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Verbindung von Alphorn und Jodel bei Alfred Leonz Gassmann

Alfred Leonz Gassmann (1876–1962) arbeitete als Primarlehrer in Weggis, studierte Musik in Luzern, Zürich und Genf und war anschliessend als Musiklehrer tätig (Schöb 2005: o. S.). Seine Interessen galten dem Jodel und der Alphorn musik. Wie Krenger und Schmalz schrieb Gassmann Jodellieder und setzte sich für die Bele-bung des Alphorns ein. Sein Versuch, das Volkslied der Schweiz aus der Landschaft (Bodengestaltung, Klima) zu erklären, formulierte er in seiner Tonpsychologie des Schweizer Volksliedes (1936). Darin erklärt er die grossen Intervalle im Jodel als Abbild des Alpenpanoramas mit seinen steilen Bergen und Tälern (Gassmann 1936: 46, vgl. S. 32 «Widerspiegelungshypothese»).2 Gassmann sieht in einem spezifischen Dreiklangsmotiv den «Urtyp» des Jodels und das «psychologische Geheimnis des schweizerischen Naturgesangs» (Gassmann 1936: 15).

Abb. 44: «Urtyp» des Jodels nach Gassmann (1936: 15).

Die Entstehung dieses Rufmotivs begründet Gassmann mit der «Echohypothese»

(Haid 2006: 50, Baumann 1976: 99, vgl. S. 32), die besagt, dass das Jodeln aus dem Echo des Jauchzers entstanden sei; das Echo verlängere dabei die Töne des Jauchzers und lasse so einen Dreiklang erklingen, der die Jodelmelodik inspiriert haben soll.

2 Gassmann folgte zudem einer exzentrischen Sichtweise des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Er ging davon aus, dass sich die Tonhöhen und sogar die Harmonien, welche von Wasserfällen produziert werden, bestimmen lassen und dass diese in den Jodel übergegangen seien (Gassmann 1936: 9). Die Hypothese, dass die Wasserfälle konstant in C-Dur rauschen, stellte der Bruder Ernst Heims, der Schweizer Klimatologe Albert Heim (1849–1937) auf (vgl. Heim 1873).

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Abb. 45: «Urtyp» des Jodelrufes mit Notation des Echoklanges (Gassmann 1936: 16).

Die gesungene Melodie entspricht derjenigen des Jodelrufs in Abbildung 44, wobei Gassmann hier die Klänge des Echos mit kleineren Notenköpfen (c2, a2) notiert.

Dieser «schöne» Klang (Quartsextakkord) soll die Dreiklangsmelodik des Jodels inspiriert haben. Als Beispiel für eine Variation dieses «Urtyps» führt Gassmann eine Transkription eines Rufes von der Rigi an, die er 1904 aufgezeichnet hat:

Abb. 46: Volksruf aufbauend auf Quartsextakkord, auf der Rigi aufgezeichnet (Gass-mann 1936: 16).

Dasselbe Motiv betrachtet Gassmann sowohl für das Alphorn als auch für das Jodeln als fundamentales ästhetisches Prinzip. «Diesem Urtyp des schweizeri-schen Volksliedes entsprechend, kennen wir auch eine stereotype Wendung der schweizerischen Alphornmelodien» (Gassmann 1936: 16):

Abb. 47: Die «stereotype Wendung der schweizerischen Alphornmelodien» gemäss Gassmann (1936: 16).

Gassmann verwendete als Erster in seinen Kompositionen klar vorgeschriebene Echostellen (Sommer 1994: 8). In seiner Sammlung von Alphornmelodien, S’Alp-hornbüechli, veröffentlichte er 1938 tradierte Melodien und Eigenkompositionen, davon rund die Hälfte mit Echostellen. In einigen Kompositionen, zum Beispiel im Frutt-Kuhreihen (Gassmann 1938: 49), vermerkte er solche Stellen mit der Bezeichnung «Echo». Eine weitere Innovation Gassmanns zeigt sich in den Kom-positionen von zwei- und dreistimmigen Alphornstücken, die sich im hinteren Teil des Alphornbüechli befinden (Gassmann 1938: 94). Die einzige ältere Notation für

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eine mehrstimmige Alphornformation stellt das schon erwähnte Zwischenspiel anlässlich des Erzherzog-Johann-Fests in Basel 1815 dar (vgl. S. 81).

Gassmanns Kenntnisse der Alphornmusik inspirierten ihn, bestimmte melo-diöse Formen der Alphornmusik in seinen Jodelkompositionen und seinen Tran-skriptionen von mündlich überlieferten Jodeln zu integrieren. Gassmann gab 1913 das umfangreiche Liederbuch s’ Alphorn. 100 echte Volkslieder, Jodel und Gsätzli mit dem Titellied s’Alphorn heraus. Nach der Liedstrophe «Da klingt ein Ton so leise wie Himmelsmelodie; das ist des Alphorns Weise» (Gassmann 1913: 1) folgt gleich anschliessend der Jodelrefrain:

Abb. 48: Jodel im Lied s’Alphorn von Gassmann (1913: 2).

Die Melodie dieses Jodelrefrains bewegt sich auf der Naturtonreihe im gängi-gen Tonumfang des Alphorns, vom 6. bis zum 12. Naturton und enthält das Alphorn-fa (Takte 3 und 7). In den Takten 1, 2, 5 und 6 verarbeitet Gassmann seinen «Urtyp» des Jodels (vgl. Abb. 44). Zum Schluss erklingt das bekannte

«Lobe»-Motiv aus dem Betruf.

In einigen seiner Transkriptionen von überlieferten Jodeln bezeichnet Gass-mann das Alphorn-fa speziell, beispielsweise im Lockruf der Schwyzer Älpler I (Gassmann 1961: 183) oder im Lothebach-Jodel (Gassmann 1961: 185). Für beide 1925 in Goldau aufgezeichneten Jodel verwendet er dafür ein +.

Die Verwendung des Alphorn-fa in der eingestrichenen und der zweigestri-chenen Oktave kann als Abstrahierung dieser Tonstufe von ihrem instrumentalen Kontext verstanden werden. Die «erniedrigte lydische Quart», wie Gassmann (1961: Vorwort) das Alphorn-fa auch nennt, wird in den Jodel auch dann mit-einbezogen, wenn die Melodie auf einem Alphorn aufgrund der Intervalle nicht spielbar wäre (vgl. Abb. 49 und 50). Die Tatsache, dass Gassmann das Alphorn-fa in zwei unterschiedlichen Oktaven notiert, zeigt seinen kreativen Umgang mit diesem Intervall. Die Verwendung des Alphorn-fa als stilbildendes melodisches Element, ohne jedoch die Melodie auf die Naturtonreihe zu beschränken, darf so verstanden werden, dass sich das Alphorn-fa vom Zusammenhang der

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Abb. 50: Lothebach-Jodel (Gassmann 1961: 185).

Abb. 49: Lockruf der Schwyzer Älpler I (Gassmann 1961: 183).

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tonskala emanzipiert hat und als Stilmittel in der Vokalmusik bewusst eingesetzt wird (vgl. Einfluss D, S. 176). Gassmann (1961: 309) schrieb dazu:

Der Schwyzerjodel klingt an die Jodel des Appenzellerlandes mit der Vorliebe für das Alphorn-Fa (die erhöhte vierte Stufe) an. […] Die Fermaten werden aussergewöhn-lich lange gehalten; hierdurch und mit den vielen Alphorn-Fa klingt dieser Jodel so melancholisch und erinnert an viele Appenzeller Jodlerweisen. (Gassmann 1961: 309) Gemäss Gassmann kommt das Alphorn-fa im Schwyzer und im Appenzeller Jodel vor, wo er dieses Intervall als Teil des lydischen Modus versteht und es mit dem Alphorn in Verbindung bringt (vgl. Einfluss E, S. 176). Mit dem Fokus auf diese Art des Jodels entfernte sich Gassmann deutlich vom Stil des Tiroler Salonjodlers.

Er versuchte vielmehr, die Melodien einfacher zu setzen, und kritisierte den virtuo-sen Jodelstil des 19. Jahrhunderts. «Mit der stark verzierten Melodie Hubers haben sich hingegen unsere Volkssänger nicht befreunden können», schrieb Gassmann in Bezug auf den Geissreihen,3 den er mit einer anderen Melodie veröffentlichte, welche sich an den Jodlerfesten durchsetzte (Gassmann 1961: 289).

Fazit

Gassmann versuchte, die Herkunft von musikalischen Rufen aus der Natur her-zuleiten. Die Entdeckung des Echos und der Zusammenklang von nacheinan-der gerufenen Tönen zum konsonanten Akkord soll die Dreiklangsharmonik begründet haben. Er verband diese Melodik mit derjenigen des Alphorns und des Jodels. Nach Krenger lieferte Gassmann als nächster Komponist eine um-fangreiche Sammlung von Alphornstücken (Gassmann 1938), aus der bis heute gern gespielt wird. In Gassmanns Notenheft sind erstmalig auch zwei- und drei-stimmige Kompositionen enthalten. Wie bereits bei Huber, Schmalz und Krenger dokumentiert, floss die Alphornmelodik auch in Gassmanns Jodelkompositionen ein. Das Alphorn-fa notierte er in einigen seiner Jodeltranskriptionen ausdrücklich und emanzipierte es gleichzeitig durch die Herausnahme aus der Naturtonreihe und die Einbettung in diatonische Jodelmelodien.