5 Unterschiedliche Nutzungsszenarien
5.2 Information-Seeking und Information Behaviour
Im Forschungsbereich der Informationssuche und des Information Retrieval existieren Modelle, die mit verschiedenen Schwerpunkten den IS&R6 Prozess, die Interaktionen von Nutzer und System sowie deren Auswirkungen darstellen. Eine gute Übersicht dazu findet man bei Ingwersen und Järvelin [Ingwersen und Järvelin, 2005, S. 195 -‐‑
256]. Diese Modelle konzentrieren sich sowohl auf den Nutzer und seinen Suchprozess als auch auf die systemseitige Sichtweise, die Abbildung und den Abgleich von Inhal-‐‑
ten.
Das Vorgehen bei der Suche nach Informationen ist dabei ein Prozess, den jeder je nach Fähigkeiten und Erfahrungen individuell gestaltet. Er lässt sich aber für ein Grundver-‐‑
ständnis abstrahiert und verallgemeinert darstellen. Es gibt in der Forschung theoreti-‐‑
sche Modelle, z.B. von [Marchionini, 1989; Kuhlthau, 2004; Belkin, 1980 oder Ingwersen und Järvelin, 2005], die dies gut veranschaulichen. Um den Suchprozess zu verstehen und die situationsrelativen Elemente einer Suche zu identifizieren, ist es notwendig, diese strukturellen Erkenntnisse zu berücksichtigen.
Marchionini hat bereits 1989 die Fragen gestellt:
„3. What are the relationships among user, task and search pattern?
4. What search patterns are exhibited and how are these patterns related to information-seeking strategies?“
[Marchionini, 1989, S.3]
Er hält fest, dass die Informationssuche an sich eine ganz bestimmte Instanz des allge-‐‑
meinen Handelns des Problemlösens ist [Marchionini, 1989]. Der Nutzer hat ein Ziel
6Information Seeking and Retrieval
(=task), einen oft eher implizit vorhandenen Plan, dieses zu erreichen und er korrigiert notfalls während der Ausführung des Plans immer wieder seine Richtung, wenn er merkt, dass er eventuell im Moment nicht zielführend arbeitet (=search pattern). Dabei wird der Nutzer immer geleitet von
1. seinem gewünschten Ziel
2. seinen kognitiven und affektiven Fähigkeiten und seinem Vorwissen und 3. davon, was das jeweilige System ihm in diesem Moment zu bieten hat [Marchionini, 1989].
Deshalb ist es notwendig, die konkreten Faktoren zu untersuchen, die die Entschei-‐‑
dungen der Nutzer beeinflussen, um ihre Strategien zu verstehen.
Information Behaviour und InformationSeeking Behaviour sind als eine Abfolge von Ent-‐‑
scheidungen zu betrachten, die durch die Faktoren aus dem Kontext des Nutzers, in-‐‑
klusive seiner kognitiven Struktur und dem aktuellen Informationsbedürfnis und den Reaktionen auf die bereits evaluierten Inhalte, beeinflusst werden (so auch [Wilson, 1999]).
In [Fischer et al., 2005] werden ausführlich über 70 konzeptionelle Frameworks zur Informationssuche und der Frage, wie sucht, teilt und verwaltet der Mensch seine In-‐‑
formation, beschrieben. Die dort besprochenen Modelle beziehen sich auf unterschied-‐‑
liche Ebenen und Aspekte der Suchszenarien, dabei auch ethnographische oder spezi-‐‑
ellere Bereiche wie Small-‐‑World Network Exploration. Im Zusammenhang mit dieser Ar-‐‑
beit sind vor allem die zentralen Konzepte eines Suchablaufs inklusive Ziel und Motiva-‐‑
tion relevant. Der Einfluss dieser Faktoren auf die Präferenzen der Nutzer bei der Su-‐‑
che in der Wikipedia ist – im Sinne der Zusammenhänge among user, task and search pattern [Marchionini, 1989, S.3] – noch ungeklärt.
Das folgende Modell von Hearst [Hearst, 2009] zeigt das Grundprinzip des Suchpro-‐‑
zesses (siehe Abbildung 5-‐‑1). Was hier als Task beschrieben wird, ist in dieser Arbeit als Entstehungssituation für einen Suchauslöser definiert. Aus dem jeweiligen Task ergibt sich ein Info Need. Dieses wird in dieser Arbeit konkret durch das inhaltliche Suchziel,
und zusätzlich durch bereits vorhandenes Vorwissen und weitere Präferenzen des Nutzers determiniert. Die in dem Modell von Hearst aufgeführte verbal form entspricht hier der Übersetzung des Informationsbedarfs in eine Stichwortsuche bei der Wikipe-‐‑
dia, die die query darstellt. Der vorhandene Suchalgorithmus führt einen Abgleich mit den vorhandenen Dokumenten durch und liefert die entsprechende Auswahl an den Nutzer zurück. Ja nach Zufriedenheit mit den Ergebnissen verändert der Nutzer dann seine Suchanfrage und wiederholt den Prozess ab der (neuen) verbal form seines Infor-‐‑
mationsbedarfs.
Abbildung 5-1 Standardmodell des Suchprozesses von [Hearst, 2009, Kapitel drei]
Bei der Suche in der Wikipedia übermittelt der Nutzer sein Suchziel in der Regel in Form einer query (sollte er nicht eine andere Einstiegsform wählen). Er müsste – sollten seine persönlichen Vorstellungen berücksichtigt werden – damit theoretisch sein Ziel und seine Vorstellung davon, wie er dieses erreichen will, in Form der gewählten Ter-‐‑
me an das System übermitteln. Das ist aber nur sehr begrenzt oder nicht möglich [Whi-‐‑
te und Kelly, 2006]. Der Nutzer muss genau diejenigen Informationen finden, die in sein mentales Modell der Welt und speziell zur Problematik, die er durch Ausführen
der Suche zu lösen versucht, passen. Er wird die Ergebnisse seiner Suchanfrage dahin-‐‑
gehend evaluieren und bewerten [Wang und Soergel, 1998]. Ziel dieser Arbeit ist es, diese Bewertung durch empirische Methoden explizit zu machen, denn dieser Bestand-‐‑
teil des hier beschrieben Information Seeking Behaviour kann durch die Interaktion des Nutzers beobachtet werden: Welche der angebotenen Elemente nutzt er für seine Prob-‐‑
lemlösung?
Die einzelnen Schritte des allgemeinen Modells des Suchprozesses bleiben dabei gleich, da sie nur das Handeln selbst betreffen und abstrakt beschrieben sind. Die kon-‐‑
kreten Inhalte (vom Information Need bis hin zur Komplettierung der Suche) sind dage-‐‑
gen variabel.
Manche Modelle (wie z.B. das Berry Picking Modell von [Bates, 1989]) gehen von einem konstanten Verhalten und vor allem von einem konstanten Informationsbedürfnis über den kompletten Suchzeitraum aus. Dies würde der formalen Einteilungen der Informa-‐‑
tion Needs nach z.B. [Marchionini, 2006] folgen. Andererseits liegt die Vermutung nahe, dass sich während eines Suchprozesses durch die Interaktion mit dem System und den Ergebnissen selbst sowohl Suchstrategie als auch das Suchziel ändern (z.B. durch Kon-‐‑
kretisierung, Ablenkung, Auffinden von Informationen, nach denen nicht gesucht wurde, da deren Existenz nicht vermutet wurde etc.). Besonders bei der in 5.1 und 5.5 beschriebenen Freizeitsuche kann – wie von McKenzie [McKenzie, 2003] beschrieben – das info need auch weniger systematisch und definiert sein. Es ist also festzuhalten, dass beide Möglichkeiten eintreten können, sowohl ein über die Suche konstantes Suchziel als auch Wechsel während des Prozesses.
Zu dieser Frage beschreibt Carol Kuhlthau mit Hilfe ihres ISP (Information Search Pro-‐‑
cess) Modells [Kuhlthau, 1991] nachvollziehbar verschiedene Zustände eines Suchpro-‐‑
zesses. Der Nutzer durchläuft demnach sechs Stufen, die Kuhlthau als
1. Feststellen eines Informationsbedarfs (vergleichbar dem ASK von [Belkin, 1980]),
2. einer genaueren Identifizierung des Topics,
3. der Suche nach der gewünschten Information im identifizierten Bereich,
4. einer stärkeren Fokussierung7,
5. einer Auswahl der gefundenen Informationen und dem Zusammentragen der zur Erfüllung des Informationsbedürfnisses notwendigen Teile davon und
6. dem Abschluss der Suche durch Erfüllung des Informationsbedürfnisses
definiert. Diese Einteilung entspricht der Hypothese, dass sich durch die Interaktion mit den Inhalten der kognitive Zustand des Nutzers ändert und dadurch auch sein Zustand im Suchprozesse, so auch [Ingwersen und Järvelin, 2005].
Wilson [Wilson, 1999] stellt unter dem Aspekt des information behaviour noch weitere Bereiche um das reine information-‐‑searching behaviour (Abbildung 5-‐‑2) dar. Dabei be-‐‑
rücksichtigt er ebenfalls die Frage, ob der Nutzer mit den jeweils gefundenen Inhalten zufrieden ist und damit seine Suche erfolgreich war. Auch dieses Modell verdeutlicht den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit: die hier allgemein bezeichneten Bereiche wie „Need“ oder „Satisfaction or Non-‐‑satisfaction“ beschreiben abstrakt die Nutzungs-‐‑
szenarien und die davon abhängige situative Zufriedenheit der Nutzer. Diese wiede-‐‑
rum beeinflussen seine Suchstrategien [Wilson, 1999].
7 Vergleichbar einer immer genaueren Vorstellung der gewünschten Information, die am Anfang nur in Ausnahmefällen, z.B. unter Umständen beim sog. fact finding gegeben ist, aber auch dann nicht unbe-dingt, denn in der Regel ist das Informationsbedürfnis nicht zwingend explizit vorhanden.
Abbildung 5-2 Information Behaviour Model von [Wilson, 1999, Kapitel 2]
Die in der Forschung vorhandenen Modelle entspringen entweder einer theoretisch-‐‑
analytischen Vorgehensweise oder basieren auf empirischen Daten und Erfahrungen.
Im Laufe der Zeit wurden Faktoren identifiziert, die einen Einfluss auf das Verhalten und die Wahrnehmung der Nutzer im Rahmen der Informationssuche haben (vgl. da-‐‑
zu verschiedene Modelle, nachzulesen in [Ingwersen und Järvelin, 2005]).
Ingwersen und Järvelin ergänzen dabei diese Modelle vor allem um den kognitiven Aspekt, der den Nutzer beeinflusst, also seine Wissensstruktur und deren Einfluss auf die Rezeption von Inhalten. Ebenso fokussieren sie die Thematik unterschiedlicher Arten von Suchanfragen und deren Komplexität.
Das nachfolgende Modell aus [Ingwersen und Järvelin, 2005] zeigt, dass der Kontext im world model des Nutzers eine Rolle spielt. Dieser wird demnach beeinflusst von Fak-‐‑
toren, die das System nicht kennt. Der Generator der Nachricht hat ebenfalls einen Kontext8, dieser geht aber beim Transport der Nachricht verloren. Der Empfänger in-‐‑
terpretiert die Nachricht bzw. die Information in seinem eigenen Kontext (bestehend aus seiner vorhandenen kognitiven Struktur, seiner Problemlösungsvorstellung etc., da
8 In diesem Fall das System – Kontext ist dann vermutlich rein semantisch zu sehen.
der Nutzer wiederum den Kontext des Generators nicht kennt). Der Informationsbe-‐‑
griff im Bezug zum cognitive viewpoint [Ingwersen und Järvelin, 2005] wird dabei auf Basis der Definition von Information von ([Steinmueller, 1993] u.a., ähnlich auch bei [Ingwersen, 1992; Wersig, 1971]) verwendet: Information ist zweckrelativ und subjekt-‐‑
relativ.
Im Falle einer Suche in der Wikipedia ist der Kontext des Generators der Abgleich der Suchterme, der Kontext des Nutzers sein aktuelles Nutzungsszenario. Ingwersen und Järvelin [Ingwersen und Järvelin, 2005] behandeln hier allerdings den Begriff Kontext bewusst als offenes Konzept, als generelle Faktoren aus der Umwelt, die den Rezipien-‐‑
ten beeinflussen. Diese Faktoren werden im empirischen Teil dieser Arbeit und dem hier erstellten Modell wiederum aufgegriffen und operationalisiert.
Abbildung 5-3 The cognitive communication system for Information Science, information seeking and IR.
Revision of Ingwersen [1992, p.33; 1996, p.6], from [Belkin, 1978], [Ingwersen und Järvelin, 2005, S.39]
Ein weiteres Modell aus [Ingwersen und Järvelin, 2005, S.277] beschreibt einen generel-‐‑
len Aufbau von Nutzer, Kontext und System (siehe Abbildung 5-‐‑4). Es zeigt, dass der Nutzer umgeben von seinem Kontext ist und von dieser „Einbettung“ aus mit dem Interface interagiert. Seine Interaktion wird vom Kontext beeinflusst und somit findet ebenfalls ein – indirekter – Einfluss auf die Informationsobjekte durch die Beurteilung und Bewertung der Objekte statt. Darüber hinaus sind auch die potentiellen Informa-‐‑
tionsobjekte und die Interaktion mit diesen wiederum selbst Einflussfaktoren, die den Kontext (hier vor allem im Sinne der kognitiven Struktur des Nutzers, aber auch auf affektiver Ebene) selbst wieder beeinflussen [Ingwersen und Järvelin, 2005]. Dieses Modell zeigt die komplexen Zusammenhänge zwischen Informationsobjekten, Nutzer und der Situation, die vielfach bidirektional bestehen. Konkret bedeutet das, dass Ur-‐‑
sache und Wirkung nicht immer klar getrennt werden können; so hat der Nutzer zwar einen bestimmten Zustand, wenn der Task beginnt, aber das Suchverhalten kann die-‐‑
sen Zustand selbst insofern beeinflussen, als dass dieser sich durch den Verlauf der Suche ändert (worauf sich das Suchverhalten wiederum dem neuen Zustand anpasst).
Dies ist auch entsprechend [Kuhlthau, 1991]. Auch das Modell Abbildung 5-‐‑4 be-‐‑
schreibt abstrakt den Bezugsrahmen der Untersuchungen dieser Arbeit und bildet eine Basis für konkrete Überlegungen zu Suchverhalten und Interaktion mit der Wikipedia.
Abbildung 5-4 Interactive Information Seeking, Retrieval and Behavioral processes [Ingwersen und Järvelin, 2005, S.277]
Bereits 1995 haben Byström und Järvelin [Byström und Järvelin, 1995] ein Modell ent-‐‑
worfen, das ebenfalls den Aspekt des Kontexts und der Nutzeraktionen in Bezug setzt, ohne allerdings die einzelnen Faktoren jeweils „auszuformulieren“ und konkrete Er-‐‑
fassungsbereiche oder Aktionen festzulegen. Allerdings zeigt das Modell gut, dass das Problem der Wechselwirkung zwischen Kontext und Nutzer mehrdimensional ist, da nicht nur auf einer Ebene sondern auf vielen Ebenen Einflussfaktoren und Reaktionen
darauf vorhanden sind. Situative und persönliche Faktoren spielen demnach [Byström und Järvelin, 1995] eine Rolle für die konkrete Analyse des Informationsbedarfs, der wiederum ausschlaggebend ist für Relevanz und Ranking der Ergebnisse eines IR-‐‑
Vorgangs.
Abbildung 5-5 Information Seeking Model von Byström und Järvelin [Byström und Järvelin, 1995, S.7]
Fasst man die Theorien und Modelle zum Information Seeking Prozess zusammen, so ergeben sich folgende wesentliche Elemente des Suchprozesses (nach [Marchioni, 1989;
Hearst, 2009]):
Der Nutzer erkennt zunächst, dass er ein „Problem“ (i.d.R. in Form eines Informati-‐‑
onsdefizits (anamolous state of knowledge [Belkin, 1980] oder in sog. casual leisure Szenari-‐‑
en auch anderer Natur wie z.B. Langeweile) hat. Im nächsten Schritt muss das „Prob-‐‑
lem“ konkretisiert und für eine Suchanfrage an ein Informationssystem verbalisiert werden. Dabei ist entscheidend, dass unter Umständen Teilaspekte des Suchproblems
durch die Verbalisierung nicht erfasst werden (z.B. Umfang, Modus oder Detailschärfe der erwarteten Ergebnisse). Im nächsten Schritt des Suchprozesses evaluiert der Su-‐‑
chende die vom System auf seine Query gelieferten Ergebnisse entsprechend seinen persönlichen Vorstellungen und wiederholt die letzten zwei Schritte bei Bedarf [Hearst, 2009]. Wenn der Nutzer entsprechend seinem initiativen Bedürfnis ausrei-‐‑
chend Information aggregiert hat beendet er die Suche (hierzu auch [Kulthau, 1991]).
Das Zusammenspiel folgender Konzepte aus dem hier dargestellten Suchprozess wird in dieser Arbeit als Nutzungsszenario definiert:
• Task (Kapitel 5.3)
• Information Need (Kapitel 5.4)
• Information Use (Kapitel 5.5, Kapitel 7.2.3, ab Kapitel 11.2)
• Evaluierung der Ergebnisse/Bewertung der Ergebnisse (Kapitel ab 11.3)
• Zufriedenheit oder Unzufriedenheit (ab Kapitel 7.2, 12.3.5)
• Interaktion mit den Inhalten (ab Kapitel 11.3)
Es wird anschließend der Frage nachgegangen, in welchen unterschiedlichen Ausprä-‐‑
gungen diese Konzepte vorkommen und wie sich diese wiederum auf die Präferenzen der Nutzer bei der Informationssuche in der Wikipedia auswirken.