vorgenommen;

gleichzeitig sollen hierdurch eventuell auftretende Fehlereinflüsse durch Papierverzug erkannt werden können9[PETZET, MADER, 1993].

In den meisten Anwendungsgebieten wird die Modellierung der nicht geometrischen Bauwerkseigen-schaften bei Einsatz des verformungsgerechten Handaufmaßes gleichzeitig mit der geometrischen

7 Bei [HANSEN, 2001] wird dem analytischen Vorgang die absolute Dominanz über der objektiven Geometriebestimmung zugestanden. Hier wird die Zeichnung als Endprodukt des Handaufmaßes nicht als naturalistische Abbildung eingeordnet, sondern als eine Niederschrift von Beobachtungen in einer bestimmten Symbolsprache angesehen.

8Diese Art der Darstellung widerspricht dem geodätischen Verständnis zum Entwurf von Plänen, bei dem die Lücke zwischen gemessenen Punkte durch geradlinige oder mathematisch zu beschreibende Verbindungen geschlossen wird.

9Obwohl diese Effekte durch die zusätzliche Darstellung von Koordinatenkreuzen in einem Plan leicht zu erfassen sind.

5.1 Handaufmaß 75

sung ausgeführt. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei z.B. um die Bestimmung der Oberflächen-materialien, die Erfassung konstruktiver Zusammenhänge oder auch die Analyse vorhandener Bauschä-den; weitere inhaltliche Untersuchungen sind je nach Anwendung denkbar. Alle während des Handauf-maßes bestimmten Bauwerksparameter werden in Art der Darstellungsmodelle durch Signaturen oder Textinformationen in den Bauaufnahmeplan eingetragen (Abb. 5.2b). Durch Hochzeichnen der wichtigs-ten Objektstrukturen und Bauwerksinformationen wird aus dem Bleistiftplan der endgültige, in Tusche ausgeführte Bauaufnahmeplan erstellt (Abb. 5.2c). Diese Tuschezeichnung muss darüber hinaus den an die Bauaufnahme gestellten Darstellungsanforderungen im Sinne einer 'ästhetisch schönen' Präsentation genügen.

Als übergeordneter geometrischer Bezugsrahmen werden generell rechtwinklige Koordinatensysteme verwendet, die in den meisten Anwendungsgebieten in Form von Schnurgerüsten (Abb. 4.9, Abb. 4.10), aber auch nach Art der verdichteten Bezugsnetze (Abb. 4.12) realisiert werden.

Das Genauigkeitspotenzial für das verformungsgerechte Handaufmaß ist getrennt für die absolute und relative Genauigkeit abzuschätzen. Die relative Genauigkeit des Handaufmaßes wird überwiegend durch die Genauigkeit der Streckenmessung mit dem Zollstock bestimmt. Vorausgesetzt der zu messende Punkt ist am Objekt mit hoher Genauigkeit ausgewählt worden10, kann eine Ablesung am Zollstock mit einer Genauigkeit von wenigen Millimetern ausgeführt werden. Hierbei ist jedoch darauf zu achten, dass der Zollstock am Objekt anliegt oder die Projektion auf die Bezugsebene streng rechtwinklig vorgenommen wird. Für Grundrissmessungen darf somit auf keinen Fall auf das Lot als Hilfswerkzeug verzichtet werden, bei Ansichten oder Schnitten ist eine Rechtwinkel-Lehre einzusetzen. Ebenfalls ist sicherzu-stellen, dass alle Strecken in zur Abbildungsebene parallelen Ebenen gemessen werden. Exemplarisch ist eine Messanordnung für die Grundrissmessung in Abbildung 5.4 skizziert11.

Abb. 5.4: Grundrissmessung mit Lot und Zollstock.

Die vielfach anzutreffende, mit dem Zollstock ausgeführte additive Messung von Einzelstrecken erlaubt zwar eine gute relative Genauigkeit, doch nur eine geringe absolute Genauigkeit, da hier systematische Fehler mit aufaddiert werden12. Eine gute absolute Genauigkeit kann nur sichergestellt werden, wenn ein hochgenaues Festpunktfeld als Koordinatenbezugsrahmen verwendet wird und dieses Netz soweit verdichtet ist, dass die Messungen im Handaufmaß auf kleinräumige Bereiche mit dem Radius einer Zoll-stocklänge beschränkt bleiben. Werden ausgedehntere Schnurgerüstnetze als Bezugsrahmen verwendet, so kann die absolute Genauigkeit nur in Größenordnungen von einigen Zentimetern eingehalten werden.

Obwohl das Einrichten der Messschnüre durch Richtungsmessungen mit Theodolit oder Tachymeter sowie der Einsatz von Rotationslasern bei entsprechender Handhabung die Genauigkeit von Schnur-gerüsten verbessern kann, sollten Schnurgerüste für größere Objekte nicht eingesetzt werden.

10vgl. Kap. 4.1, 'Maßstab und Genauigkeit der Bauaufnahme'

11Vertiefende Darstellungen der Messmethode des verformungsgerechten Handaufmaßes sind der Fachliteratur zu entnehmen [z.B. CRAMER, 1993; WANGERIN, 1992; WULF-RHEIDT, WOLF, 1996].

12Übergreifende Gesamtmaße können nur eine Kontrolle im Bezug auf grobe Fehler in den gemessenen Einzelmaßen darstellen.

Bei mit 20- oder 50-Meter-Messbändern gemessenen Strecken ist für hohe Genauigkeitsanforderungen der Einfluss des Messbanddurchhangs zu berücksichtigen.

Die Einsatzgebiete des verformungsgerechten Handaufmaßes sollten nach den gemachten Ausführungen auf die Erfassung kleinerer Objekte beschränkt bleiben. An erster Stelle ist hierbei die Anwendung in der historischen Bauforschung zu nennen, bei der durch die forschende Auseinandersetzung mit dem Bauwerk neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden sollen. Das Handaufmaß als direkt vor Ort auszuführende und besonders zeitintensive Methode stellt eine intensive Beschäftigung mit dem Gegenstand der Bauaufnahme sicher, sodass die baugeschichtliche Fragestellung während des Erkennt-nisprozesses entwickelt werden kann [MADER, 1982; SCHULLER, 2001]. Für größere Objekte ist der ausschließliche Einsatz des Handaufmaßes zu erwägen, wenn die räumlichen Verhältnisse sehr beengt sind. Ein typisches Beispiel kann in der Bauaufnahme von Dachstühlen gesehen werden, bei der das Handaufmaß mit Schnurgerüsten eine sinnvolle Messmethode darstellt [HOF, 2001]. Ähnlich effektiv ist das verformungsgerechte Handaufmaß bei restauratorischen Fragestellungen und in der Denkmalpflege einzusetzen, sofern eine analytische Auseinandersetzung mit dem Baukörper geleistet werden soll.

Gleiches gilt für den Einsatz bei allen Fragestellungen, die im Zusammenhang von denkmalpflegerischen Inventarisierungen oder archäologischen Surveys auftreten. Auch wenn bei diesen beiden Anwendungen aufgrund des kleineren Maßstabes und der geringeren Genauigkeitsanforderung die Methode des Archi-tektenaufmaßes einzusetzen wären, sind dennoch wegen der starken fachbezogenen Erfassungs-generalisierung und den damit verbundenen analytischen Anforderungen die Prinzipien des verformungs-gerechten Handaufmaßes anzuwenden. Nur hierdurch können spezifische Besonderheiten des Bauwerks bereits durch die Geometriemodellierung herausgearbeitet werden.

Für einige Fragestellungen kann neben den üblichen Bauaufnahmeplänen der Maßstäbe 1:10 bis 1:100 eine Erfassung von Teilbereichen bis zu einem Maßstab von 1:1 notwendig sein.

Hierfür werden zum einen die Werkzeuge des verformungsgerechten Handaufmaßes eingesetzt, die jedoch zur Einhaltung der dem Maßstab entsprechenden Genauigkeitsanforderung mit höchster Sorgfalt angewendet werden müssen. Beispielsweise kann zur Modellierung von größeren Profilen oder Ansichten, wie sie an Kapitellen oder anderer Bauornamentik anzutreffen sind, das übliche Loten der Objektpunkte auf definierte Bezugsebenen vorgenommen werden (Abb. 5.5). Allerdings werden hier selten Schnüre verwendet, sondern vielmehr feste Messrahmen aus Holz.

Abb. 5.5: Erfassung von Profilen durch verformungsgerechtes Handaufmaß

Des Weiteren sind verschiedene mechanische Messwerkzeuge verfügbar, mit denen die Geometrie direkt am Objekt abgenommen wird. Obwohl diese Hilfsmittel nicht im engeren Sinne zum verformungs-gerechten Handaufmaß gezählt werden können, sollen die typischen Instrumente und Vorgehensweisen hier der Vollständigkeit halber genannt werden. Dies geschieht insbesondere deshalb, weil mit diesen Werkzeugen zwar eine naturalistische Geometrieerfassung vorgenommen wird, aber der analytische Gedanke des verformungsgerechten Handaufmaßes im Vordergrund steht.

Kleine, ebene Bereiche, deren Oberfläche reliefartig gestaltet ist, können sehr gut mit der 'Durchreibe-technik' erfasst werden [WANGERIN, 1992]. Die Anwendung von Abklatschpapier ist in diesen Fällen ebenso geeignet wie zur Erfassung stärker strukturierten und gekrümmter Objekte.

Mit den Messwerkzeugen Zange, Zirkel, Winkelschablone oder Messkamm lassen sich Strecken und Winkel im Maßstab 1:1 erfassen (Abb. 5.6a), Profile sind einfach und schnell mit Plastilin vom Original-objekt abzunehmen (Abb. 5.6b).

Im Dokument Ulrich Weferling (Seite 74-78)