6 Präzisierung in einem Modell
6.2 Das Modell
6.2.1 Der Nutzer und sein Task
Der Nutzer und sein Informationsbedürfnis werden als Einheit formuliert, da die Ge-‐‑
danken und Ziele eines Suchbedürfnisses gleichermaßen beidem zugeordnet werden kann.
Modellierung des Nutzers und des Informationsbedürfnisses:
Tabelle 6-1 Modell des Nutzers und des Informationsbedürfnisses
# Name Wertebereich
V1 Motivation M {workbased: 0 ...5}
V2 Suchziel S1 definiert= {0...5}
S2 endlich = {0...5}
S3 nicht informationsbezogenes Suchziel = {0...5}
V3 Stimmung Stt = {hier: SAM}
V4 Zufriedenheit Z1 = [Zufriedenheit mit dem Suchergebnis] {0...5}
Z2 = [Zufriedenheit mit dem Verlauf] {0...5}
V5 Sucherfolg ES1+S2 = [gefundene Information] {0...5}
ES3 = [Erfüllung des nibS] {0...5}
VDx= weitere Faktoren (Bildungsgrad etc.) VC Komplexität VC ={1...5} [nach [Byström und Järvelin, 1995]
Beschreibung der Variablen im Modell:
V1: Variable eins beschreibt, in wie weit die Motivation zur Suche work-‐‑based ist. Konk-‐‑
ret bedeutet das, ob der Nutzer ein Lernziel oder einen Wissenszustand zu einem be-‐‑
stimmten Zweck erreichen will. Diese Variable sagt noch nichts über die Suchstrategie oder den Umfang der gesuchten Informationen aus. Sie beschreibt, wie der Suchimpuls motiviert ist. Borlund beschreibt das als: „...a cognitive state which creates an information need“ und „... when one becomes aware of a mental state of current incompleteness“ [Borlund
und Ingwersen, 1997, S.8]. Ein nicht oder wenig work-‐‑based motivierter Task nach Bor-‐‑
lund fällt in die Klasse der casual-‐‑leisure tasks.
V2: (S1+S2) beschreiben den Charakter des Suchziels selbst. Hier werden die Aspekte von [Rose und Levinson, 2004] aufgegriffen, die sich auf die Endlichkeit und die Defi-‐‑
niertheit des inhaltlichen Suchziels beziehen. Endlichkeit bedeutet in diesem Fall, dass die Vorstellung des Nutzers vom inhaltlichen Suchziel endlich ist.
Belkin [Belkin, 1980] beschreibt 1980 das Konzept der „non-‐‑specifiability of need” und die Tatsache, dass der Nutzer unter Umständen nicht genau weiß was er sucht, also auf kognitiver Ebene das Ziel nicht genau spezifiziert werden kann („Ich möchte irgendwo in den Urlaub fahren, wo es oft sonnig ist, aber nicht zu weit weg“). Er erklärt weiter-‐‑
hin, dass die „non-‐‑specifiability of need“ auch ein sprachliches Problem sein kann, sprich, der Nutzer in dem Moment der Anfrage nicht in der Lage ist, die Query tatsächlich seinem Informationsbedürfnis passend zu formulieren. Das weicht die Definiertheit des Suchziels für das System zunächst ebenfalls auf, kann sich aber im Laufe der Suche klären. Danach würde sich dann auch S1 entsprechend anpassen.
Aus zwei Gründen wird hier die Variable des inhaltliche Ziels in Untervariablen aufge-‐‑
teilt: Es besteht die Vermutung, dass sich die konkreten Suchziele und damit die aktu-‐‑
ellen Suchstrategien während einer (z.B. in den empirischen Erhebungen als „ein Task“
definierten) Suchaufgabe ändern, und das lässt sich mit einem Verändern der Werte der Variablen S1 – S3 beschreiben. Sucht ein Nutzer nach möglichst vielen Informatio-‐‑
nen über das Spiel „Lacrosse“, wie in der ersten Studie zur Rezeption der Information in der Wikipedia dieser Arbeit, dann ist das Suchziel zunächst weniger endlich und auch nur mittelstark definiert (also wäre S1 = 3 und S2 = 2), außerdem verfolgt er zu-‐‑
nächst ausschließlich das Ziel, sich über die Sportart so gut wie möglich zu einem be-‐‑
stimmten Zweck zu informieren, somit ergibt sich für S3 = 1 oder 0. Während der Bear-‐‑
beitung der Suchaufgabe könnte aber die Frage entstehen, seit wann dieses Spiel ei-‐‑
gentlich in Deutschland gespielt wird. Es würden sich ändern S1 = 5 und S2 = 5, S3 blie-‐‑
be gleich. Gegen Ende der Bemühungen, so viele Informationen wie möglich über das Spiel zu akquirieren, ist vorstellbar, dass der Nutzer durch einen Hyperlink auf ein
anderes Thema stößt, das mit der initiativen Suchaufgaben nichts mehr zu tun hat, ihn aber zum weiterlesen animiert. Ohne bestimmten Informationsbedarf und nur aus rei-‐‑
nem Interesse werden nun die Informationen konsumiert, wobei sich die einzelnen Variablen etwa auf Werte wie S1 = 0, S2 = 2 und S3 = 5 änderten.
Das entspricht auch den Überlegungen von Bates [Bates, 1989]: Eine einzelne Suchan-‐‑
frage gibt es so gesehen nicht, sondern vielmehr eine Serie aus kleinen Einzelanfragen (die sogesehen in sich durchaus komplette Suchanfragen sind, wie oben beschrieben), die immer genau dem jeweiligen information need entsprechen. Sobald der Nutzer eine Information gefunden hat wird er dementsprechend reagieren und entweder weitere Ideen haben, die er in Anfragen umsetzt, oder bei ausreichender Information die Suche beenden.
Darüber hinaus müssen zweitens die Variablen S1 und S2 nicht miteinander korrelieren.
Der Grad der Definiertheit eines Suchziels beeinflusst nicht zwingend die Endlichkeit und umgekehrt.
Das Nicht-‐‑Informationsbezogene Suchziel S3
Um das „ziellose browsen“ (siehe dazu [Elsweiler und Wilson, 2010; Adafre und Rijke, 2006]) von der Suche nach einer bestimmten (endlich oder nicht endlich, definierten oder undefinierten) Information zu unterscheiden, wird das „nicht-‐‑informations-‐‑
bezogene Suchziel“ eingeführt (nibs). Dieses liegt dann vor, wenn der Nutzer keinen work-‐‑based task12 durchführt. Wichtig ist, hierbei zu betonen, dass es nicht zutrifft, dass der Nutzer dann kein Suchziel hat. Allerdings ist die task completion nichtzwingend messbar durch die gefundene Information bzw. den Grad der Befriedigung des Ein-‐‑
gangs vorhandenen Informationsbedürfnisses, sondern dadurch, dass z.B. eine andere Stimmung erreicht wurde, dass der Nutzer eine Wartezeit überbrückt hat, Ideen ge-‐‑
sammelt hat oder einfach nur abgelenkt war. S3 beschreibt also ein Suchziel, das nicht auf das Auffinden einer bestimmten Information gerichtet ist.
V3: Die Stimmung beschreibt den emotionalen Zustand des Nutzers zu Beginn der Su-‐‑
che. In den empirischen Erhebungen wurde dieser Zustand durch das Self assesment
12 Siehe auch V1 – die Annahme der Existenz eines „nibs“ leitet sich erstens aus der Theorie zu den casu-al-leisure Szenarios nach [Elsweiler und Wilson, 2010] und zweitens als Äquivalent zu einem konkre-ten Informationsbedürfnis ab.
Manekin [Bradley und Lang, 1994] erfasst. Der Benutzer gibt in diesem Fall Selbstaus-‐‑
kunft über seine aktuelle Stimmungslage. Zusätzlich wurden affektive Reaktionen mit einem EMG aufgezeichnet. Zu den Methoden siehe ab Kapitel 11.1.1.
V4: Variable vier erfasst in zwei Komponenten die Zufriedenheit des Nutzers mit der Suche: Z1 steht für die Zufriedenheit mit dem Ergebnis des Tasks (inklusive Erfüllung des Nicht-‐‑informationsbezogenen Suchziels). Z2 beschreibt die Zufriedenheit mit dem Suchverlauf.
Die beiden Untervariablen müssen nicht zwangsweise miteinander korrelieren, da theoretisch sowohl starke Ausprägungen von Z1 (Suchziel wurde erreicht, z.B. alle ge-‐‑
wünschten Informationen gefunden) in Kombination mit einer schwachen Ausprä-‐‑
gung von Z2 (z.B. es war umständlich die gewünschten Informationen zu finden, es dauerte zu lang, die gewünschten Informationen aus einer großen Menge an Inhalts-‐‑
elementen herauszufinden etc.) möglich sind.
V5: Ergänzt V4 um den quantitativen Aspekt, der angibt, in wieweit die Suche erfolg-‐‑
reich war hinsichtlich der gesuchten Information. ES1+S2 bezieht sich dabei rein auf die Menge der gefundenen Information im Verhältnis zum vorher definierten Informati-‐‑
onsbedürfnis, wobei ES3 erfasst, in wieweit das Nicht-‐‑Informationsbezogene Suchziel erreicht wurde.
V6: Vorkenntnis: Bei der Vorkenntnis des Nutzers wird nach zwei Aspekten unter-‐‑
schieden: Zum einen, wie umfangreich seine Erfahrung im Umgang mit der Wikipedia sind und zweitens, ob er auf dem durchsuchten Themengebiet inhaltliche Vorkennt-‐‑
nisse hat.
Der jeweilige Wissenstand bzw. die Wissensstruktur des Nutzers sowie die Ergänzung der Wissensstruktur durch die präsentierten Informationen sind unsichtbare Variablen, die durch vorherige Abfragen (Selbsteinschätzung der Probanden im Laborexperi-‐‑
ment) oder durch Schätzung auf Grund seines Verhaltens approximiert werden kön-‐‑
nen [Marchionini, 1989; Kelly et al., 2002].
Da hier die Zufriedenheit mit der Informationspräsentation im Vordergrund steht, sind Erkenntnisse über die Wissensstruktur des Nutzers nur insofern relevant, als sie
erkennbar das Verhalten beeinflussen (z.B. ob ein Nutzer einleitende oder zusammen-‐‑
fassende Texte liest oder gleich zu Details im Artikel wechselt, sich offensichtlich im Themengebiet auskennt).
VL: Für den Lerntyp gelten die Definitionen nach [Felder, 1993].
VD: Demographische Faktoren sind Faktoren wie Geschlecht, Alter und höchster Bil-‐‑
dungsabschluss.
Vc : Komplexität des Suchtasks. Byström und Järvelin [Byström und Järvelin, 1995]
haben in ihren Untersuchungen fünf Komplexitätsklassen identifizieren können, diese werden hier zur Bewertung der Aufgaben verwendet.
Abbildung 6-1 Task-Komplexitäts Klassifikation nach [Byström und Järvelin, 1995], Quelle: [Ingwersen und Järvelin, 2005, S.75]