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Anhand der folgenden Beispiele werden fünf verschiedene Möglichkeiten ge-schildert, wie die Tonalität des Alphorns in den Jodel einfliessen kann: Der Jodel basiert ausschliesslich auf der Naturtonreihe (Einfluss A), die Naturtonreihe wird teilweise verwendet und das Alphorn-fa wird intoniert (Einfluss B), der Jodel integriert das «Lobe»-Motiv aus Kuhreihen und Betrufen (Einfluss C), der Jodel verwendet in bestimmten Momenten die erhöhte vierte Stufe als Stil-mittel (Einfluss D) oder der Jodel basiert auf dem lydischen Modus mit durch-gängig erhöhter vierter Stufe, der auch als «Alphorn-Fa-Jodel» bezeichnet wird (Einfluss E). Diese fünf Varianten sind exemplarisch zu verstehen und nicht als trennscharfe Kategorien.

Einfluss A: Als Beispiel für einen Jodel, der vollständig auf der Naturtonreihe beruht, gibt Leuthold einen Innerschweizer Naturjodel vom «Natursänger» Paul Gander an (Leuthold 1981: 99). Gander intonierte das Alphorn-fa in seinem Naturjodel mit dem Titel Beckenrieder Kuhreihen konsequent, sowohl in auf-steigender als auch in abauf-steigender Linie (Leuthold 1981: 99). (Abb. 60)

Die Melodie des Beckenrieder Kuhreihens mit dem Tonumfang vom 6. bis 12. Naturton könnte auch auf dem Alphorn gespielt werden. Jodel, die vollstän-dig auf der Naturtonreihe basieren und das Alphorn-fa sowohl in aufsteigender als auch in absteigender Bewegung einschliessen, kommen in den untersuchten Jodelmelodien selten vor. Falls – wie bei diesem Beispiel – der Jodel komplett auf der Naturtonreihe basiert, zeigt sich die Beziehung zum Alphorn am deutlichsten.

Dieser Aufbau findet sich ebenso beim Muotataler Bücheljuuz, bei dem zusätzlich die Klangfarbe des Instruments imitiert wird (vgl. S. 187).

Einfluss B: Häufiger als Jodelmelodien, die vollständig auf der Naturton-reihe aufbauen, sind Jodel überliefert, die eine diatonische Durtonleiter verwenden und Naturtonsequenzen enthalten. Durch die Akzeptanz und die Förderung des Alphorn-fa im Jodel (vgl. S. 153) hat sich die Verwendung dieses Intervalls etabliert.

Wie Gassmann und Leuthold erläutern (vgl. S. 149, S. 154), wird hauptsächlich im Naturjodel der Zentralschweiz und der Region Appenzell das Alphorn-fa als Stilmittel verwendet. In der Aufnahme eines Naturjuiz aus Obwalden, Hech obe von Ruedi Rymann, lässt sich diese Konstellation aufzeigen. Der Solobeginn des Jodels, vor dem Choreinsatz, gleicht einer charakteristischen Alphornmelodie:

Abb. 59: Beginn von Hech obe von Ruedi Rymann, Aufnahme vom Jodlerklub Giswil unter der Leitung von Edi Gasser (Der Innerschweizer Naturjutz 1997: Titel Nr. 11).

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Der Naturjodel Hech obe steht beispielhaft für die Verwendung einer Natur-tonsequenz. Das in der ersten Phrase verwendete Tonmaterial baut vollständig auf der Naturtonreihe auf.2 Die Intonation der vierten Tonstufe wird, wie von Fellmann (1948: 28) gefordert, in der aufsteigenden Linie gleichstufig ausgeführt und in der absteigenden Linie als Alphorn-fa. Am Phrasenende steht das für den Kuhreihen und den Betruf typische «Lobe»-Motiv (vgl. S. 117, Einfluss C). Im Anschluss an diese Phrase verläuft die Melodie, mit Chorbegleitung, diatonisch.

In einem anderen Beispiel, dem Bärgli Juuz, solistisch vorgetragen von Anton Büeler (Muotathal), lässt sich zu Beginn eine Sequenz erkennen, in der einzelne Noten von Büeler so intoniert werden, dass sie klar vom gleichstufigen System abweichen. Um dies zu verdeutlichen, sind im folgenden Notenbeispiel die Grös-sen der benachbarten Intervalle in Cent angegeben:

Abb. 61: Bärgli-Juuz, gesungen von Anton Büeler (Volksmusik aus dem Kanton Schwyz 2005: Titel Nr. 4), Anfang.

2 Für die Notation auf dem Alphorn müsste die Melodie eine kleine Terz nach oben transponiert werden. Sie reicht vom 5. bis 12. Naturton.

Abb. 60: Beckenrieder Kuhreihen von Paul Gander, überliefert von Heinrich Leuthold (1981: 99) (Transkription d. Verf.).

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Der Naturjodler Anton Büeler, der die naturreine Intonation beherrscht (vgl.

S. 189), bringt mit dieser Intonation natürlicher und neutraler Terzen3 eine äs-thetische Wirkung zustande, die sich deutlich von derjenigen einer gleichstufig temperierten Interpretation unterscheidet. Der Grundton der Sequenz, der Ton as1, wird in Bezug auf die anderen Noten absichtlich bis zu einem Viertelton höher intoniert, was durch die vielen Wiederholungen bestätigt wird. In der absteigenden Linie wird ein Alphorn-fa intoniert (des2 in Bezug zu as1). Wie der Naturjuiz Hech obe hat auch dieser Naturjodel eine diatonische Fortsetzung.

Jodel, die Sequenzen einer Alphornmelodie beinhalten, weisen partiell auf eine gezielte Übernahme von Alphornmusik hin.

Einfluss C: Einige Naturjodel enthalten Motive, die für den Betruf und den Kuhreihen typisch sind (vgl. S. 117, Abb. 30–32). Als Beispiel kann der traditio-nelle Unterwaldner Stelli-Juiz angeführt werden. Die Schlusswendung des ersten Teils dieser diatonischen Melodie besteht aus dem typischen «Lobe»-Motiv, das aus diversen Betruf-, Kuhreihen- und Alphornmelodien bekannt ist:

Abb. 62: Takte 13–24 des Stelli-Juiz, mit «Lobe»-Motiv als Schlusswendung (Stanser Jodlerbuebe 1982: Titel B6).

Die dieser Transkription und Analyse zugrunde liegende Aufnahme stammt von den Stanser Jodlerbuebe aus dem Jahr 1982.4 Das genannte Schlussmotiv enthält Intervalle, welche der Naturtonreihe nahekommen. Diese sind im folgenden No-tenbeispiel gekennzeichnet:

Abb. 63: «Lobe»-Motiv als Schlusswendung im Stelli–Juiz.

Die Wahrnehmung des Durchgangstons f2 als Alphorn-fa wird durch das erste Intervall im Notenbeispiel hervorgerufen, obwohl das Intervall nicht genau der arithmetischen Distanz vom 12. zum 11. Naturton, -149 Cent, entspricht. Das Intervall von -132 Cent unterscheidet sich aber wahrnehmbar vom nächstliegenden gleichstufigen Intervall, dem Halbton mit -100 Cent. Diese Analyse zeigt, wie ein

3 Grosse Naturterz: 386 Cent (vom 4. zum 5. Naturton), kleine Naturterz: 314 Cent (vom 5. zum 6. Naturton), neutrale Terz: 350 Cent (Mittelwert von 300 und 400 Cent).

4 Für vollständige Dirigentennotizen des Stelli-Juiz sowie des Hech obe vgl. www.naturjodler.ch, 13. 6. 2018.

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Motiv aus dem Kuhreihen beziehungsweis dem Betruf Eingang in den Jodel fand.

Zudem deutet die Intonation des Alphorn-fa auf einen Bezug zum Alphorn hin.

Einfluss D: Ein Hinweis auf eine mögliche Verbindung zum Alphorn besteht ebenso in der selektiven Verwendung der erhöhten vierten Tonstufe als Stilmittel, ohne weiteren Gebrauch der Naturtonreihe. Wird beispielsweise in der Tonart G-Dur der Ton c an einer bestimmten Stelle um einen Halbton erhöht, sodass cis erklingt, entsteht eine hörbare Anspielung auf das Alphorn-fa. Ein Beispiel dafür findet sich im komplexen, mehrteiligen Naturjodel De Schratte zue vom Landwirt und Jodler Franz Lustenberger. Dieser Naturjodel wechselt die Tonart mehrfach, enthält chromatische Tonschritte und weicht gelegentlich auf die erhöhte vierte Tonstufe aus. Teil B des Jodels veranschaulicht dies:

Abb. 64: Teil B aus Franz Lustenbergers Naturjodel De Schratte zue (Lustenberger 1959).

Die Transkription basiert auf der Aufnahme Lustenbergers aus dem Jahr 1959.5 Die umrahmten Stellen zeigen einen Durchgang mit der erhöhten vierten Tonstufe, wodurch der Eindruck eines Alphorn-fa entsteht. Eine Version desselben Natur-jodels, De Schratte zue, von den Tannzapfen-Jodlern Finsterwald (Entlebucher Naturjodel 2011: Titel Nr. 3) illustriert diesen tonalen Effekt ebenso. Wie anhand der Transkriptionen Gassmanns bereits dargelegt (vgl. S. 152, Abb. 49 und 50), kommt auch in den beiden Versionen von De Schratte zue eine Anspielung auf das Alphorn-fa unabhängig von der Naturtonreihe sowohl in der zweigestri-chenen als auch in der eingestrizweigestri-chenen Oktave vor. In De Schratte zue wird die erhöhte vierte Tonstufe nur gelegentlich als Stilmittel verwendet (vgl. Abb. 64).

Eine durchgehend erhöhte Quarte entspricht demgegenüber einem lydischen Modus (Einfluss E).

Einfluss E: Alfred Tobler hat die Wahrnehmung der erhöhten vierten Tonstufe der Tonskala (lydischer Modus) als Alphorn-fa im Jodel genau beschrieben und

5 Lustenbergers Aufnahme ist unter www.youtube.com/watch?v=CvlrTKbFpnw vorhanden, 13. 6. 2018.

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dafür den Begriff «Alphorn-Fa-Jodel» (Tobler 1903: 90) eingeführt. Er schrieb über die Übertragung des Alphorn-fa auf den Jodel:

Diese in der Natur und Beschaffenheit des Alphorns liegende Eigenschaft übertrug sich auf den Gesang. Indem der Senne seine «Arbeit im Stalle» gerne mit Melodien begleitet, welche solche Alphornzwischentöne enthalten, hat durch ihn diese Jodelart den scherzhaften Namen [Chüädreckeler] bekommen. (Tobler 1903: 90)

Die Verwendung des «Zwischentons» ausserhalb der Durtonleiter kann gemäss Tobler dem Alphorn zugeschrieben werden. Die Notenbeispiele, welche Tobler für den «Alphorn-Fa-Jodel» anführt, zeichnen sich durch grosse Intervallsprünge und ungewohnte Tonfolgen aus und sind, fasst man die Tonstufen in einer Skala zusammen, im lydischen Modus notiert. Tobler notierte einen solchen Naturjodel mit dem Titel Chüädreckeler:

Abb. 65: Appenzeller Chüädreckeler (Tobler 1890: 49) mit erhöhter vierter Tonstufe.

Der Chüädreckeler Toblers beruht auf dem lydischen Modus: In Bezug auf den Grundton d erscheint die Quarte gis erhöht. Grosse Intervallsprünge zeichnen die Melodie aus, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass ein Registerwechsel zwischen Brust- und Kopfstimme vollzogen wurde. Bei seiner Beschreibung des «Alphorn-Fa-Jodel» kann sich Tobler auf Szadrowsky berufen, der bereits 22 Jahre vorher in der Region Appenzell die Verwendung der erhöhten Quarte beschrieb: «Es ist ferner eine characteristische Erscheinung in den Gesängen und Musikstücken der schweizerischen, vorab appenzellischen Bergbewohner, dass die Quarte (fa) häufig erhöht erscheint» (Szadrowsky 1868: 282).

Tobler gibt in seiner späteren Publikation Das Volkslied im Appenzellerlande von 1903 konkreter Auskunft darüber, was er unter dem «Alphorn-Fa-Jodel»

versteht: «Es sind dies die Jodel, welche mit zu Grunde gelegtem tonischem Dur-Dreiklang die vierte Stufe, das Fa, konsequent um einen halben Ton erhöhen, also in C-dur fis statt f, in D-dur gis statt g u. s. f.» (Tobler 1903: 90).

Tobler hebt hervor, dass die Alphorntonalität in der Region Appenzell als lydischer Modus zu verstehen sei, definiert durch die um einen Halbton erhöhte vierte Tonstufe. Folglich sind schweizweit zwei Konzepte des Alphorn-fa im Jodeln zu unterscheiden: Zum einen die Intonation des elften Naturtons, der in der Mitte zwischen dem 10. und dem 12. Naturton liegt, und zum anderen der

«Alphorn-Fa-Jodel» (Tobler 1903: 90) in der Region Appenzell, welcher der ly-dischen Tonskala entspricht. Das Vorkommen des «Alphorn-Fa-Jodel» wird auch

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von anderen Volksmusikforschern in verschiedenen Regionen der Schweiz mit dem Alphorn in Verbindung gebracht, so von Gassmann (1961: 309), Leuthold (1981: 98) und dem Archivar des Zentrums für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik in Gonten, Erwin Sager (pers. Komm. 25. 1. 2016).

Fazit

Die Analyse dieser Jodelaufnahmen und Jodelnotationen zeigt auf, wie das Alp-horn die Melodik und die Intonation des Jodels beeinflusst. Unterschiedliche Arten der Rezeption sind beobachtbar, von der vollständigen Übernahme der Alphornskala und der Intonation des Alphorns (Einfluss A) über den Einschluss solcher Sequenzen (Einfluss B) und den Einbezug charakteristischer Betruf- und Kuhreihenmotive (Einfluss C) bis zur Übernahme der erhöhten Quarte als Stil-mittel an gewissen Stellen (Einfluss D) oder der Anpassung eines ganzen Jodels an den lydischen Modus (Einfluss E). Die vorgebrachten Beispiele stehen für einen kleinen Teil aller modernen Tonaufnahmen, somit kann keine systemische Verwendung der beschriebenen Alphorneinflüsse in einer Region oder in einem bestimmten Zeitabschnitt belegt werden.

Die fünf oben aufgestellten Übernahmemodelle können anhand dieser neueren Jodelaufnahmen bestätigt werden. Sie stammen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts und belegen die Akzeptanz und die Beliebtheit der Naturtonmelodik und des Alphorn-fa im zeitgenössischen Jodel. Für den Beginn des 20. Jahrhunderts fällt es wesentlich schwerer, solche Einflüsse des Alphorns auf das Jodeln nachzuweisen.