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Bücheljuuz: Jodeln mit dem Klang des Instruments

Die Angleichung der Stimmqualität an die des Büchels findet sich hauptsäch-lich im Muotatal. Hier hat sich ein Genre von Jodeln herausgebildet, das den kennzeichnenden Namen «Bücheljuuz» trägt. Obwohl das vokale Imitieren des Büchelklangs schon früher wahrscheinlich scheint, wird dieser Begriff erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwendet.13 Hinweise oder gar Auf-nahmen aus den Dreissiger- und Vierzigerjahren mit dieser Jodelbezeichnung sind nicht bekannt.

Auf einer eindrücklichen Tonaufnahme des Jodlers Alois Gwerder (1874–

1963) aus dem Jahr 1959 wird ein Bücheljuuz so vorgetragen, dass er dem Ins-trument zum Verwechseln ähnlich klingt. Die Nachahmung des Büchelklangs

13 Sichardt spricht auch im Muotatal vom «Alphorn» (Sichardt 1939: 99). Er nennt den Begriff

«Büchel» nicht.

Abb. 72: Transkription eines Solojodels, gesungen von Marie Ablondi (Sichardt 1936a: 6G), aufgenommen 1936 (Transkription d. Verf.).

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im Jodel könnte eine Schöpfung Gwerders sein. Der Muotataler Lehrer Peter Betschart, der sich intensiv mit dem Muotataler Juuz und der Büchelmusik aus-einandersetzte, sieht Alois Gwerder als eigentlichen Erfinder des Bücheljuuz (Betschart 1978: 28).

Das Genre des Bücheljuuz bildet insofern eine Ausnahmeerscheinung in der Jodelmusik, als sich an ihm die Intonation der Naturtonskala und die Abb. 73: Bücheljuuz von Alois Gwerder (genannt Wichel Wisi), aufgenommen 1959 (persönlicher Kommentar Betschart, 11. 10. 2015, Aufnahme im Privatbesitz Betschart).

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Imitation des Alphornklangs, hier in der Muotataler Variante des Büchels, eindeutig belegen lässt. Den folgenden Bücheljuuz hat Gwerder erstmalig an der Sennenkilbi von 1893 gejuuzt (pers. Komm. Betschart 11. 10. 2015). Zum Zeitpunkt der Tonaufnahme von 1959 war Alois Gwerder bereits 85 Jahre alt.

Die untenstehende Transkription von Gwerders gejodelter Melodie wurde um einen Halbton nach oben transponiert, um den Vergleich mit der Naturtonreihe zu vereinfachen. (Abb. 73)

Der Bücheljuuz beruht gänzlich auf der Naturtonreihe (Einfluss A) vom 6. bis 12. Naturton. Unterhalb der Melodie sind die Intervalle der benachbarten Töne in Cent angegeben. Gwerder intoniert an einigen Stellen das Alphorn-fa und an ande-ren Stellen ein annähernd gleichstufig temperiertes fis2. Die für den Höreindruck des Alphorn-fa massgeblichen Intervalle sind in der Transkription fettgedruckt und die entsprechenden Noten mit einem einfachen Kreuz gekennzeichnet. Die Intervalle entsprechen in den meisten Fällen nicht genau dem Centabstand auf einer idealen Naturtonreihe, da die Intonation der Singstimme variabel ist. Die klar hörbare Di-stanz zur gleichstufig temperierten Intonation der vierten Tonstufe führt aber zur Wahrnehmung des Alphorn-fa. Wenn die Intonation der vierten Tonstufe zu einem fis tendiert, so wird dies in der Transkription mit einem normalen Kreuz bezeichnet.

Der Höreindruck des Alphorn-fa kann jedoch auch an jenen Stellen entstehen, die einem gleichstufig temperierten Intervall annähernd entsprechen (Einfluss D).

Weiter imitiert Gwerder mit seiner Stimme nicht bloss die Intonation des Büchels, sondern auch seine Klangfarbe. Die Klangfarbe, die er im Bücheljuuz einsetzt, ist dem Instrument zum Verwechseln ähnlich und nur die notierten Schlussglissandi verraten, dass der Bücheljuuz gejodelt und nicht geblasen wurde (vgl. Abb. 73).

Eine andere Bücheljuuzaufnahme aus dem Muotatal, die sich ausschliesslich aus Naturtönen zusammensetzt (Einfluss A), stammt von Anton Büeler aus den 1970er-Jahren. Für den Vergleich mit der Naturtonreihe wurde die Notation um einen Halbton nach oben transponiert. (Abb. 74)

Die Ergebnisse der Analyse dieses Bücheljuuz bestätigte Büeler (pers. Komm.

Büeler, 14. 2. 2018). Die Zahl messbarer Töne übersteigt diejenige von Gwerders Bücheljuuz, beläuft sich auf 174 und erlaubt somit eine sehr tiefgreifende Analyse.

Abbildung 75 zeigt die gemessenen Intervalle in Cent (vertikal), die in Relation zu einem fiktiven Referenzton von 300 Hertz angegeben werden. Dadurch wird auch der Grundton als variierbare Tonstufe erkannt. (Abb. 75)

Abbildung 75 zeigt, dass Büeler eine «pentatonische» Tonskala verwendet, welche die Oktave in fünf ungleiche Intervalle unterteilt. Zwischen der fünften Tonstufe (g1) in der unteren Oktave (auf der Abbildung ganz links) und dem Grundton (c2) liegt ein auffällig grosses Intervall, das dasjenige zwischen dem sechsten und dem achten Naturton auf dem Büchel widerspiegelt.14 Die Position der vierten Tonstufe liegt ungefähr in der Mitte zwischen der dritten und der

14 Der 7. Naturton (notiert: b1), der in der Naturtonreihe innerhalb dieses Intervalls liegt, wird nicht gesungen. Auch in der Büchelmusik wird dieser Ton in der Regel nicht benutzt. Die Gründe dafür sind noch zu klären.

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Abb. 74: Transkription des Bücheljuuz, gesungen von Büeler ([1970]: Titel Nr. 11).

fünften Tonstufe, was wiederum der ungefähren Position des Alphorn-fa ent-spricht. Der exakte Abstand zwischen den Medianwerten der ersten Tonstufe und der vierten Tonstufe beträgt 542 Cent, was deutlich näher am Intervall zwischen Grundton und Alphorn-fa (551 Cent) als an einer gleichstufig intonierten Quarte (500 Cent) respektive einem gleichstufig intonierten Tritonus (600 Cent) liegt.

Wie bereits bei Gwerder beobachtet, zeigen sich starke Ähnlichkeiten zwischen der Stimmqualität des Jodels und der Klangfarbe des Büchels.

Die Frage, ob der Bücheljuuz ursprünglich ein Instrumentalstück darstellte, das auf den Jodel übertragen wurde, oder ob er als eigenständiger Jodel entstand und sich nach und nach den Melodien des Büchels anglich, bleibt ungeklärt. Betschart schreibt, beim Bücheljuuz handle es sich um eine «Übertragung vom Instrument»

auf den Gesang, gibt aber zu bedenken, dass das Zustandekommen der Zusammen-hänge zwischen gesungenem und gespieltem Bücheljuuz nicht eindeutig aufgezeigt werden könne (Betschart 1978: 28). Büeler gibt an, dass er seinen Bücheljuuz als Jodel frei und ohne instrumentales Vorbild erfunden habe (pers. Komm. Büeler 14. 2. 2018). Beide Seiten einer Beeinflussung sind somit in Erwägung zu ziehen.

Büelers Bücheljuuz wird inzwischen von verschiedenen Personen auch ausserhalb des Muotatals sowohl gejodelt als auch «gebüchelt»: Im Jahr 2003 veröffentlichte beispielsweise die Jodlergruppe Schlierätal Alpnach (Kanton Obwalden) unter der Leitung von Thomas Wieland-Bühlmann mit dem Solo-jodler Konrad Schelbert diesen Jodel (Jodlergruppe Schlierätal Alpnach 2003:

Titel Nr. 10). Auch ausserhalb des Muotatals kommen Jodel mit vergleichbaren Namen, wie Bichel-Juiz oder Büchel-Jodel, vor. Diese im folgenden Abschnitt genannten Beispiele zeigen jedoch nicht dieselben expliziten Übereinstimmungen mit der Büchelmusik wie die Muotataler Variante.

Der Bichel-Juiz des Jodelkomponisten Adolf Zimmermann (1919–2002) beginnt mit einem Motiv, das auch im Beckenrieder Kuhreihen (Einfluss A) vorkommt. In unterschiedlichen Interpretationen wurde dieses Motiv mit oder

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ohne Alphorn-fa gejodelt und hier anhand zweier unterschiedlicher Aufnahmen, einer älteren und einer neueren, analysiert.15 Die folgende Abbildung zeigt die Anfangsmotive beider Versionen des Stücks. (Abb. 76)

Bei der älteren Version wird das Anfangsmotiv in den zwei Durchgängen des ersten Jodelteils unterschiedlich intoniert. In der neueren Version aus den 2000er-Jahren bleibt die Intonation relativ konstant. Beide Durchgänge sind da-her mit ihren Intervallgrössen im dritten System notiert. Die Intervalle, die ein Alphorn-fa erklingen lassen, sind fett gedruckt.

Die gemäss der Naturtonreihe intonierten Alphorn-fa sind mit einem blauen Rahmen gekennzeichnet und werden in der ersten Phrase der älteren Aufnahme gejodelt. In der Wiederholung der Phrase wird näher an der gleichstufig temperier-ten Skala intoniert. In der neueren Aufnahme wird in der absteigenden Linie die vierte Tonstufe (e2) um einen Halbton erhöht intoniert (grün umrahmt)16 und der

15 Die Aufnahmen stammen aus dem Privatbesitz von Edi Gasser und sind auf 1982 (Stanser Jodlerbuebe) respektive die 2000er-Jahre (unbekannte Interpreten) datiert.

16 Nur in der absteigenden Bewegung wird die vierte Tonstufe erhöht, nicht aber in der aufsteigenden.

Diese Interpretationsweise beschreibt Fellmann bereits 1948 (vgl. S. 153).

Abb. 75: Verteilung aller im Bücheljuuz Büelers gesungenen Ton-höhen, bezogen auf einen fiktiven Referenzton bei 300 Hz. Inner-halb einer Oktave werden fünf verschiedene Tonstufen gesungen.

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Höreindruck eines Alphorn-fa entsteht bei dieser tonartfremden Note (Einfluss D).

Nach dieser Phrase setzt der Chor ein und singt diatonisch weiter. Der Bichel-Juiz ist somit ein Vertreter derjenigen Jodel, welche Sequenzen mit typischer Alphornmusik beinhalten und Teile des Tonsystems in diesen Sequenzen übernehmen (Einfluss B).

Diverse Komponistinnen und Komponisten lassen sich heute vom Alphorn oder vom Büchel zu Jodelkompositionen inspirieren, wie der Berner Eduard Dau-walder (1935–2002) mit seinem Alphornjutz.17 In den Kompositionen Büchel-Jodel (Stadelmann 2003: Titel Nr. 18) und Alphorn Jodel (Der Innerschweizer Naturjutz 1997: Titel Nr. 1) des Entlebucher Komponisten Franz Stadelmann wechseln sich Solojodel und Instrument ab, eine innovative Verbindung von Alphornmusik und Jodel. Einen weitereren Büchel-Juiz, der ebenfalls mit dem Wechsel von Büchel und Jodel spielt, komponierte Fridolin Haldi (1916–2012). Dieser Jodel aus Obwalden liegt auch unter dem Titel Alphorn-Juiz vor, allerdings dann in der Tonart As-Dur anstelle von B-Dur. Zusätzlich zum gängigen Fis- oder F-Alphorn kommt in Obwalden auch das As-Alphorn vor. Ebenso baut der Alphorn-Juiz von Gebhard Britschgi (1931–2018) zu grossen Teilen auf der Naturtonreihe auf.18

Zusammenfassend zeigen die durchgeführten Analysen, dass die Verbindun-gen zwischen Alphornmusik und Jodel sehr verschieden ausfallen. Ob ein Jodel als alphornähnlich oder eine Alphornmelodie als jodelähnlich empfunden wird, bleibt jedoch der subjektiven Wahrnehmung überlassen. Um einen Eindruck zu erhalten, wie Zuhörerinnen und Zuhörer solche Bezüge wahrnehmen und be-urteilen, werden nachfolgend die Resultate einer 2017 durchgeführten Umfrage mit Hörbeispielen präsentiert.

17 www.ejdkv.ch, 15. 6. 2018.

18 Dirigentennotizen und Aufnahmen der Jodel Haldis und Britschgis sind auf www.naturjodler.ch verfügbar.

Abb. 76: Transkription der ersten Phrase des Bichel-Juiz von Adolf Zimmermann aus zwei unterschiedlichen Tonaufnahmen (Privatbesitz Edi Gasser).

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Empirische Studie zur Wahrnehmung von Ähnlichkeiten zwischen