• Keine Ergebnisse gefunden

Die geringe Verbreitung des Alphorns und des Jodels in der Zeit nach den För-dermassnahmen rund um die Unspunnenfeste (vgl. S. 65) musste für die bürger-lichen Organisatoren einen «schalen Beigeschmack» hinterlassen haben. Nicht nur konnte keine grossflächige Verbreitung des Instruments erreicht werden, das Alphorn wurde sogar zum «Bettelinstrument» umfunktioniert.

Das Aufkommen des Tourismus in der Schweiz ging mit der Erschliessung der Alpen einher. Der Ausbau der Eisenbahn, das Erstellen eines Strassennetzes über die Alpenpässe und der Bau von Hotels in den Berggebieten vereinfachten das Reisen der ausländischen Gäste. Im 19. Jahrhundert war neben deutschen und französischen Besucherinnen und Besuchern speziell die Jugend des englischen Adels von den Schweizer Bergen begeistert. Die in englischer Sprache veröffent-lichten Reiseberichte und die damals gängige Meinung, dass das Hochgebirgsklima gegen die in den Industriestädten aufkommenden Krankheiten ein Heilmittel biete, motivierten eine grosse Zahl von Touristen, die Schweiz zu besuchen. Zu den Touristenorten zählten verschiedene Ortschaften und leicht begehbare Berge.

Szadrowsky nennt in den 1860er-Jahren ein gutes Dutzend solcher Orte und Plätze, an denen für Touristen das Alphorn geblasen wurde:3

Im Berner Oberland befinden sich ungefähr 12 bis 14 Stationen für Alphornbläser, u. A. beim Staubbach; oberhalb Dorf Wengern, gegenüber Mettenberg; oben am 3 Für eine Behandlung des Tourismus in der Schweiz in Zusammenhang mit dem Alphorn kann das Kapitel «Tourism, Switzerland and the Alphorn Phenomenon» von Vignau (2013: 191) konsultiert werden.

126

Reichenbach; oben am Alpbigel, gegenüber dem Eiger, auf dem Wege nach Wengern- Scheidegg, von Grindelwald aus; an der Strasse nach Grindelwald, direct am Ufer der Lütschine; zwischen der Rosenlaui und Scheidegg; oben auf dem Faulhorn, am Fusse des Gipfels; auf der Heimwehfluh, bei Interlaken u. s. w. (Szadrowsky 1868: 313) Aufgrund ihrer Ausrichtung als Touristenattraktion erhielten im Berner Ober-land die Alphornbläser den Namen «Lohnbläser».4 Dabei wurde auf besonders schön umwickelten Alphörnern, die auch visuell auf die Touristen wirken sollten, gespielt. Szadrowsky nennt diese Instrumente, die neben der schönen Umwick-lung auch einen grossen und eindrücklichen Schallbecher besassen, «Schaustück für Touristen» (Szadrowsky 1868: 286).5 Der visuelle Eindruck soll oft beein-druckender gewesen sein als die Qualität der Alphornmusik (Szadrowsky 1868:

304) und dieser Qualitätsmangel des Alphornspiels führte weiter zu negativen Ausführungen in Reisebeschreibungen (Heim 1881a: 99).

Zwar gefiel der Engländerin Jemima Morrell (1832–1909) das Alphornspiel beim Staubbach in Lauterbrunnen, doch die Aufdringlichkeit der Alphornbläser auf dem Weg zur Rigi sowie im Berner Oberland empfand sie als störend (Knecht 2014: 145). Der Schriftsteller Hermann Alexander von Berlepsch (1814–1883) gibt in seinem 1866 erschienenen Reiseführer Neuestes Reisehandbuch für die Schweiz Ratschläge, wie mit diesen Belästigungen umzugehen sei.

Die Bettelei, welche früher den Reisenden besonders auf der Tour von Meiringen über Grindelwald nach Lauterbrunnen sehr belästigte, hat wesentlich nachgelas-sen. Man bestimme gleich beim Antritt der Tour etwa 1 Fr. in Kupfer und kleiner Münze für die Alphornbläser, balgenden Knaben, Alpenrosen anbietenden Mädchen, Echo-Kanoniere und ähnliche Industrielle und lasse sich den Humor nicht verderben.

(Berlepsch 1866: 443)

Der Fremdenverkehr nahm jedoch im Verlauf des 19. Jahrhunderts weiter zu und das Pfarramt Grindelwald, die Behörden und der Fremdenführerverein sahen sich gezwungen, Verbote gegen die Bettelei auszusprechen (Knecht 2014: 146). Das im Lokalblatt Echo von Grindelwald 1901 abgedruckte Verbot enthält sieben Punkte, darunter die Weisung: «Ansingerei und schlechte Alphorntuterei sind untersagt» (Echo von Grindelwald, zit. nach Knecht 2014: 146). Das Betteln mit dem Alphorn beschränkte sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht auf das Berner Oberland, auch in der Zentralschweiz wurde die Aufdringlichkeit der Alphorn-bläser bemerkt. Szadrowsky schrieb, dass das Alphorn auch in Unterwalden «in den Händen von meist nur ‹bettelnden› Hirten» zu finden sei und sich «diese Erscheinung […] leider ebenso belästigend für die Touristen, wie misskreditierend für das characteristische Hirteninstrument» auswirke (Szadrowsky 1868: 288).

Der Schriftsteller Mark Twain (1835–1910) erlebte 1878 auf der Rigi die Auf-dringlichkeit der Bettelnden ebenfalls und schildert sie in seiner humorvollen Kurzgeschichte von 1880. Aus Twains Bericht wird ersichtlich, dass neben dem

4 Die Information stammt von Wilhelm Michel aus Lauterbrunnen (Pers. Komm. Michel 10. 4. 2017).

5 Vignau ist der Auffassung, dass der Tourismus sogar zur Entwicklung der heutigen Form des Instruments beigetragen hat (Vignau 2013: 191).

zurück

Alphornblasen auch gejodelt wurde, um Geld von den Touristen zu erbetteln. Bei seiner Wanderung freute sich Twain über den ersten Jodler, einen sechzehnjährigen Schafhirten, so sehr, dass er ihm einen Franken schenkte, damit er weiter jodle (Twain 1981: 10). Die Fortsetzung der Wanderung auf die Rigi beschrieb Twain wie folgt:

After about fifteen minutes we came across another shepherd boy who was jodling, and gave him half a franc to keep it up. He also jodeled us out of sight. After that, we found a jodler every ten minutes; we gave the first one eight cents, the second one six cents, the third one four cents, the fourth one a penny, contributed nothing to Nos. 5, 6, and 7, and during the remainder of the day hired the rest of the jodlers, at a franc apiece, not to jodel any more. There is somewhat too much of this jodling in the Alps. (Twain 1981: 11)

Sowohl das Alphornblasen als auch das Singen wurden im 19. Jahrhundert zu Touristenattraktionen. Jodel und Jodellieder gehörten sehr wahrscheinlich zum gängigen Gesangsrepertoire, denn die Besucherinnen und Besucher wünschten sich wohl lokale Lieder. Dies könnte zu gemeinsamen Vorträgen von gesunge-nen respektive gejodelten Kuhreihen und Alphornmusik geführt haben, dazu fehlen aber Belege. Für die Beantwortung der Frage nach einer musikalischen Beziehung zwischen Alphorn und Jodel können keine weiterführenden Resul-tate aus dem touristischen Umfeld zu dieser Zeit vorgelegt werden. Dennoch fanden wichtige Entwicklungen für die Form und die internationale Reputation der Alphornmusik und des Jodels statt. Besonders einflussreich waren hierbei Sängergruppen aus Tirol.

Um der Armut der Berggebiete im späten 18. Jahrhundert zu entgehen, entschlossen sich einige Tirolerinnen und Tiroler, durch Europa zu reisen, um handgefertigte lokale Produkte zu verkaufen. Diese Tirolergruppen gaben Lieder ihrer Heimat als musikalische Kostproben zum Besten und schlossen sich später zu hauptberuflichen Sängerformationen zusammen (Hupfauf 2016: 75). Der deut-sche Dichter der Aufklärung Gottfried August Bürger (1747–1794) gibt an, im Jahr 1777 in Göttingen eine Sängergruppe aus Tirol gehört zu haben, beschreibt die Art des Gesangs jedoch nicht (Salmen 2004: 800). Spätestens im Jahr 1809 musste Jodeln im Programm dieser Sängergruppen vorgekommen sein, denn der deutsche Komponist, Hofkapellmeister und Schriftsteller Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) berichtet vom Jodeln bei einer Aufführung der Tiroler in Norddeutschland:

Beim Souper hatten wir eine ganz eigene, sehr angenehme Musik von fünf männli-chen Singstimmen, die eine Menge Tiroler Lieder und Walzer, auf eine ganz eigene Weise, im Chor sangen. Viele halten meistens nur den vollen Akkord aus und einer singt durch die Fistel im hohen Konteralt die Melodie recht angenehm, mit einem ganz eigenen Vortrag; halb gestossen und halb zusammengezogen. (Reichardt, zit.

nach Salmen 2004: 800)

Reichardt kannte den Begriff Jodeln wahrscheinlich noch nicht, da dieser wie eingangs erwähnt erst 1796 in Wien und Salzburg literarische Verwendung fand (vgl. S. 20). Die Darbietungen der Tiroler Sängergruppen waren wahrscheinlich

128

eine Art «Bühnenjodler», bei deren Ausführungsart die Ansprüche des Publikums mitberücksichtigt wurden. Der Dichter Heinrich Heine (1797–1856), der 1827 einer solchen Show in London beiwohnte, verschafft seinem Unmut über die Art dieser Kommerzialisierung der Volkskultur Ausdruck:

Als ich im vorigen Sommer [1827] in den glänzenden Konzertsälen der Londoner fashi-onablen Welt diese Tiroler Sänger, gekleidet in ihre heimatliche Volkstracht, das Schauge-rüst betreten sah und von da herab jene Lieder hörte die in den Tiroler Alpen so naiv und fromm gejodelt werden und uns auch ins norddeutsche Herz so lieblich hinabklingen – da verzerrte sich alles in meiner Seele zu bitterem Unmut, das gefällige Lächeln vornehmer Lippen stach mich wie Schlangen, es war mir, als sähe ich die Keuschheit des deutschen Wortes aufs roheste beleidigt, und die süssesten Mysterien des deutschen Gemütslebens vor fremdem Pöbel profaniert. (Heine, zit. nach Salmen 2004: 807)

Ebenso stand Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) diesen inszenierten Jo-deldarbietungen kritisch gegenüber. Er schrieb am 30. Oktober 1828 in einem Brief an den deutschen Komponisten Friedrich Zelter (1758–1832): «Es sind wieder Tyroler hier, ich will mir noch jene Liedchen vorsingen lassen, ob ich gleich das beliebte Jodeln nur im Freien oder in grossen Räumen erträglich finde» (Goethe, zit. nach Salmen 204: 809). Damit der Jodler aus Österreich Teil eines erfolgreichen Bühnenauftritts werden konnte, wurden sein melodischer Aufbau, seine Mehr-stimmigkeit, Metrik und Rhythmik den Ansprüchen des Publikums angepasst.

Eine der bekanntesten Tiroler Sängergruppen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa und in den 1830er-Jahren sogar in den USA auf-trat, bestand aus Mitgliedern der Zillertaler Familie Rainer, die als «Geschwister Rainer» bekannt wurden. Einige Lieder aus ihrem Repertoire zeichnete der Kom-ponist Ignaz Moscheles (1794–1870) auf und publizierte sie in drei Bänden in den Jahren 1827, 1828 und 1829. Der Pianist Moscheles verfügte über enge Kontakte zu Ludwig van Beethoven, Felix Mendelssohn Bartholdy sowie Frédéric Chopin und zählte in London zu den prägenden Persönlichkeiten des Musiklebens (Hust 2004: 517). Dass dieser berühmte Musiker Volkslieder und Jodler aufschrieb und publizierte, belegt das grosse Interesse an der alpinen Volksmusik in England sowie die bedeutende Rolle der Tiroler Sängergruppen bei der Verbreitung und Bekanntmachung des Jodelns in Europa.

Moscheles veröffentlichte insgesamt 36 Lieder der Geschwister Rainer, wo-von einige mit einem Jodelteil versehen sind. Da die früheste Ausgabe Moscheles’

1827, ein Jahr nach der letzten Ausgabe der Kuhreihensammlungen erschien, erstaunt weder, dass die beiden Publikationen formale Parallelen in der Gestaltung und der Behandlung aufweisen, noch, dass ganze Lieder aus der 1818er- oder 1826er-Ausgabe der Kuhreihensammlungen in Moscheles’ Publikation enthalten sind. Zu diesen zählen die zwei Schweizer Lieder Der Schweizerbue (Moscheles 1827: 10) und Schweizer Heimweh (Moscheles 1828: 32).6 Speziell mit dem Lied

6 Im Jahr 1841 soll das Repertoire der Geschwister Rainer auch einen Ranz des Vaches enthalten haben (Hupfauf 2016: 177).

zurück

Der Schweizerbue erreichten die Geschwister Rainer in den 1820er-Jahren eine

«immense Popularität» (Hupfauf 2016: 88). Umgekehrt beinhaltet die Ausgabe der Kuhreihensammlungen von 1818 die ursprünglich tirolerische Melodie mit dem Titel Küher-Leben und dem Liedanfang «Uf de Berge-n-isch gut lebe», die, wie Wyss berichtete, «auch bey uns gar häufig gesungen wird, und zu welchen ein vaterländischer Text von Vielen gewünscht werden mochte» (Wyss 1818: IX).

Der Tirolermelodie wurde deshalb ein von Kuhn neu gedichteter Text in schwei-zerdeutschem Dialekt unterlegt.

Die Beantwortung der Frage, ob die Übernahme von Jodelliedern aus Tirol die Alphornmelodik aus dem Schweizer Jodel verdrängte, verlangt eine Abklärung, ob nicht auch gewisse Tiroler Jodler auf der Alphornmelodik basieren, denn auch in Tirol und anderen Gegenden Österreichs wurden Jodeln und Alphornblasen von denselben gesellschaftlichen Gruppen gepflegt.

Naturtrompeten in Österreich, das Wurzhorn und der gejodelte