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2.2 Boudon’s mikrosoziologischer Erklärungsansatz

2.2.1 Herkunft und Bildung

In der klassischen Sichtweise werden Bildungsungleichheiten neben genetisch bedingten Be-gabungsunterschieden vor allem über zwei soziale Mechanismen erzeugt, wobei jeweils die Familienposition im sozialen Stratifikationssystem eine wichtige Rolle spielt (Boudon 1974).

Auf der einen Seite bieten Familien während der Sozialisation je nach sozialer Zugehörig-keit unterschiedliche kulturelle Anregungs- und LernmöglichZugehörig-keiten, welche im Vorschulalter zu spezifischen Entwicklungs- und Kompetenzunterschieden zu Ungunsten von Kindern aus sozial weniger privilegierten Familien führen (Sozialisationseffekt bzw. primärer Effekt der sozialen Herkunft). Schul- und lernrelevante Kompetenzrückstände schlagen sich wiederum in schlechten Schulnoten nieder, welche in nach Leistung selektierenden Bildungssystemen, wie dem deutschen System, die Chance signifikant reduzieren, eine zur Hochschule führende

3 Das Konzept primärer und sekundärer sozialer Stratifikationseffekte findet sich bereits bei den Forschern Girard und Bastide (1963) (vgl. Neugebauer 2010).

Theoretische Bezüge und Befunde zu sozialen Chancenungleichheiten 16 Schule zu besuchen. Auf der anderen Seite treffen Eltern im Bildungssystem an institutionell festgelegten Verzweigungspunkten je nach ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital-besitz eine mehr oder weniger ambitionierte Schulwahl (Entscheidungseffekt bzw. sekundärer sozialer Herkunftseffekt). Aus dem Wechselspiel beider Stratifikationseffekte resultiert das in allen westlichen Gesellschaften beobachtbare je nach Länderkontext mehr oder weniger stark akzentuierte Phänomen der schichtspezifischen Bildungsbeteiligung.

Welche mit dem sozialen Familienhintergrund verknüpften Prozesse und Barrieren liegen dieser Ungleichheitserscheinung nun genau zugrunde? Nach Boudon spielen hierfür soziale Unterschiede im Bildungsverhalten die entscheidende Rolle. Im Vergleich zu Grundschulkin-dern aus sozial weniger privilegierten Familien setzen Kinder aus Familien am oberen Ende der Sozialhierarchie ihren Bildungsweg auch gegen Widerstände, wie negative Lehrerurteile oder Empfehlungen, durchschnittliche Leistungen oder Leistungskrisen (Geißler 1994: 142), überproportional häufig in einer weiterführenden Sekundarschulform fort. Ein wichtiger Grund hierfür sind in Abhängigkeit der sozialen Herkunft variierende bildungsbezogene Ori-entierungen, Wertschätzungen und Verhaltensweisen. Um das Risiko eines sozialen Status-verlustes in der Generationenfolge zu minimieren, haben Familien aus höheren Schichten keine andere Wahl als den potentiell ertragreichsten Bildungsgang anzustreben, in Deutsch-land das Gymnasium. Dem in höheren Schichten „stärkeren Druck zu hohen Ausbildungsab-schlüssen [steht in unteren Sozialschichten nur] die vage Hoffnung auf sozialen Aufstieg“

gegenüber (Geißler 1994: 144), wobei der erfolgreiche Besuch einer mittleren oder unteren Schullaufbahn zumeist für den Statuserhalt in unteren Sozialschichten ausreicht.

Der erwartete Nutzen einer höheren Schulbildung ist in höheren Schichten somit wesent-lich höher anzusetzen als in unteren Schichten. Zudem fällt die Distanz zwischen elterwesent-lichem Sozialstatus und höherem Schulabschluss für Kinder aus unteren Sozialschichten relativ groß aus. Für Arbeiterfamilien wiegen deshalb die Kosten für das Zurücklegen des relativ langen (gymnasialen) Bildungsweges ungleich schwerer. Gleichzeitig wird in diesen Familien, auf-grund geringer Unterstützungsressourcen und fehlender Erfahrung mit den tatsächlichen An-forderungen höherer Schullaufbahnen, das schulische Misserfolgsrisiko subjektiv höher ein-geschätzt. Deshalb wird die Entscheidung für anspruchsvolle Schullaufbahnen mit abneh-mender Sozialschicht stärker vom individuellen Leistungsvermögen diktiert (Boudon 1974).

Zur Bewältigung der vom Standpunkt der Arbeiterfamilien aus betrachtet relativ großen sozialen Distanz zu den gesellschaftlich angesehensten Bildungssegmenten, müssen diese im Vergleich zu Akademikerfamilien im Mittel mehr Ressourcen aufwenden, eine höhere Moti-vation aufweisen sowie größere Lernanstrengungen unternehmen, um sich an Bildungsüber-gängen für höhere Bildungswege zu entscheiden (Boudon 1974). Untere Schichten tendieren daher verstärkt zur Wahl eines weniger anspruchsvollen Schultyps, selbst bei vergleichbaren Leistungen in den übergangsrelevanten Fächern oder Sekundarschulempfehlungen. Empfeh-lungen der Grundschullehrkräfte für untere Schullaufbahnen widersetzen sich dabei höhere Schichten eher als niedrigere Schichten, was die sozialen Differenzen in den Übergangsraten auf höhere zur Universität führende Bildungswege zusätzlich vergrößert.

Vor diesem Hintergrund haben Kinder aus sozial privilegierten Familien gegenüber jenen aus weniger privilegierten Familien einen mehrfachen Bildungsvorteil (Dollmann 2010: 18).

Einerseits werden sie im Vorschulalter aufgrund der relativen sozialen Besserstellung besser von ihren Familien auf schulische Lern- und Leistungsanforderungen vorbereitet, was folglich relative Notenvorteile bringt und damit, insofern Noten die Hauptübergangsdeterminanten darstellen, auch bessere Chancen auf einen Übergang in das Gymnasium. Andererseits stre-ben Eltern aus oberen Sozialschichten, um einen sozialen Statusabstieg zu vermeiden, ver-stärkt die anspruchsvollsten Schulen in der Sekundarstufe an, und zwar selbst dann, wenn ihre Sprösslinge nur (unter-)durchschnittliche Noten erzielen. Familien mit ausreichend ökonomi-schem Kapital können bei eventuell auftretenden schulischen Schwierigkeiten private Nach-hilfe finanzieren, oder, da sie häufig selbst das Gymnasium durchlaufen sind und daher mit den Leistungsanforderungen vertraut sind, selbst Hilfestellung in schulischen Angelegenhei-ten geben, was subjektive mit der Entscheidungssituation verbundene UnsicherheiAngelegenhei-ten (ob des zukünftigen Schulerfolgs) aufseiten der Eltern und aufseiten der Kinder reduziert.

Sekundäre Herkunftseffekte treten darüber hinaus auch in Form höheren elterlichen Enga-gements in der Schule in Erscheinung. Eltern aus oberen Bildungsschichten arbeiten ver-gleichsweise intensiv mit der Lehrerschaft zusammen, zeigen Präsenz bei Elternabenden und arbeiten aktiv in Gremien mit (Elternvertretung, Elternbeirat), was sich wiederum positiv auf die Schulerfolgschancen ihrer Kinder auswirken kann (Geißler 1994: 143). Vermutlich ver-halten sich obere Sozialschichten vor dem Übergang in die Sekundarstufe strategisch voraus-schauend, um zu vermeiden, dass der Nachwuchs am Ende der Grundschullaufbahn die Leis-tungshürde für das Gymnasium reißt. Die Erhöhung der Übergangschancen kann direkt erfol-gen über die Kontaktaufnahme mit Klassenlehrerinnen und –Lehrern (Geißler 1994: 143) o-der indirekt, über die Erhöhung des Leistungsdrucks auf die Kino-der oo-der durch Bereitstellung zusätzlicher Unterstützung (Nachhilfe) zur kurzfristigen Steigerung des Leistungsvermögens.

Umgekehrt kann angenommen werden, dass Schülerinnen und Schüler eine geringere Leis-tungsmotivation aufweisen, wenn sie davon ausgehen, die für den Übergang in das Gymnasi-um erforderliche Leistungshürde nicht zu meistern (Jackson 2013).

Wie diese Beispiele illustrieren, lassen sich primäre und sekundäre soziale Herkunftseffek-te theoretisch nicht trennscharf voneinander separieren. Weil es sich bei beiden EffekHerkunftseffek-ten um eine analytische Unterscheidung handelt (Dollmann 2010), stellt den Ansatz vor methodische Probleme bei der Bestimmung ihres relativen Anteils an der Ungleichheitsentstehung. So heißt es, die Kritik am Kausalmodell zusammenfassend, bei Jackson (2013):

“The decomposition of IEO into primary and secondary effects rests on the principle that these effects act in-dependently to produce overall inequalities. If students anticipate that they will not make an educational tran-sition, they may then decide to work less hard and subsequently achieve a lower level of performance; this behavior violates the principle of independence of primary and secondary effects. If students do routinely make anticipatory decisions of this kind, the size of secondary effects estimated under the principle of inde-pendence would be an underestimate of the true role of choice in creating IEO.” (Jackson 2013: 17).

Theoretische Bezüge und Befunde zu sozialen Chancenungleichheiten 18 Wie Neugebauer (2010) auf Basis bundesweiter Längsschnittdaten des DJI Kinderpanels in einer Dekompositionsanalyse zur Abschätzung der relativen Bedeutung beider Effekte zeigt, entfallen auf den Entscheidungseffekt 59 Prozent der am Übergang auf das Gymnasium beo-bachteten Bildungsungleichheit, wobei das Ausmaß dieses Effekttyps in Bundesländern mit verbindlicher Grundschulempfehlung stärker ausfällt als in Kontexten, in denen der Elternwil-le keiner institutionelElternwil-len Einschränkung unterliegt.4 Zudem variieren die geschätzten Erklä-rungsgewichte je nach verwendeten Daten, so dass nationale wie internationale Studien zum Teil zu gegenteiligen Ergebnissen kommen, den primären Herkunftseffekten also größeren Anteil zuschreiben (ebd.; Ditton et al. 2005; Ditton und Krüsken 2008). Allerdings gilt es bei dieser Einschätzung zu differenzieren. Für Subgruppen der Bevölkerung, wie Migrantenkin-der, stellt der leistungsbezogene Effekt der Familienherkunft, bei einem für diese Gruppe ty-pischerweise besonders hohen Aspirationsniveau, anteilig sogar den Ungleichheitsmechanis-mus dar (neben möglichen Effekten der Diskriminierung) (Gresch und Becker 2010).

Der Dekomposition sozialer Bildungsungleichheit in primäre und sekundäre Herkunftsef-fekte kommt eine wichtige sozialpolitische Bedeutung zu. Beispielsweise könnten finanzielle Hilfsmaßnahmen zur Reduzierung sekundärer Herkunftseffekte beitragen, indem ein Mehr an ökonomischen Mitteln die in unteren Sozialschichten schwerer wiegenden Bildungskosten tragbarer macht (Dollmann 2010: 18). Damit stünde, im Falle einer adäquaten sozialpoliti-schen Umsetzung, ein wichtiger Baustein zur Veränderung des Bildungsverhaltens unterer Sozialschichten zur Verfügung. Werden herkunftsspezifische Werthaltungen gegenüber höhe-re Bildung in Rechnung gestellt, müsste dieser notwendigerweise ergänzt werden um das As-pirationsniveau anhebende Maßnahmen, was an eine formale Weiter- bzw. Höherbildung bil-dungsfernerer Schichten geknüpft ist. Eine Erhöhung des Bildungskapitals müsste, soll der sekundäre Herkunftseffekt bei der Bildungswahl abgeschwächt werden, vermutlich zusätzlich begleitet werden von einer beruflichen Höherpositionierung, um die soziale Distanz zum Sys-tem höherer Bildung zu verkürzen, welche sich, wie oben dargelegt, an der Distanz zwischen elterlichem Sozialstatus und für das Kind angestrebtem Bildungsabschluss bemisst. Solche Maßnahmen sind jedoch kostspielig und ihr Erfolg ungewiss.

Zur Reduzierung primärer sozialer Herkunftseffekte setzt die Sozialpolitik starke Hoffnun-gen in das System institutioneller Frühbildung (Jackson 2013: 6), das das Kind als Lernum-welt direkt erreicht sowie einen Zugang zu den Eltern herstellt. Eine weitere, im deutschen Kontext wenig Beachtung findende Maßnahme im Kampf gegen primäre Herkunftseffekte, stellt das für alle Kinder verpflichtende Programm zur Früherkennung gesundheitlicher Prob-leme und lernrelevanter Entwicklungsauffälligkeiten dar. Um Entwicklungsdefiziten vorzu-beugen, zielt das Präventionsprogramm zudem auf eine Stärkung der Erziehungskompetenz,

4 Neben dem Freiheitsgrad, den Familien beim Grundschulübergang institutionell in einigen Bundesländern zugestanden wird (für eine Übersicht siehe Neugebauer 2010), variiert die Bedeutsamkeit beider Effekttypen in Abhängigkeit institutioneller Rahmenbedingungen, wobei das Gewicht sekundärer sozialer Herkunftseffekte von weiteren Strukturgrößen des Bildungssystems abhängt, unter anderen von der laufbahnbezogenen Optionsviel-falt, Zeitpunkt und Anzahl der Bildungsübergänge (Hillmert 2008; Becker 2009).

indem Informationen, Rat und Erziehungshilfen zu einem gesunden Aufwachsen vermittelt werden. Im Unterschied zum relativ populären und erfolgreichen Frühbildungssystem, liegen kaum Evidenzen zur Wirksamkeit der U-Untersuchungen im Schulkontext vor (Meyer-Nürnberger 2002). Wie im empirischen Teil der Arbeit gezeigt werden kann, hängen Lücken im Vorsorgestatus tatsächlich mit schlechteren Bildungschancen zur Einschulung und Bil-dungsergebnissen in der Grundschule zusammen, was für die Relevanz des Präventionsansat-zes spricht. Im Folgenden stellt sich nun die Frage, ob Boudon‘s Argumentation zur Erklä-rung sozialer Unterschiede in der Bildung und im Bildungsverhalten auch auf soziale Un-gleichheiten in der Gesundheit und hierauf bezogenes Verhalten übertragen werden kann.