5 Unterschiedliche Nutzungsszenarien
5.5 Unterscheidung nach der Motivation
Abbildung 5-7 Auszug aus der Studie von [Lim, 2009] zur Wikipedia Nutzung - cognitive needs
Hu et al. [Hu et al., 2009] erarbeiteten eine automatisierte Erkennung des query intent bei der Suche in der Wikipedia, dabei stand die rein inhaltliche Absicht des Nutzers im Vordergrund. Die Autoren trainierten einen query intent predictor in verschiedenen Domains mittels repräsentativer Anfragen und konnten so dann auch unbekannte Suchanfragen zuordnen. Der entwickelte Algorithmus basiert vor allem auf der An-‐‑
nahme, dass verlinkte Inhalte in der Wikipedia semantisch eng verwandte Konzepte sind. Die Vorhersagen funktionierten gut bei [Hu et al., 2009], allerdings ist der Schwerpunkt der Vorhersage der rein inhaltlichen Absicht zu vage für eine Zuordnung zu bestimmten Such-‐‑task-‐‑Klassen.
Weitere Arbeiten zur Verbesserung der Suchanfrage (Query Refinement, [Guo et al., 2008], Query Recommendation [He et al., 2009], Query Expansion[Fonseca et al., 2005] etc.) werden im Kapitel zum adaptiven Information Retrieval besprochen. Der Aspekt der Unterstützung von Suchanfragen z.B. durch die Berücksichtigung vorangegangener Suchanfragen bezieht sich auf inhaltliche Ziele einer Suche im Sinne von To-‐‑
pic/Domain. Die hier beschriebenen Variablen zur Definition eines Suchziels bleiben davon unberührt.
5.5 Unterscheidung nach der Motivation
Die zweite wesentliche Unterscheidung der Nutzungsszenarien in der Wikipedia fin-‐‑
det nach der Motivation des Nutzers zur Suche statt. Nach Maslow [Maslow, 1943] gibt es für jede Handlung mehr als nur eine Motivation. Jeder Zustand eines Wesens ist durch irgendetwas motiviert und motiviert wiederum einen weiteren Zustand: „Man is
a perpetually wanting animal“ [Reid-‐‑Cunningham, 2008, S.58], entspricht in etwa auch [Wilson, 1999].
Der Antrieb und jede Motivation ist generell verbunden mit dem Wunsch nach Zufrie-‐‑
denheit. Deswegen postuliert Maslow, dass es wenig Sinn hat, eine Liste von konkre-‐‑
ten Motivationsgründen zu erstellen, um eine Handlung zu erklären, sondern emp-‐‑
fiehlt, dazu Klassen von Motivationsgründen zu verwenden. Entscheidend dabei ist, dass es nicht notwendig ist, immer jeweils die ganz genaue Situation zu erfahren (siehe [Maslow, 1943]), sondern eine formale, allgemeine Beschreibung ausreicht, um damit weiterzuarbeiten zu können. Allerdings muss jede konkrete Situation/Motivation an-‐‑
hand klarer Faktoren einer der Klassen zugeordnet werden können. Generell ist es aber einfacher, den Klassen bestimmte Eigenschaften und aus den Eigenschaften folgende Konsequenzen zuzuschreiben (z.B. für eine adaptive Informationspräsentation), als das jeweils am Einzelfall vornehmen zu müssen. Deshalb wird in dieser Arbeit das Prinzip der Klassen übernommen.
Weiterhin muss das jeweilige Umfeld, in dem diese Motivationsgründe greifen (hier:
Suche in der Wikipedia) mit einbezogen werden. Durch die Einführung eines nicht-‐‑
informationsbezogenen Suchziels (siehe dazu Kapitel 6.2.1) wird eine eher psychische o-‐‑
der physische (im Gegensatz zu der rein kognitiven) Motivation für die Suche ebenfalls berücksichtigt. Das entspricht den Erkenntnissen von [Wilson, 1999], der postuliert, dass das Entstehen eines Informationsbedürfnisses die Folge eines ursprünglicheren Bedürfnisses physischer, affektiver oder natürlich auch kognitiver Art ist. Erst daraus formuliert sich ein ASK [Belkin, 1980] oder aber z.B. ein nicht-‐‑informationsbezogenes Ziel wie Ablenkung, Unterhaltung, Zerstreuung etc.
Es wird hier also grundsätzlich in zwei Klassen unterschieden zwischen einem Infor-‐‑
mationsbedarf im Sinne des anamolous state of knowledge nach [Belkin, 1980] und damit als work-‐‑based bezeichneten Suchszenario und entsprechend den non-‐‑worked-‐‑based Sze-‐‑
narien. In den work-‐‑based Szenarien besteht der Bedarf, einen Ausnahmezustand des Wissens [Belkin, 1980] zu beseitigen, indem die dafür geeigneten Informationen ge-‐‑
funden werden. Die non-‐‑work-‐‑based Szenarien sind durch andere Gründe motiviert, wie im Folgenden gezeigt wird.
Non-work-based Szenarien - die casual leisure–Theorie
Im Fokus der dieser Theorie stehen nicht sog. work-‐‑related tasks, die klassisch dadurch ausgelöst werden, dass beim Nutzer ein konkretes Informationsbedürfnis besteht, son-‐‑
dern die Vermutung, dass viele Nutzer von Medien wie Twitter, Ebay, Amazon und Wikipedia zumindest teilweise ohne konkretes, informationsbezogenes Ziel browsen, suchen und navigieren [Elsweiler et al., 2011].
Wie Elsweiler et al. [Elsweiler et al., 2011] beschreiben, bezogen sich die meisten bisher durchgeführten Studien zum Suchverhalten vorwiegend auf einen Arbeitskontext bzw.
zumindest auf Szenarien, in denen der Nutzer eine gewissen Informationslücke schlie-‐‑
ßen will, oder aber die Untersuchungen fanden von vorherein unabhängig von dieser grundlegenden Unterscheidung statt (z.B. [Broder, 2002; Kang und Kim, 2003] etc.).
Work-‐‑related tasks standen also im Fokus der Forschung, wogegen die Suche in digita-‐‑
len Informationssystemen aus mehr oder weniger ausschließlich hedonistischen Moti-‐‑
ven auch erst mit den technologischen Fortschritten möglich und interessant wurde [Marchionini, 2006]. Um der Vermutung nachzugehen, dass sich Suchtasks in sog.
casual-‐‑leisure Szenarien (z.B. nach [Stebbins, 2007] 8 Typen) von work-‐‑related tasks unter-‐‑
scheiden, führten [Elsweiler et al., 2011] zwei Studien durch. In der ersten Studie stand im Mittelpunkt der Untersuchungen die Motivation von Testpersonen dafür, den Fern-‐‑
seher anzuschalten bzw. fern zu sehen. Im Ergebnis zeigte sich eine Bandbreite von klar definierten Zielen bis hin zu überhaupt nicht mehr work-‐‑related Gründen („kill ti-‐‑
me“) [Elsweiler et al., 2011, S.9].
Es wurde auch deutlich, dass verschiedene weitere Faktoren über ein eigentliches In-‐‑
formationsbedürfnis die Motivationen der Nutzer beeinflussten:
Abbildung 5-8 Auszug aus der Diary Study von [Elsweiler et al., 2011, S. 10]
Weiterhin fanden die Autoren heraus, dass gerade in den Situationen, in denen die Motivation hauptsächlich oder ausschließlich hedonistischer Natur war, die Zufrie-‐‑
denheit mit dem Ergebnis zum größten Teil nur von der Befriedigung des – in diesem Fall nicht konkret informationsbezogenen (im Sinne des ASK von [Belkin, 1980]) – Be-‐‑
dürfnisses abhängt (z.B. Langweile beseitigen, „auf andere Gedanken kommen“ etc.), und nicht so sehr vom Auffinden einer bestimmten Information. Das ist ein nachvoll-‐‑
ziehbarer Beweis dafür, dass der Erfolg bzw. die für den Erfolg notwendigen Sucher-‐‑
gebnisse immer subjektiv und in Abhängigkeit des auslösenden Bedürfnisses beurteilt werden. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Befriedigung und Bewertungen konkret in Abhängigkeit von der Motivation für die Suche in der Wikipedia zu unter-‐‑
suchen.
Auch in der weiterführenden Studie der Autoren, bei der durch Aggregation von Tweets der Mikroblogging Plattform Twitter die Motivationen der Nutzer untersucht wurden, zeigte sich der selbe Trend – allerdings generalisierter: Wiederum fiel auf, dass in vielen Fällen Searching, Browsing und Surfing im Freizeitbereich stattfand (Siehe Abbildung 5-‐‑9).
Abbildung 5-9 Auszug aus der Twitter-Studie von [Elsweiler et al., 2011, S.12]
Zwar wird aus dieser Studie nicht direkt ersichtlich, wie die in den Tweets benannte Absicht (z.B. „...rather browse on the laptop“) jeweils inhaltlich umgesetzt wurde, aber die Erkenntnis, dass das Stöbern in digitalen Ressourcen nicht grundsätzlich work-‐‑
related ist und dass das Ziel nicht immer ist, eine mehr oder weniger genau definierte Informationslücke zu schließen, zeigen die Untersuchungen von [Elsweiler et al., 2011-‐‑
1; Elsweiler et al., 2011 und Elsweiler und Wilson, 2010] deutlich.
Als ein Fazit definieren die Autoren [Elsweiler et al., 2011-‐‑1] weiterhin vier wesentliche beobachtbare Unterschiede im Verhalten der Nutzer:
1. Casual-Leisure Information Behaviours tasks are often motivated by being in or wanting to archieve a particular mood or state. Tasks of-ten relate at a higher level to quality of life and health of the individu-al.
2. In Casual-Leisure situations, therefore, the finding of information is often of secondary importance to the experience of finding.
3. Casual-Leisure needs are frequently associated with very under-defined or absent information needs. We hypothesize that transient or temporaly-defined needs are created in order o facilitate meeting the casual need, but our studies have, so far, not directly studied search-ing behavior
4. The success of casual-leisure behaviour is often not dependent on ac-tually finding any information or results. Even if notable information needs exist, the low importance of the task means that users satisfice or can achieve their hedonistic needs without them.
[Elsweiler et al., 2011-1, S.14]
Auch bei rein hedonistischer Motivation kann sowohl das Bedürfnis bestehen, sich über ein Thema ausführlich zu informieren (z.B. knowledge acquisition [Marchionini, 2006]) als auch ein zielloses Stöbern stattfinden [Adafre und Rijke, 2006]. Dabei handelt es sich um eine vom Interesse oder dem Zufall geleitete Suche (das ist bei strenger
Sichtweise im Prinzip keine Fragestellung des „klassischen"ʺ Information Retrieval, für die Fragestellung dieser Arbeit aber deshalb relevant, da die Präferenzen nicht nur auf das „klassische“ IR beschränkt untersucht werden sollen).
Diese in diesem Kapitel beschriebene Motivation zur Suche steht der work-‐‑based Suche gegenüber. Somit ist hier festzuhalten, dass erstens unterschiedliche Situationen vor-‐‑
kommen, in denen ein Suchimpuls entsteht, zweitens verschiedene Inhaltliche Ziele möglich sind und drittens verschiedene Motivationen eine Suche auslösen. Damit wurde gezeigt, dass im Information Retrieval grundsätzlich unterschiedliche und von-‐‑
einander abgrenzbare Nutzungsszenarien entstehen.