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Wird die Grundidee der Instrumentalhypothese auf ein begrenztes Untersu-chungsgebiet und hierin auf eine bestimmte Musikgattung und ein bestimmtes Instrument, in unserem Beispiel auf das Alphorn und den Jodel, begrenzt, so sollten sich ausschliesslich für diese Region geltende Aussagen formulieren lassen, die dann im Rahmen eines Vergleichs mit weiteren Fallbeispielen ein aufschlussreiches, aber wohl komplexes Bild ergeben, das zur aktuellen interdis-ziplinär geführten Diskussion über Universalien und Instrumentalhypothesen beitragen kann.

Ein eindeutig formulierter Hinweis eines musikalischen Berührungspunktes zwischen Jodel und Alphorn findet sich schon 1818 beim Berner Philosophie-professor Johann Rudolf Wyss (1781–1830) (1818: XV),8 aber erst hundert Jahre später wird diese Gemeinsamkeit in der musikwissenschaftlichen Diskussion erörtert. Wie bereits erwähnt, postulierte Hornbostel 1925 einen instrumentalen Ursprung des Jodels, wobei er neben dem Alphorn auch die im Alpengebiet vertre-tene Schalmei miteinbezog (Hornbostel 1925: 204). Hornbostels Argumentation basiert auf sechs Merkmalen, die auf eine instrumentale Abstammung des Jodels hindeuten (Hornbostel 1925: 203):

– Registerwechsel zwischen Brust- und Kopfstimme

– Grosse Intervallsprünge, die in anderen Gesangsstilen als «unsanglich» gelten – Legato über grosse Intervalle und längere Motive

– Grosser Tonumfang

– Harmonischer Aufbau, basierend auf Dreiklängen – Textlosigkeit

Während diese Merkmale für eine Verbindung sprechen, sieht Hornbostel den eindeutigen Hinweis, abgestützt auf der oben erwähnten Aussage seines Lehrers und Kollegen Stumpf (vgl. S. 25), im Alphorn-fa:

8 Eine detaillierte Diskussion dazu befindet sich auf S. 100.

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Den schlagendsten Beweis aber für die vokale Nachahmung des Alphorns liefern jene Appenzeller (innerrhodischen) Jodler und Kuhreigen, die an Stelle der Quarte den Tritonus oberhalb der Tonika benutzen, der als elfter Teilton auf der Naturtrompete die fehlende Quarte ersetzen muss. (Hornbostel 1925: 206)

Neben dem gemeinsamen Vorkommen des Alphorn-fa in beiden Musikpraktiken sieht Hornbostel das häufige Auftreten grosser Intervalle, wie Oktaven, Sexten, Quinten und Quarten, den grossen Tonumfang, das Überschlagen der Stimme, wel-ches an das Überblasen des Instruments erinnert, sowie die Vokalisation ohne Text und den harmonischen Aufbau auf Dreiklängen als Argumente für den Ursprung des Jodels in der Alphornmusik und damit in der Naturtonreihe als tonales System.

Der Musikwissenschaftler Jacques Handschin (1886–1955) (1948: 311) räumt zwar ein, dass in gewissen Jodeln das Alphorn-fa «nachgeahmt» wird, geht aber davon aus, dass die alphornblasenden und singenden Älpler von der Diatonik geprägt und «eher auf die Melodieform mit der reinen Quart eingestellt» sind.

Gemäss Handschin (1948: 311) kommt die erhöhte Quarte auch in Regionen vor, in welchen keine Naturblasinstrumente bekannt sind, und somit muss diese Tonstufe nicht zwingend von der Naturtonreihe inspiriert sein.

Die Begründung des rumänischen und unter anderem in der Schweiz tätigen Komponisten und Musikethnologen Constantin Brăiloïu (1893–1958) für seine Ab-lehnung einer Verbindung von Jodel und Alphorn basiert ebenfalls auf der Tatsache, dass auch in Musikkulturen registerwechselnd gesungen wird, in denen keine Na-turtrompeten vorkommen (Brăiloïu 1949: 69). Diese Argumentation hat aber nur Gültigkeit, wenn von einer einmaligen Entstehung und einer globalen Verbreitung des Instruments ausgegangen wird, wovon neuere Meinungen gänzlich abweichen. Über-zeugt von Brăiloïus Argumentation formulierte der deutsche Musikwissenschaftler Walter Wiora (1906–1997) seine auf der Kulturkreislehre beruhende Meinung im musikwissenschaftlichen Lexikon Musik in Geschichte und Gegenwart (1958: 76):

Die These, es [Jodeln] sei als vok. Nachahmung von Instr. (das Alphorn in Europa, der Panpfeife in Melanesien) aufgenommen, wird durch zahlreiche Argumente widerlegt, die besonders C. Brailoiu dargelegt hat. Zwar ahmte man später oft Instr. nach; dass das Jodeln aber nicht auf solche Weise entstanden ist, zeigt schon seine Verbreitung bei urtümlichen Wildbeutern, die keine Instr. besitzen.

Die Argumente von Wiora und Brăiloïu sind aufgrund ihres evolutionistischen und diffusionistischen Hintergrunds nicht mehr akzeptabel und andere Ansätze für und wider eine Verbindung des Jodels mit dem Alphorn müssen diskutiert werden. Der Schweizer Komponist und Naturjodelexperte Heinrich Leuthold (1910–2001) schliesst einen Einfluss der Alphornmusik auf den Jodel nicht aus, sieht ihn allerdings als gering (Leuthold 1981: 41), da nach seiner Auffassung die Naturtonreihe nicht nur eine Eigenschaft des Alphorns, sondern auch eine Eigenschaft des menschlichen Stimmorgans sei (Leuthold 1981: 36):

Beim Alphorn springt der Ton durch stärkere Lippenspannung und grössere Inten-sität der Luftsäule automatisch in eine der nächstfolgenden Stufen der Obertonreihe hinauf. […] Dem gleichen Gesetz ist auch das menschliche Stimmorgan unterworfen.

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Vielleicht wird man schon die Beobachtung gemacht haben, dass eine männliche Stimme, besonders eine nicht voll mutierte, plötzlich umschlägt ins Fistelregister, und zwar in die Duodezime hinauf, die identisch ist mit dem 3. Teilton der Naturtonreihe.

Leuthold weist den Stimmbändern dieselben physischen und akustischen Eigen-schaften wie dem Alphorn zu und begründet damit, dass Gesangsintervalle natür-licherweise der Naturtonreihe entsprechen (Leuthold 1981: 36). Nach Leutholds Aussage wären Naturtonintervalle im Gesang somit ein globales Phänomen und nicht durch das Alphorn bedingt.

Die Diskussionen für und wider die Hypothese einer musikalischen Be-ziehung zwischen Alphorn und Jodel dauern seit Wyss’ Bemerkung von 1818 bis heute an. Speziell die bereits erwähnte Dissertation Baumanns (1976) hat die Diskussionen erneut angeregt. Seine Ausführungen sind von besonderer Bedeu-tung für die Jodelforschung und werden im vorliegenden Text an verschiedenen Stellen zitiert. Seine Hypothesen zum Ursprung des Jodels bilden die Quelle für zahlreiche Zitate (vgl. Haid 2006, Räss/Wigger 2010, Luchner-Löscher 1982).

Baumann (1976: 99–114) nennt sieben Ursprungshypothesen des Jodels, die

«Echo-Hypothese», die «Affekt-Hypothese», die «Instrumental-Hypothese», die «Phonations-Hypothese», die «Widerspiegelungshypothese», die «Rassen-Hy-pothese» und die «Zuruf-Hy«Rassen-Hy-pothese». Die Bezeichnungen lassen leicht auf die Inhalte dieser Hypothesen schliessen. Einige dieser Vermutungen verwirft Bau-mann gleich wieder, jedoch nicht die Instrumentalhypothese.

Fazit

Die oben angeführten Vermutungen zum Ursprung von Alphorn und Jodeln basieren grossteils auf obsoleten Theorien. Sie bauen auf evolutionistischen und diffusionistischen Grundgedanken auf, die heute für Fragen nach der Entstehung und Migration von Musikinstrumenten und Gesangsstilen keine Gültigkeit mehr haben. Die Entfaltung eines Instruments wie des Alphorns oder einer bestimmten Gesangstechnik wie des Jodelns setzt komplexe, teilweise auch dem Zufall un-terworfene Entwicklungen, verschiedene ästhetische Klangvorstellungen sowie kulturelle oder sozio-ökonomische Veränderungen voraus.

Der frühe Hinweis von Wyss auf einen möglichen Bezug zwischen Alphorn-musik und Jodeln vor 200 Jahren bildet den Ausgangspunkt für viele Musikfor-schende, die eine solche Beziehung vermuten. Die genannten Argumente bleiben dennoch etwas oberflächlich, wenn sie sich ausschliesslich auf das Vorhandensein des Alphorn-fa in beiden Musikpraktiken beschränken, und vernachlässigen die historischen Gegebenheiten. Den Fragen wie, wann und wo eine wechselseitige Beeinflussung hat stattfinden können, wird im Hauptteil dieser Studie nachge-gangen.

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Hinweise auf Verbindungen zwischen Alphorn und Gesang