11 Nutzer-Präferenzen in Abhängigkeit vom Nutzungsszenario
11.1.2 Definition und Begrifflichkeit von Emotion – Modelle
Für die Definition, Erfassung und Auswertung von Emotionen stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Im Folgenden werden diese Möglichkeiten und die wichtigsten Theorien, Modelle und Methoden zum Thema Emotionen besprochen.
"ʺJeder weiß, was eine Emotion ist, bis er gebeten wird, eine Definition dafür zu geben."ʺ James Russell und Ernst Fehr, zitiert nach [Pontes, 2011]
Emotionen zu definieren und vergleichbar zu machen ist schwierig. Will man aber Zusammenhänge herstellen und generelle Aussagen ermöglichen, ist es unverzichtbar, eine einheitliche Definition und Interpretation bereit zu stellen.
[Kleinginna und Kleinginna, 1981] haben über 90 Definitionen für Emotionen in zehn Kategorien zusammengestellt (siehe Tabelle 11-‐‑1). Unterscheidungen sind dabei nach viele Kriterien möglich, wie [Kleinginna und Kleinginna 1981] zeigen: Handelt es sich dabei um neurophysiologische Vorgänge, ein Zustand mit bestimmten Gefühlen oder sind Emotionen rein die Benennung und Bewertung einer Situation? Je nach Interpre-‐‑
tationsansatz verändert sich die Plausibilität der verschiedenen Sichtweisen.
Tabelle 11-1 Zusammenstellung von Emotionen nach [Kleinginna und Kleinginna, 1981, S.17]
Wie auch bei anderen terminologischen Grundsatzdiskussionen gelten hier zwei Grundsätze:
1) Am sinnvollsten legt man eine Definition fest, die erst einmal nur für den Forschungsbereich, in dem sie verwendet wird, gültig ist
2) Alle Definitionen und Herleitungen sollten überprüft werden und dann aus pragmatischer und wissenschaftlich logischer Sichtweise die Aspekte ver-‐‑
wendet werden, die sinnvoll, hilfreich und schlüssig sind (für den aktuellen Forschungsbedarf).
In dieser Arbeit geht es darum, Auskünfte über die aktuellen Emotionen der Nutzer zu erhalten, um Einflüsse auf ihr Suchverhalten zu erkennen und zweitens ihre emotiona-‐‑
le Reaktionen auf die Suche und die Inhalte verfolgen zu können (Veränderung der
Emotion bzw. Erreichen eines bestimmten emotionalen Zustands als Zielgröße und Emotion als Einflussfaktor). Dabei ist vor allem eine Vergleichbarkeit der gemessenen Emotions-‐‑Werte notwendig. Es wird also Ausdruck, Darstellung und Definition von Emotionen benötigt, die einheitlich verständlich sind, mit vorhanden Messmethoden mess-‐‑ und darstellbar. Darüber hinaus sollen die Emotionen so erfasst werden können, dass mathematische Operationen auf die Ergebnisse angewendet werden können, da Zusammenhänge zwischen den anderen Variablen des Modells (Kapitel 6) untersucht werden.
Jeder Mensch zeigt mehr oder weniger Emotionen in Gestik, Mimik, verbalen Äuße-‐‑
rungen und auch physiologischen Zeichen wie Blutdruck, Gesichtsfarbe, Atmung, Ge-‐‑
hirnaktivität und muskulärer Anspannung. Diese Zeichen allgemein und vergleichbar zu fassen, zu messen und sogar in für eine Maschine verwertbare Informationen um-‐‑
zuwandeln ist allerdings schwierig, da die Ausdrucksweisen emotionaler Reaktionen erst einmal keine direkt verwertbare Information enthalten.
Emotionen haben weiterhin einen starken Einfluss auf das Verhalten eines Menschen.
Durch einen Auslöser erzeugt können sie das Verhalten oder das Interesse eines Men-‐‑
schen schnell verändern und steuern [Scherer, 2005]. Somit könnte man auch das Ver-‐‑
halten der Menschen verwenden, um auf Emotionen rück zu schließen. Dies entspricht nach [Kleinginna und Kleinginna, 1981] etwa einer physiologischen Definition. Für die vorliegende Arbeit ist die kognitive Sichtweise plausibel. Denn diese schließt eine Be-‐‑
wertung mit ein [Kleinginna und Kleinginna, 1981]. Da in dieser Arbeit bewusst von objektiven Konzepten, vor allem in Hinsicht auf Relevanz und Bewertung, Abstand genommen wird und der Fokus auf der kognitiven Sichtweise liegt, gilt das auch für das Thema der Emotionen.
Nach der kognitiven Emotionstheorie [Lopatovska, 2009] werden Emotionen durch kog-‐‑
nitive Aktivität ausgelöst. Das bedeutet, irgendetwas, mit dem sich der Mensch in die-‐‑
sem Moment befasst, führt dazu, dass eine Emotion entsteht. Der Gegenstand der kog-‐‑
nitiven Aktivität kann absichtlich oder unabsichtlich im Fokus der Person stehen, das spielt dabei keine Rolle. Nach [Schmidt-‐‑Atzert, 1996] ist darüber hinaus aber auch die subjektive Bewertung des Individuums ausschlaggebend dafür, welche Emotionen durch
etwas ausgelöst werden. Dies ist vor allem plausibel, berücksichtigt man die Erinne-‐‑
rungen und Assoziationen mit Dingen, Ereignissen, Gerüchen, Musik und dergleichen, die sehr subjektiv und individuell sind. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass die Interaktion mit den Inhalten der Wikipedia bei den Nutzern unterschiedliche Emo-‐‑
tionen bzw. die affektiven Reaktionen auslösen kann.
Der nicht-‐‑kognitive Ansatz wiederum besagt, dass Emotionen unabhängig von der Kognition entstehen und vielmehr dazu da sind, um körperliche Funktionalitäten zu steuern und zu optimieren – eher mit dem Instinkt (weglaufen bei Angst) zu verglei-‐‑
chen. Danach ist das emotionale Erleben ausschlaggebend dafür, wie bestimmte Dinge bewertet werden [Schmidt-‐‑Atzert, 1996] und nicht umgekehrt.
Grundsätzlich ist aber anzunehmen, dass kognitive Aktivitäten verschiedener Art bei der Entstehung von Emotionen eine wesentliche Rolle spielen [Lapotovska, 2009]. Das kann sein, dass man etwas als positiv Abgespeichertes wiedererkennt, dass Schlüssel-‐‑
reize angesprochen werden wie etwa beim „Kindchenschema“, dass etwas einfach den Geschmack trifft oder – im negativen, Angst (durch erlerntes oder instinktives Verhal-‐‑
ten), negative Erinnerungen, Ärger und mehr.
Es bleibt weiterhin bezüglich des Anwendungskontextes dieser Arbeit festzuhalten, dass emotionale Reaktionen auf Stimuli wie Bilder oder auch andere Inhalte beim In-‐‑
formation Retrieval sowohl intersubjektiv und nachvollziehbar als auch subjektiv und damit nicht objektiv nachvollziehbar sein können. Entsprechend der appraisal theory [Scherer und Shorr, 2001] wird hier davon ausgegangen, dass nicht nur die Emotionen die Kognition beeinflussen sondern umgekehrt genauso die Kognition einen Einfluss auf die jeweiligen Emotionen des Individuums hat.
11.1.2.1 Benennung und Beschreibung von Emotionen
Eine weitere Herausforderung ist die Benennung und Beschreibung von Emotionen.
Neben der Festlegung einer Sichtweise auf Emotionen (hier: kognitive Sichtweise) müssen Emotionen benannt werden, um explizit gemacht werden zu können.
„Emotion schemes, the most frequently occurring emotion experiences, are dy-namic emotion cognition interactions that may consist of momentary/ situational responding or enduring traits of personality that emerge over developmental time.
Emotions play a critical role in the evolution of consciousness and the operations of all mental processes.” [Izard, 2009, S.4]
Grundsätzlich besteht unter Psychologen Einigkeit darüber, dass Menschen immer auf ihr direktes Umfeld emotional reagieren und auch darüber, dass die ersten und ur-‐‑
sprünglichsten Reaktionen affektiver Art sind [Machleit und Eruglo, 2000]. Emotionen beeinflussen somit das Handeln und Denken von Menschen zu jeder Zeit.
Es ist allerdings nicht trivial, diese Emotionen „beim Namen zu nennen“. In der Regel nimmt man seine eigenen Emotionen zwar immer wahr, sie aber konkret zu beschrei-‐‑
ben gestaltet sich schwieriger. Die Benennung von Emotionen entsteht in der „Ausdiffe-‐‑
renzierung kontextualisierter Interaktionsverläufe“ [Beumer et al., 2011, S. 92]. Sie wird durch das Umfeld bzw. andere Personen vermittelt, damit sinkt die Treffsicherheit und eine Distanzierung bzw. Abstrahierung von dem konkret Erlebten findet statt [Beumer et al., 2011]. Diese Benennung erlernt zwar jeder in einem sozialen und von Bezugsper-‐‑
sonen geprägten Umfeld aufwachsende Mensch, allerdings handelt es sich dabei nicht um konstantes Wissen sondern dieses Erlernen wird durch Erfahrung beständig erwei-‐‑
tert [Beumer et al., 2011]. Damit ist emotionales Erleben (und die Trennung von eigener Interpretation und erlernter Intention) immer einer Entwicklung unterworfen und so-‐‑
mit die Benennung und der Austausch über Emotionen nicht zwingend intersubjektiv einheitlich und nachvollziehbar.
Schwierig ist es, selbst wenn man seine eigenen Emotionen beschreiben kann, eine ein-‐‑
heitliche Vorstellung und Interpretation der verwendeten Begrifflichkeiten und der verschiedenen Dimensionen wie etwa der Intensität zu erzeugen.
Im Wesentlichen gibt es bei der Benennung und Beschreibung von Emotionen zwei Ansätze. Der diskrete Ansatz (siehe dazu [Lopatovska, 2009]) geht davon aus, dass es ein „Inventar“ an Basisemotionen gibt, die allen zu Emotionen fähigen Individuen möglich sind und die auch immer von anderen eindeutig erkannt werden (z.B. Angst, Wut oder Freude). Alle weiteren Emotionen setzen sich anteilig aus diesen Basisemoti-‐‑
onen zusammen.
Der kontinuierliche Ansatz dagegen geht von mehreren Dimensionen aus, die Emotio-‐‑
nen ausmachen. In den wesentlichsten Forschungen zu diesem Thema wird in der Re-‐‑
gel von zwei oder drei Dimensionen ausgegangen (siehe dazu [Wundt, 1896; Bradley und Lang, 1994; Osgood, 1952; Russell und Mehrabian, 1977]). Russel und Mehrabian zeigen, dass drei bipolare Dimensionen ausreichen, um das Spektrum der menschli-‐‑
chen Emotionen beschreiben zu können, basierend auf den Untersuchungen von [Wundt, 1896], der die These aufstellte, dass emotionale Reaktionen durch bestimmte Stimuli gut anhand von drei grundsätzlichen Dimensionen beschrieben werden kön-‐‑
nen: Lust, Spannung und Beruhigung. Auch andere Autoren (z.B. [Osgood, 1952; Os-‐‑
good et al., 1957; Russel und Mehrabian, 1977 bzw. Russell, 1979]) bestätigen die drei – unabhängigen – Dimensionen zur Erfassung emotionaler Zustände: pleasure – displea-‐‑
sure, degree of arousal, and dominance-‐‑submissiveness.
Grundsätzlich zeigen Untersuchungen, dass die Verbalisierung von Emotionen trotz der Übereinkunft in den Theorien aus verschiedenen Gründen wie unterschiedlicher Erfahrung, Abstraktion und Eigenwahrnehmung [Beumler et al., 2011] schwierig ist.
Die einheitliche Darstellung und Beschreibung bleibt eine Herausforderung. Es existie-‐‑
ren verschiedene Ansätze zur Lösung des Problems, die im Folgenden besprochen werden, um eine geeignete Auswahl für die empirische Anwendung zu treffen.
11.1.2.2 Basisemotionen nach Ekman
Der nicht-‐‑kognitiven Sichtweise entsprechend gibt es verschiedene Autoren, die eine Grundausstattung von Basisemotionen konstatieren (vgl. [Izard, 1987] oder [Ekman, 1992]). Bestärkend für diese Theorie ist, dass alle Kulturen gewisse Emotionen kennen wie z.B. Trauer, Angst und Freude. Die jeweiligen Mimiken sind vergleichbar. Auch bei kleinen Kindern sind die Gesichtsausdrücke eindeutig erkennbar, noch bevor aktiv
erlerntes Verhalten möglich ist. Selbst bei Primaten wurden ähnliche Mimiken festge-‐‑
stellt [Lopatovska, 2009].
Darüber hinaus lösen die sog. Basisemotionen vergleichbare Reaktionen aus (wie z.B.
Flucht bei Angst oder erhöhte Alarmbereitschaft durch Ausschüttung entsprechender Hormone). Auch Charles Darwin [Darwin, 1872/1965] ging davon aus, dass Emotionen universell und angeboren sind. Unklar ist allerdings, wie aus der „Mischung“ der Ba-‐‑
sisemotionen dann das restliche Spektrum affektiver Zuständen entstehen kann. Dar-‐‑
über hinaus sind die Basisemotionen in den Theorien unterschiedlich.
Ekman hat sieben Basisemotionen identifiziert [Ekman, 1992]: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung. Seines Erachtens sind diese Emo-‐‑
tionen universell und kulturell unabhängig erkennbar. Er schließt nicht aus, dass er-‐‑
lerntes und sozial erwünschtes Verhalten die Ausdrucksweise dieser Basisemotionen beeinflusst, allerdings sind diese „Täuschungsmanöver“ in der Regel nicht so stark, dass die eigentlichen Reaktionen nicht mehr erkennbar sind.
Mit Hilfe des Facial action coding systems ordnet Ekman die jeweiligen Mimiken den Emotionen zu. So lassen sich zum Beispiel auch gekünstelte Gesichtsausdrücke „ent-‐‑
larven“ [Ekman und van Friesen, 1978]. Bei dieser Methode fällt die Selbstauskunft und damit Benennung von Emotionen weg. Für die Anwendung allerdings bedarf es Übung und Erfahrung, weshalb diese Methode hier nicht zum Einsatz kam.
11.1.2.3 Das OCC-Modell [Ortony, Clore und Collins]
Das OCC-‐‑Modell ist ein wichtiges Modell in der Informationsverarbeitung. Bei der Arbeit mit KI-‐‑Systemen wird es häufig verwendet, um Emotionen zu modellieren. Or-‐‑
tony et al. [Ortony et al., 1988] versuchen darin, vor allem zwei wesentlichen Fragen nachzugehen und so die schwierige Darstellbarkeit von Emotionen zu verbessern. Sie betonen vor allem das Ziel, die Emotionen komplexer darzustellen als „nur“ eine Klas-‐‑
sifizierung nach positiv und negativ [Ortony et al., 1988].
Dazu betrachten sie erstens die generelle kognitive Struktur, die der Entstehung von Emotionen zu Grunde liegt und zweitens die bestimmter, einzelner Emotionen. Ihre Arbeitsdefinition von „Emotion“ ist anschaulich und entspricht der kognitiven Sicht-‐‑
weise.
„... views emotion as valenced reactions to events, agents, or objects, with their particular nature beeing determined by the way in which the eliciting situation is constructed“ [Or-‐‑
tony1988, S. 17]
Ihr Modell ist dementsprechend aufgebaut: Erstens sind alle Emotionen Reaktionen auf entweder Objekte, Agenten oder Ereignisse und zweitens ist das Modell nach den kognitiven Ursprüngen der Emotionen strukturiert.
Abbildung 11-2 Global Structure of emotion types, [Ortony1988, S.19]
Dieses Modell enthält also sowohl den Gegenstand der Reaktion als auch eine Aussage über den Bezugsrahmen (Consequences of events, actions of agends oder aspects of objects).
Zur Erfassung der Stimmung und affektiver Reaktionen der Nutzer beim IR in der
Wikipedia ist das Modell allerdings nicht stark genug auf diese zwei Aspekte fokus-‐‑
siert.
11.1.2.4 Das Circumplex-Modell von Russel
Russel [Russell, 1980] greift mit seinem Circumplex-‐‑Modell den Gedanken der ver-‐‑
schiedenen, voneinander unabhängigen Emotionsdimensionen auf. Er verwendet da-‐‑
bei allerdings nur die zwei Dimensionen Valenz und Erregung.
In seinem Modell ordnet er die emotionalen Konzepte kreisförmig an, wobei die Aus-‐‑
prägungen festgelegt sind: pleasure 0°, excitement 45°, arousal 90°, distress 135°, dis-‐‑
pleasure 180°, depression 225°, sleepiness 270° und relaxion 315°. [Russell, 1980] weist 28 englischsprachige Adjektive, die allgemein zur Beschreibung emotionaler Zustände herangezogen werden, auf dem Kreis den Konzepten zu. Die Mitte bildet sozusagen der „emotionale Nullpunkt“ (siehe Abbildung 11-‐‑3).
Abbildung 11-3 Circumplexmodell [Russell, 1980, S.7]
Das Circumplexmodell kann für verschiedene Zwecke adaptiert werden, wie zum Bei-‐‑
spiel die emotionale Reaktion auf Produkte [Desmet und Hekkert, 2007, siehe Abbil-‐‑
dung 11-‐‑4]. Durch die Kreisförmige Anordnung können die Benennungen der Emotio-‐‑
nen in entsprechender Gewichtung zu den verwendeten Wörtern getätigt werden.
Abbildung 11-4 Circumplexmodell [Desmet und Hekkert, 2007], basierend auf [Russell, 1980]
Durch vorgegebene Adjektive ist eine einheitliche Beschreibung gesichert. Für die Selbstauskunft der Probanden zu ihrer emotionalen Lage ist dies eine gute Grundlage, da die Personen keine eigenen, eventuell unterschiedlich konnotierten Wörter verwen-‐‑
den müssen. Lediglich die einheitliche Interpretation oder Verständnis der Adjektive ist ein Schwachpunkt dieser Methode. Vorteil ist, dass – anders als beim semantischen Differential (siehe 11.1.3.1) – nicht viele Skalen verwendet werden müssen, sondern durch die kreisförmige Anordnung diese Dimensionen gleichzeitig erfasst werden können.