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2.1.1 Statuserwerbsforschung – Ungleichheit als mehrstufiger Prozess

Für die Erklärung der sozialen Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit geht die Statuserwerbsforschung von einem mehrstufigen Prozess aus, d.h. der Sozialstatus wird über mehrere Etappen im Lebenslauf individuell erworben (Boudon 1974: 21). Auf der ersten Pro-zessstufe durchlaufen Kinder aus Familien mit verschiedenem sozialem Hintergrund mit un-terschiedlichem Erfolg das Bildungssystem, das sie mit mehr oder weniger wertvollen Bil-dungstiteln verlassen. Dieser über das Bildungssystem laufende Prozess, bei dem Kinder aus sozial weniger privilegierten Familien vergleichsweise selten als Gewinner hervorgehen, wird als „inequality of educational opportunity“ (IEO) bezeichnet (Esser 1999: 317).

Auf der zweiten Stufe der intergenerationalen Statusvererbung übersetzen sich unterschied-lich angesehene (Aus-)Bildungsabschlüsse in differentielle arbeitsmarktbezogene Verwer-tungschancen: Im Beschäftigungssystem bringen Hochschulabschlüsse Jobvorteile, die wiede-rum den Boden für eine dem Bildungsgrad entsprechend hohe soziale Positionierung bereiten.

Dieser zweite Ungleichheitsprozess wird als „inequality of social opportunity“ (ISO) bezeich-net. Beide Prozesse zusammen, also IEO und ISO, stellen ein „doppeltes, hintereinander

2 Bei Lebenschancen handelt es sich um ein Konzept zur Analyse gesellschaftlich ungleicher Entfaltungsmög-lichkeiten (Dahrendorf 1979: 92); hier bezieht sich der Begriff auf herkunftsspezifische Chancen zur Verwirkli-chung gesellschaftlich anerkannter Wünsche oder Ziele in den Bereichen Gesundheit und Bildung.

Theoretische Bezüge und Befunde zu sozialen Chancenungleichheiten 12 geordnetes Problem der soziologischen Erklärung“ dar (Esser 1999: 318), wobei ISO im Ge-gensatz zu IEO relativ gut verstanden wird.

Verdienst der Statuserwerbsforschung ist der mithilfe regressionsanalytischer Methoden (Pfadanalysen) erbrachte Nachweis (Blau und Duncan 1967; Sewell et al. 1969; für Deutsch-land, Müller 1975), dass die Sozialstruktur, in Gestalt des elterlichen (väterlichen) Bildungs-grads, kausal auf individuelle Lebenschancen der Kindergeneration (Söhne) wirkt. Da Bil-dung nicht als Erklärungsproblem im Untersuchungsfokus stand, wurden die Theoriemodelle sehr sparsam angelegt (Kristen 1999: 13). Folglich wurden Determinanten sozialer Bildungs-ungleichheiten nur ansatzweise ermittelt. Selbiges gilt teilweise für die aktuelle Bildungsfor-schung, welche soziale und ethnische Kompetenzunterschiede im Grund- und Vorschulalter oftmals nur partiell aufklärt (Kristen 2008). Liefert die Berücksichtigung vorschulischer und vorgeburtlicher Bildungsfaktoren die fehlenden Puzzlestücke zur Vervollständigung des sozi-alen Ungleichheitsbildes? Hierbei handelt es sich letztlich um eine empirisch zu klärende Fra-ge, die in Kapitel 7 beantwortet wird. Aus theoretischer Sicht besteht nach gegenwärtiger For-schungslage nun berechtigterweise Grund anzunehmen, dass vorgeburtliche Bedingungen für den Bildungs- und damit für den sozialen Statuserwerb bedeutsam sind (Jackson 2013). Vor diesem Hintergrund müsste das herkömmlicherweise zwei Stufen umfassende soziale Repro-duktionsmodell um einen entwicklungsbiologischen Übergang erweitert werden, und zwar der Transition von intrauteriner Umwelt (Mutterleib) in die extrauterine Sozialwelt: Der Geburt.

Ausgangspunkt für die soziale (Re-)Produktion sozialer (Bildungs-)Ungleichheiten sind demnach Prozesse, welche zu sozialer Ungleichheit in der entwicklungsbezogenen Ausgangs-lage Neugeborener führen. So ist denkbar, dass nachteilige vorgeburtliche Entwicklungsbe-dingungen individuelle Entwicklungsnachteile zum Zeitpunkt der Geburt (z.B. in Form nied-rigen Geburtsgewichts) begünstigen, welche je nach Schweregrad familiär oder außerfamiliär unternommene Bildungsanstrengungen unterwandern können; mit dem Ergebnis einer sozial differentiellen Gefährdung des Bildungserfolgs zu Ungunsten unterprivilegierter Gruppen.

Konzeptionell kann soziale Ungleichheit zum Lebensbeginn als IE0 und ISO vorgelagertes Erklärungsproblem modelliert und in Anlehnung an Boudons Terminologie als inequality of health opportunity (IHO) bezeichnet werden. Im Fokus dieses dritten Prozessabschnitts steht die in der Regel 40 Wochen dauernde Schwangerschaft. Für das Ungeborene wie für die wer-dende Mutter stellt diese Zeit eine hochvulnerable kritische Lebensphase dar (Siegrist 2005), die entwicklungswidrigen sozialen Umweltbedingungen eine leichte Angriffsfläche bietet, mit womöglich negativen Folgen für die Gesundheits- und Bildungschancen Neugeborener.

In diesem Problemkontext umfasst das in Abbildung 2.1 vorgeschlagene soziale Reproduk-tionsmodell (kurz: iHES-Modell: Inequality of Health, Educational and Social Opportunity) statt der bisher zwei nunmehr drei Stufen. Soziale Unterschiede im Gesundheitsstatus Neuge-borener werden demnach als soziologisches Teilproblem der intergenerationalen Statusverer-bung konzeptualisiert, ein Problem, das für sich genommen aber auch in Bezug auf potentielle Beeinträchtigungen des Bildungserwerbs eine hohe Untersuchungsrelevanz besitzt.

Im Folgenden stellt sich somit die soziologische Aufgabe, die in der Abbildung 2.1 darge-stellten Relationen zwischen den Sozialstrukturgliedern Herkunft – Gesundheit – Bildung theoretisch zu spezifizieren. Hierfür wird der (ungeborene) Nachwuchs als Adressat gesund-heitsbezogener und pädagogischer Maßnahmen auf der einen Seite und die Eltern als primäre und Schulen als sekundäre Vermittlungsinstanzen auf der anderen Seite betrachtet.

Abbildung 2.1: Erklärungsmodell zur sozialen Statusvererbung

IEO

educational opportunity), nicht dargestellt ist der Prozess der Arbeitsmarktplatzierung (inequality of social opportunity).

2.1.2 Humankapitaltheorie – Bildung und Gesundheit als Investition

Mit der Humankapitaltheorie steht ein ökonomischer Zugang zu den Forschungsproblemen zur Verfügung. Bildung und Gesundheit können als Formen humanen Vermögens verstanden werden (Schultz 1961; G.S. Becker 1993). Beide Vermögensformen sind unauflöslich mit dem Körper des Individuums verbunden. In die Entwicklung, Gesundheit und Bildung von Kindern zu investieren lohnt sich nach dem Humankapitalansatz, weil eine Reihe monetärer und nicht-monetärer Erträge im Schul- und Erwachsenenalter an den produktiven Einsatz von Bildung und Gesundheit geknüpft. Bildung und Gesundheit werden primär mithilfe familiärer Entwicklungsinvestitionen von Kindesbeinen an individuell erworben. Der Idee, dass der Er-werb von Bildungs- und Gesundheitsvermögen über die Mitarbeit der Eltern läuft, kommt in anderen Theorien, wie etwa in sozialisationstheoretischen Ansätzen, auch ein zentraler Stel-lenwert zu, wird dort aber, im Gegensatz zum Humankapitalansatz, nicht ausschließlich öko-nomisch begründet, sondern auch über kulturell tradierte bildungs- und gesundheitsbezogene Werte, Normen und Verhaltensweisen (Weber 1994; Jungbauer-Gans 2006).

Theoretische Bezüge und Befunde zu sozialen Chancenungleichheiten 14 Indem der Humankapitalansatz soziokulturelle Bedingungen für kognitive Stimulation und ein gesundes Aufwachsen ausblendet, weist dieser einen vergleichsweise geringen Mehrwert für die Erklärung ungleichheitstheoretischer Fragen und damit eine größere Problemreihe auf:

Da gesundheits- und bildungsbezogene Investitionsneigungen und Akkumulationsbedingun-gen vom sozialen und kulturellen Herkunftskontext abgekoppelt werden, kann die Humanka-pitaltheorie nicht überzeugend erklären, warum Menschen aus sozial weniger begünstigten Gruppen im Mittel eine geringere Investitionsneigung aufweisen und sich entgegen der öko-nomischen Rationalitätsprämisse verhalten (Bourdieu 1983). Eine allgemeine Kosten-Nutzen-Argumentation ohne Einbezug feldspezifischer soziokultureller, psychosozialer und instituti-oneller Handlungsspielräume kann demnach sozial differentielle Gesundheits- und Bildungs-aktivitäten und daraus resultierende Chancenungleichheiten nicht befriedigend erklären.

Es empfiehlt sich daher das zu bildende Theoriegerüst auf ein stärker soziologisch bewähr-tes, sozial differentielle Handlungsrestriktionen in Rechnung stellendes Fundament zu stellen.

Hierfür bietet die Theorie sozialer Produktionsfaktoren (Lindenberg 1989) einen übergeordne-ten handlungstheoretischen Anknüpfungspunkt. Ihre zentrale Annahme lautet, dass Menschen gesundheits- und sozialstatusbezogene Grundbedürfnisse haben. Allerdings ist deren Befrie-digung an günstige sozioökonomische Bedingungen gebunden ist, welche in der Bevölkerung mehr oder weniger ungleich verteilt sind.

2.1.3 Theorie sozialer Produktionsfaktoren – Bildung und Gesundheit als Bedürfnis Die Theorie sozialer Produktionsfaktoren (Lindenberg 2001) postuliert, dass alle Menschen unabhängig ihrer Position im sozialen Ungleichheitsgefüge ähnlich gelagerte bzw. universelle Ziele verfolgen, wie etwa einen hohen Sozialstatus zu erlangen. Analog gehört der Wunsch,

„ein gesundes und langes Leben zu führen, (..) zu den menschlichen Bedürfnissen von hoher Priorität“ (Weber 1994: 195). Die Grundannahme, dass Menschen neben sozioökonomischen Zielen nach physischem Wohlbefinden streben (Lindenberg 2001; Ormel et al. 1997), lässt sich auch auf die Gesundheit und Bildung von Kindern übertragen. Mit der Universalannah-me kann arguUniversalannah-mentiert werden, dass sich alle Eltern nur das Beste für den Nachwuchs wün-schen – in schulischer wie gesundheitlicher Hinsicht. Im Volksmund heißt es daher in Erwar-tung der Ankunft des (ungeborenen) Nachwuchses: Hauptsache gesund! Analog lässt sich für Bildung festhalten: Eltern wünschen sich im Allgemeinen, das heißt schichtübergreifend, eine möglichst gute (Aus-)Bildung für die eigenen Kinder (Geißler 1994: 142).

Ob die in der gesamten Bevölkerung vorhandenen Grundbedürfnisse verwirklicht werden, hängt entscheidend von Verfügbarkeit und Einsatz sogenannter instrumenteller, dem jeweili-gen Universalziel hierarchisch untergeordneter Zwischenziele bzw. Zwischengüter ab. Zu letzteren zählt eine privilegierte Ausstattung mit ökonomischen, kulturellen und sozialen Res-sourcen. Die Sozialschichtzugehörigkeit steckt dabei den Rahmen dafür ab, welche instru-mentellen Zwischenziele bzw. -güter zur Realisierung der Wünsche nach Gesundheit und Bildung ausgewählt und „produktiv eingesetzt werden können“ (für Bildung, Dollmann 2010:

24; für Gesundheit, Ormel et al. 1997). Soziale Ressourcenungleichheiten in der

Elterngenera-tion führen somit in der logischen Konsequenz zu gesundheitlichen und bildungsbezogen Un-gleichheiten in der Kindergeneration.

Wie Chancenunterschiede in den Dimensionen Bildung und Gesundheit erzeugt werden, wird nachfolgend mit zwei in der Ungleichheitsforschung etablierten Ansätzen aufgezeigt.

Den Anfang macht das im internationalen Forschungsraum vielzitierte Konzept primärer und sekundärer sozialer Herkunftseffekte nach Raymond Boudon (Abschnitt 2.2), das sich her-kömmlicherweise auf soziale Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung (2.1.1) aber auch auf Gesundheit anwenden lässt (2.1.2). Im Anschluss wird auf Pierre Bourdieus Kapital- und Ha-bitustheorie für eine tiefergehende Ungleichheitserklärung zurückgegriffen (Abschnitt 2.3).