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Im Untersuchungsfokus der zweiten Forschungsfrage stand der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und elterlichem Präventionsverhalten. Genauer interessierte die Erklärung

Diskussion und Zusammenfassung 144 der sozial differentiellen Inanspruchnahme der U-Untersuchungen für Kleinkinder bis zum Alter von 18 Monaten. Als erklärende Faktoren wurden die sozialen Beziehungen und zeitli-chen Ressourcen der Mutter, einschließlich der Zufriedenheit mit der Mutterrolle und dem Zurechtkommen mit den rollenbezogenen Anforderungen betrachtet.

Auf Basis der Daten aus der Mutter-Kind-Befragung des SOEP (2003–2008) wurde mittels multipler logistischer Regressionsanalysen getestet, inwieweit die Einbindung in familiäre Beziehungen und die hier bereitgestellten Unterstützungsleistungen soziale Ungleichheits-muster in der Teilnahme an einer altersgemäßen Vorsorgeuntersuchung erklären kann.

Die empirischen Analysen zeigten einen höchstsignifikanten Herkunftseinfluss auf das Teilnahmeverhalten in Abhängigkeit der Bildung – Je höher die formale Bildung der Eltern, desto eher nehmen Kinder an einer altersentsprechenden U-Untersuchung teil – ein bekann-ter Ungleichheitsbefund, der in anderen Studien mit für Deutschland repräsentativen Daten berichtet wurde (mit KiGGS-Daten, Kurz und Becker 2017). Daneben erwies sich ein Migra-tionshintergrund als bedeutsamer Teilnahmeprädiktor. Allerdings wurde dieser in Kapitel 6 nicht differenziert nach ethnischen Herkunftsgruppen betrachtet. Dafür ergab aber die Aus-wertung der KiGGS-Daten im Zusammenhang mit den Analysen zur dritten Fragestellung (Kapitel 7), dass Kinder aus türkischstämmigen und Spätaussiedlerfamilien einen vergleichs-weise lückenhaften Vorsorgestatus aufvergleichs-weisen.

Auf theoretischer Ebene kann das mit der ethnischen Zugehörigkeit assoziierte Vorsorge-handeln über eine Vielzahl möglicher Einflussfaktoren in Verbindung gebracht werden, etwa mit mangelnden Kenntnissen zum Aufbau des Gesundheitsversorgungssystems, Einkom-mensarmut, einstellungsbezogene Präventionsdistanzen (fatalistischer Gesundheitshabitus), Sprachbarrieren oder Diskriminierung. Da ethnisch strukturiertes Vorsorgehandeln hier aber nicht als Explanandum sondern als Explanans (für herkunftsabhängige Bildungsunterschiede) in den Analysefokus gerückt wurde, können zu den zugrundeliegenden Teilnahmemechanis-men keine Aussagen getroffen werden.

Welche Befunde zeigen nun die Analysen zu bildungsbezogenen Besuchsunterschieden?

In Übereinstimmung mit den theoretischen Überlegungen fördert soziale Integration – gemes-sen über das Zusammenleben mit dem Kindsvater – maßgeblich die Teilnahmebereitschaft.

Dieser familienstrukturelle Ungleichheitsbefund wurde wiederholt für den deutschen und in-ternationalen Forschungsraum berichtet (Kurz und Becker 2017). Die Gründe dafür, warum es Kernfamilien gegenüber Ein-Elternformen besser gelingt, kontinuierlich gesundheitsbezo-gene Check-ups in Anspruch zu nehmen, wird aber im Allgemeinen noch unzureichend ver-standen. Auch die hier vorgestellte Untersuchung wirft mit einem relativ begrenzten Bündel erklärender Größen nur wenig Licht auf die verantwortlichen Ursachen. Neben der strukturel-len Vollständigkeit der Familie wirken das Wohlbefinden mit der Mutterrolle und die psycho-soziale Gesundheit der Mutter während der Schwangerschaft, was sich auf theoretischer Ebe-ne als Beziehungskapital des Kindes rahmen lässt, positiv auf das nach der Geburt erhobeEbe-ne Vorsorgeverhalten. Entgegen der Annahme, dass soziale Unterstützung im familiären Umfeld die Wahrscheinlichkeit des Besuchs einer altersgemäßen U-Untersuchungen erhöht, lässt sich

in den Analysen jedoch kaum ein förderlicher Einfluss instrumenteller Unterstützung seitens des Partners (Kinderbetreuung) auf das Vorsorgehandeln erkennen. Umfangreiche verwandt-schaftliche Unterstützungsleistungen bei der Kinderbetreuung sind mit dem Präventionsver-halten sogar negativ korreliert. Vermutlich verweist dieser abklärungsbedürftige Befund we-niger auf die negative Seite sozialer Einbindung, als vielmehr auf eine (oder mehrere) in den Analysen unkontrollierte und damit unbeobachtete Kovariate(n). Beispielsweise ist denkbar, dass Kinder, welche in der Woche regelmäßig von Angehörigen, wie älteren Geschwistern, betreut werden, eher in Elternhäusern mit begrenzten Zeit- und/oder psychosozialen Ressour-cen, die für präventives Engagement wichtig sind, aufwachsen. In den Analysen wurde zwar für diesbezügliche Indikatoren kontrolliert. Allerdings kann nicht mit Bestimmtheit gefolgert werden, dass die verwendeten (und durch die Daten vorgegebenen) Ressourcenmaße die So-zialkapitalkonstrukte adäquat abbilden, zumal in der Forschung kein Konsens darüber besteht, was unter dem Sozialkapitalbegriff zu verstehen und wie Sozialkapital zu messen ist (Franzen und Pointner 2007). Ungeachtet dieser sich fortsetzenden Sozialkapitaldiskussion zeigte sich in den Daten die präventive Relevanz der Gesundheitsressource Zeit: Mütter, welche sich zum Erhebungszeitpunkt in Mutterschutz, Mutterschaftsurlaub oder Elternzeit befinden, nah-men eher an den U-Untersuchungen im Rahnah-men des Krankheitsfrüherkennungsprogramms teil als einer Erwerbstätigkeit nachgehende Mütter.

Neben instrumententheoretischen Einschränkungen bezüglich der unabhängigen Variablen stellt die Operationalisierung der abhängigen Vorsorgevariablen einen Kritikpunkt dar. Wie die Befundlage zeigt (Kamtsiuris et al. 2007a), verliert das Vorsorgeprogramm mit fortschrei-tendem Lebensalter der Kinder (Stich et al. 2009) in allen Bildungsgruppen an Akzeptanz, wobei sich soziale Vorsorgedistanzen erst bei den späteren U-Untersuchungen (ab der U6, Kurz und Becker 2017: 179) sichtbar weiten. Es empfiehlt sich daher, die hier gemachten Beobachtungen an einem ‚älteren‘ Kindersample zu replizieren, und dabei nicht, wie hier da-tenbedingt vorgegeben, mit Informationen zum letzten erfolgten Check-up, sondern idealer-weise mit Informationen zur erfolgten Teilnahme an allen angebotenen Untersuchungen. Ein metrisches Maß zur Anzahl der Teilnahmelücken hat den Vorteil eines höheren Informations-gehaltes. Die KiGGS-Daten stellen ein solches Maß zur elterlichen Vorsorgeneigung bereit, dafür aber fehlen in der Basiserhebung Informationen zur Abbildung der Sozialkapitalmerk-male, wie der wahrgenommene Rückhalt, Hilfen bei der Kinderbetreuung und die Zufrieden-heit mit der Mutterrolle und dem Zurechtkommen mit den rollenbezogenen Anforderungen.

Auch wenn insgesamt die Tragfähigkeit des Sozialkapitalkonzepts für die Erklärung sozia-ler Präventionsunterschiede begrenzt scheint, spielen die Vollständigkeit der Familie und die Gesundheitsressourcen der Mutter eine bedeutsame Rolle für die Nutzung der Gesundheitsun-tersuchungen für Kinder. Eine Erklärung der Disparitäten in der Teilnahmebereitschaft leisten diese Sozialkapitalformen jedoch nicht. Zur Vervollständigung des Forschungspuzzels besteht Bedarf an weiterführenden Untersuchungen, wobei in Ergänzung zu quantitativ empirischen Forschungsstrategien über den Einsatz qualitativer die neue Lebenssituation mit Neugebore-nen adäquater erfassenden Methoden nachzudenken ist. Das scheint sinnvoll für die

Ergrün-Diskussion und Zusammenfassung 146 dung der in Ein-Elternfamilien vorherrschenden Vorsorgedistanz, welche sich erst durch die Offenlegung subjektiver Relevanzstrukturen besser verstehen lassen dürfte. Möglicherweise stehen der kontinuierlichen Inanspruchnahme des Versorgungssystems schlechte Erfahrungen oder fehlendes Vertrauen in die Einrichtungen des Gesundheitssystems entgegen. Auch wenn in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten die Ein-Elternfamilie als neue Familienform quantita-tiv auf dem Vormarsch war und alleiniges Erziehen in der öffentlichen Wahrnehmung keinen Makel mehr darstellt, können sich Alleinerziehende subjektiv benachteiligt fühlen und Etiket-tierungen seitens ‚erziehungskontrollierender‘ Akteure im Gesundheits- oder Bildungssystem befürchten. Ein Ungleichheitsbeitrag des Versorgungssystems zur im Durchschnitt niedrige-ren Präventionsneigung in Ein-Elternfamilien kann mit den vorliegenden Analysen also nicht ausgeschlossen werden. Analog könnten sich untere Sozial- und Bildungsschichten beim ärzt-lichen Personal, das mehrheitlich sozial privilegierten Familien entstammt, im Mittel schlech-ter aufgehoben, schlechschlech-ter verstanden und in ihrer Erziehungskompetenz vorverurteilt fühlen.

Inwiefern solche Prozesse tatsächlich am Werke sind, ist vermutlich zielführender mit offenen statt standardisierten Interview- und Auswertungstechniken zu erfassen. Ein über die qualita-tive Sozialforschung hergestellter Forschungszugang kann hier ein vielversprechender Ansatz sein. Letzteres gilt sicherlich auch für das bislang geringe Verständnis ethnisch strukturierter Vorsorgedistanzen, die neben sozioökonomischen und sprachlichen Ressourcenbeschränkun-gen sowie soziokulturell unterschiedlichen Gesundheitskonzepten womöglich Ergebnis ethni-scher Diskriminierungsprozesse sind. Mit quantitativen Methoden lassen sich diese empirisch jedoch im Allgemeinen vergleichsweise schwer untersuchen.