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Im Jahr 1805, im Vorfeld des ersten Unspunnenfests, erschien die erste Ausgabe der Kuhreihensammlungen mit dem Titel: Acht Schweizer-Kühreihen mit Musik und Text, herausgegeben von Wagner (1805b). Diese acht Kuhreihen und Lieder tauchen in allen späteren Ausgaben jeweils auf den ersten Seiten auf und gehörten

3 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren literarische und musikalische Bearbeitungen des Kuhreihens bereits in Mode. Die erste zurzeit bekannte Veröffentlichung eines Kuhreihens mit Klavierbegleitung findet sich bei Weidmann ([Hg.] 1794: 269) als «Kühreigen, der, ein Schweizerlied für d. Klavier mit Begleit. einer Flöte. Königsberg, bei F. Nicolovius». Gemäss Bohn ([Hg.] 1795: 535) handelt es sich dabei um eine Bearbeitung des von Stolberg (1794) und Nägeli ([1800]) überlieferten Kuhreihens. 1797 legt Zschokke ein Alpenlied mit zweistimmiger Begleitung vor (Zschokke 1797: Anhang).

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vermutlich zum gängigen Volksliedrepertoire im Berner Oberland zu jener Zeit.

Schon erwähnt wurde, dass die Bevölkerung diese Lieder wohl nicht streng nach der notierten Form sang. Die Partituren halfen den bürgerlichen Besuchern jedoch, mit den aktiv teilnehmenden Hirtinnen und Hirten mitzusingen.

Diese erste Ausgabe beinhaltet sechs Kuhreihen, ein Lied und ein Küher- Lied. Einige Exemplare dieser ersten Auflage beinhalten zusätzlich einen An-hang mit dem französischsprachigen Kuhreihen Ran de Vaches des Ormonts sowie den Kuhreihenmelodien Rousseaus und Zwingers (vgl. S. 54 und 49).

Die Kuhreihenmelodie von Rousseau erschien mit einem französischen Text, trägt aber keinen Titel (Wagner 1805b: 3 [Anhang]). Zwingers Kuhreihen besitzt als einziges Stück der ganzen Sammlung keinen Text und trägt irrtümlicher-weise den Titel Ran de Vache de Dictionnaire de Rousseau (Wagner 1805b: 4 [Anhang]).

Von den acht Gesangsstücken in der ersten Ausgabe (ohne Anhang) tragen sechs einen Titel, der in Bezug zum Berner Oberland steht (Kühreihen der Oberhasler, Kühreihen der Siebenthaler, Kühreihen der Siebenthaler andere Melodie, Kühreihen der Emmethaler, Lied der Emmethaler, Küherlied der Emmethaler), eines steht in Bezug zum Luzerner Entlebuch (Kühreihen der Entlibucher) und eines zur weiter entfernten Schweizer Gegend, dem Appenzell (Kühreihen der Appenzeller). Im Vorwort der zweiten Ausgabe (Kuhn 1812: V) wird als Ursprungsort des Kühreihen der Oberhasler das Appenzeller Gebiet angegeben, da er im Berner Oberland aber bekannt und beliebt war, erhielt dieser Kuhreihen seinen neuen Namen. Die Dominanz des Berner Oberlands in der Auswahl lässt sich anhand der politischen Motivation der Herausgeber erklären (vgl. S. 65).

Diese in der ersten Ausgabe einstimmig publizierten Lieder enthalten keine eigentlichen Jodelteile. Nur der Kühreihen der Appenzeller enthält eine Stelle, an der vielleicht registerwechselnd gesungen wurde. Dieser alte Kuhreihen beruht auf der Handschrift der Brogerin (1730) und wurde bereits in Kapitel 3.4.2 vor-gestellt. Eine über 15 Takte dauernde Aneinanderreihung ähnlicher melodischer Motive (je ein Motiv pro Takt), die melismatisch über das Wort «Loba» zu sin-gen sind, lassen die Interpretation zu, dass dort gejodelt wurde. Würde sich bei der folgenden Analyse dieser ersten Kuhreihensammlung herausstellen, dass die Melodien auf der Naturtonreihe aufbauen, wäre dies ein Argument dafür, dass zu jener Zeit eine musikalische Übernahme des Tonsystems vom Alphorn auf den Gesang stattgefunden haben könnte.

Beim Kühreihen der Oberhasler können die ersten zwei Zeilen auf dem Alphorn wiedergegeben werden. Die eine Quinte umfassende Melodie ent-spricht dem 8. bis 12. Naturton des Alphorns. Die vierte Stufe, welche sowohl als c2 wie auch als cis2 vorkommt, stünde dann für das Alphorn-fa und der Charakter der Melodie würde sich je nach Interpretation ändern. Der zweite Teil (Zeilen 3 und 4) baut auf einer Diatonik auf, die nicht ohne Anpassungen auf dem Alphorn spielbar ist.

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Abb. 13: Kühreihen der Oberhasler (Wagner 1805b: 1).

Die Melodie des Kühreihen der Siebenthaler besteht beinahe vollständig aus den Tönen der Naturtonreihe. Sie umfasst eine Oktave (6. bis 12. Naturton). Ein chromatischer Leitton (fis1) zum Grundton (g1) in Takt 31 («Anni ins Bett») verrät jedoch eine diatonische Grundlage. Um die Melodie auf dem Alphorn spielen zu können, müsste dieser Ton durch das d1 (6. Naturton) oder ein vertieftes f1 (7. Naturton) ersetzt werden. Die Noten c2 und cis2 müssten wiederum als Alp-horn-fa interpretiert werden.

Abb. 14: Der Kühreihen der Siebenthaler (Wagner 1805b: 7) enthält mit Ausnahme des fis1 ausschliesslich Töne der Naturtonreihe.

Die zweite Version des Kühreihen der Siebenthaler, angegeben als «andere Melo-die» (Wagner 1805b: 8), baut auf der Naturtonreihe auf. Der Umfang der Melodie ist grösser als bei der vorhergehenden Version des Kühreihen der Siebenthaler und

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umfasst eine Undezime (5. bis 13. Naturton). Wie in den bereits besprochenen Kuhreihen besteht die vierte Stufe aus den Noten c2 und cis2.

Abb. 15: Kühreihen der Siebenthaler. Andere Melodie (Wagner 1805b: 8). Diese Version baut gänzlich auf der Naturtonreihe auf.

Die Motive in den Takten 12–13 («Kleis Meitschi!») und 41–42 («Sie horne») wären auf dem Alphorn blastechnisch sehr anspruchsvoll und sind möglicherweise aus dem Kuhreihen Rousseaus (1768: Anhang) übernommen worden. Der Text «Sie horne dene schwarzbraune Meitschene i d’s Bett!» kann als Anspielung auf das Alphornblasen verstanden werden.

Die Melodie des folgenden Kühreihen der Emmenthaler wirkt diatonisch, jedoch kann sie, wenn das fis1 vernachlässigt wird, auf dem Alphorn mit den Na-turtönen 6 bis 12 wiedergegeben werden. Die Noten c2 und cis2 entsprechen dann wiederum dem Alphorn-fa. Der Liedtext beinhaltet eine mögliche Referenz auf das Alphorn. In der vierten Strophe (hier nicht abgebildet), gesungen vom «Meitschi», steht: «My Schatz cha gar gut hornen, Er cha die Reyhli [Kuhreihen] alli gar wohl;

Er hornt mer alli Morgen, O wenn i ga melche soll» (Wagner 1805b: 9).

Abb. 16: Kühreihen der Emmenthaler (Wagner 1805b: 9).

Dem Titel nach zwar kein Kuhreihen, zeigt die Melodie des Lied der Emmenthaler jedoch Parallelen zum Kuhreihen bei Kappeler (vgl. S. 52). Die Melodie enthält diverse chromatische Tonschritte und basiert somit nicht auf der Naturtonreihe.

Anhand dieses Lieds wird in der Kuhreihensammlung von 1812 der Stimmregis-terwechsel demonstriert (vgl. S. 95).

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Abb. 17: Lied der Emmenthaler (Wagner 1805b: 11).

Das Küherlied der Emmenthaler, gemäss dem Titel ebenfalls kein Kuhreihen, konnte kaum auf einem Alphorn jener Zeit gespielt werden. Der Tonumfang er-streckt sich, auf die Naturtonreihe bezogen, vom 8. (notiert g1) bis zum 13. (notiert e2) Naturton. Die Melodie ist somit für ein Alphorn von ungefähr zwei Metern Länge kaum spielbar, zudem sind der 11. und der 13. Naturton in diesem Fall nicht mit Versetzungszeichen gekennzeichnet. Im Unterschied zu den Kuh reihen in dieser Sammlung zeigt diese Melodie eine typische Liedform mit einem wie-derholten ersten Teil.

Abb. 18: Küherlied der Emmenthaler (Wagner 1805b: 13).

Die folgende Melodie des Kühreihen der Entlibucher (Wagner 1805b: 15) enthält einzelne Motive, die als «alphorntypisch» wahrgenommen werden können, ist aber klar diatonisch durch die Terz (h1) der fünften Stufe (Takte 1–3 sowie 6 und 8).4

Abb. 19: Kühreihen der Entlibucher (Wagner 1805b: 15).

Einige Exemplare der Kuhreihensammlung von 1805 sind durch einen Anhang mit drei französischsprachigen Kuhreihen ergänzt. Der Anhang beginnt mit der Melodie Ran de Vaches des Ormonts (Wagner 1805b: 1 [Anhang]), die komplett

4 Das Lied geniesst bis heute grosse Bekanntheit durch die Cover-Version in einer melodisch neueren Variante von Dodo Hug (www.dodohug.ch, 25. 5. 2018).

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auf dem Alphorn geblasen werden kann und auch heute noch gerne von Alp-horn bläserinnen und AlpAlp-hornbläsern dargeboten wird. Es handelt sich dabei um die früheste uns bekannte Publikation des durch die Fête des Vignerons berühmt gewordenen Kuhreihens («Lioba, lioba»). 1819 wird dieser Ranz des Vaches zum ersten Mal im Rahmen der Festlichkeiten in Vevey gesungen (Aguet 2005: 583).

Abb. 20: Ran de Vaches des Ormonts (Wagner 1805b: 1 [Anhang]).

Die vierte Tonstufe (c2) wird in dieser Notation nicht alteriert und somit nicht als Alphorn-fa gekennzeichnet. Bezeichnend für die Notation des Ran de Vaches des Ormonts sind die schnellen Verzierungsnoten als Auftakte zum berühmten

«Lioba»-Motiv. Die Bedeutung des Worts «Lioba» ist nicht abschliessend geklärt, möglicherweise steht es als früher Patois-Begriff5 für «Kuh».

Zusätzlich zum bereits beschriebenen Kühreihen der Appenzeller (Wagner 1805b: 17) enthalten einige Exemplare der Sammlung auch zwei weitere bereits bekannte Melodien (vgl. S. 90). Rousseaus Kuhreihen-Melodie (1768, vgl. S. 54) wird im Anhang ohne Titel abgedruckt und mit einem französischen Text («Quand reverai je […]») unterlegt (Wagner 1805b: 3 [Anhang]). Als letzte Melodie im Anhang findet sich die Cantilena Helvetica Zwingers (Zwinger 1710, vgl. S. 49), verwirrenderweise unter dem Titel Ran de Vaches du Dictionnaire de Rousseau (Wagner 1805b: 4 [Anhang]). Diese drei Melodien basieren auf der Naturtonreihe, sind jedoch blastechnisch anspruchsvoll.

Fazit

Im Vorwort der ersten Ausgabe wird weder auf die Interpretation noch auf andere musikalische Besonderheiten des Kuhreihens oder auf die Art und Weise, wie die Musiktranskriptionen zu verstehen sind, hingewiesen. Ebenso fehlen Hinweise darauf, ob registerwechselnd gesungen wurde oder ob die vierte Stufe besonders intoniert werden sollte. Von den elf Kuhreihen in dieser Sammlung (mit Anhang) sind sieben ohne Änderungen auf dem Alphorn spielbar, vier hingegen nur durch

5 Patois bezeichnet in der Schweiz einen französischen Dialekt, der früher in der Westschweiz gesprochen wurde.

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Modifikation der Melodie. Die Frage, ob sich diese Kuhreihen aus Alphornmelodien entwickelten, kann anhand dieser ersten Ausgabe nicht geklärt werden. Möglich erscheint, dass einige Melodien auf Alphornweisen zurückgehen, aber von den Verfassern im Zuge einer «Veredelung» stark überarbeitet wurden. Der Erfolg der ersten Kuhreihensammlung war so gross, dass sieben Jahre später, 1812, eine zweite, erweiterte Sammlung erschien. Beim zweiten Fest von 1808 wurden nach Wagner die Kuhreihen, die zum ersten Fest erschienen, gesungen: «Überall ertönten jetzt die alten Kühreyhen der Oberhasler und des Siebenthals, jetzt Kuhns frohe Gesänge, jetzt Volkslieder der Emmethaler oder des Entlebuchs» (Wagner 1808: 9).