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2.2 Boudon’s mikrosoziologischer Erklärungsansatz

2.2.2 Herkunft und Gesundheit

Analog zu Bildung eröffnet Gesundheit soziale Teilhabe und gilt als Resultat der Interaktion zwischen sozialen Prozessen und erblicher Veranlagung (Weber 1994: 195 f.). Boudon‘s Konzept kann somit auf den ersten Blick relativ einfach auf die soziale Strukturierung von Gesundheit bezogen werden, obgleich die Begriffe primäre und sekundäre soziale Herkunfts-effekte nicht analog in der Gesundheitsforschung verwendet werden.

Im Sinne primärer sozialer Herkunftseffekte beeinflusst die familiäre Ausstattung mit öko-nomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen, vermittelt über differentielle Lebensbedin-gungen und Handlungsspielräume, die gesunde Entwicklung von Kindern. Ungünstige soziale Umwelteinflüsse begünstigen dabei soziale Differenzen im Gesundheitsstatus – wie die vor-liegende Arbeit mit Blick auf sozialdifferentielle Risiken für a) eine Frühgeburt oder niedriges Geburtsgewicht sowie b) die Schulfähigkeit zum Zeitpunkt der Einschulung belegt. Im Sinne sekundärer Effekte der sozialen Herkunft auf Gesundheit spielen mit der sozioökonomischen Situation verknüpfte Gesundheitsdispositionen und Verhaltensweisen der Eltern in Bezug auf die Inanspruchnahme des Gesundheitsversorgungssystems eine zentrale Rolle. Je nach sozia-ler Schichtzugehörigkeit bestehen bedeutsame Unterschiede im alltäglichen Umgang mit Ge-sundheit (Herzlich 1973; Sperlich und Mielck 2003; Faltermaier 1994), welche sich mit Blick auf das Risikohandeln aber nur bedingt rationaltheoretisch begreifen lassen:

„Ob man Zigaretten oder Alkohol konsumiert, ist häufig gewohnheitsmäßig gesteuert und wird selten noch eigens im Hinblick auf mögliche Folgen reflektiert. Ob man in seiner individuellen Zeitplanung Entspan-nungs- und Regenerationsmöglichkeiten vorsieht, beruht selten auf einem rationalen Kalkül unter Abwägung körperlicher Langzeitfolgen. Ähnlich festgefahren sind in der Regel Verhaltensweisen wie körperliche Akti-vität, Verhalten im Straßenverkehr und andere.“ (Weber 1994: 197)

Auf den zweiten Blick fällt es somit im Vergleich zu Bildung schwerer, Gesundheit theore-tisch als Entscheidung bzw. sekundären sozialen Herkunftseffekt zu konzeptualisieren, nicht zuletzt aus dem Grund, weil es zu Gesundheit als menschliches Grundbedürfnis im Allgemei-nen keine erstrebenswerte Alternative gibt – im Unterschied zur herkunftsspezifischen Wahl eines kürzeren (weniger Kosten verursachenden) oder längeren (kostenintensiveren, an-spruchsvolleren und daher auch unsichereren) Bildungsweges. Nichtsdestotrotz bestehen im Bereich Gesundheit im Sinne sekundärer sozialer Herkunftseffekte Analogien zum Bildungs-bereich. Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit wird maßgeblich vom sozialen,

kulturel-Theoretische Bezüge und Befunde zu sozialen Chancenungleichheiten 20 len (und religiösen) Kontext beeinflusst (Faltermaier 2009: 49). So prägt die soziale Herkunft das subjektive Denken über Gesundheit, einschließlich hieraus folgender Verhaltensweisen:

Untere Sozialschichten sehen nicht nur die Einnahme eines hohen Sozialstatus eher als eine Frage des persönlichen Glücks an (Boudon 1974: 21; Hyman 1953), sondern begreifen auch die eigene Gesundheit häufiger als Schicksal, auf das sie selbst nur wenig Einfluss und Kon-trolle ausüben können (gesundheitsbezogenen Selbstwirksamkeits- bzw. Kontrollüberzeugun-gen, siehe Sperlich und Mielck 2003). In Abgrenzung zu solchen fatalistischen Gesundheits-einstellungen lassen sich gesundheitsförderliche Dispositionen (Präventionsneigung, ausge-wogene Ernährung, minimaler Alkoholkonsum, ausreichend Bewegung, Verzicht auf Rau-chen und sonstigen Substanzkonsum) eher intentional verstehen, obgleich sich die Formie-rung gesundheitsförderlicher Dispositionen – wie auch das Risikohandeln – im Zuge der Pri-märsozialisation vollzieht und damit stark vom soziokulturellen Kontext abhängt, so dass sich erlernte gesundheitsbezogene Orientierungen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen zum Teil dem Bewusstsein entziehen (Weber 1994: 197).

„Symptomaufmerksamkeit und präventive Einstellung sind Korrelate eines Orientierungsmusters, das sich als

‚individuelle Zukunftsorientierung‘ beschreiben lässt. Eine solche Einstellung, für die etwa ein langfristiges Planen der eigenen Lebensführung zentral ist, resultiert aber hauptsächlich aus mittelschichtspezifischen Er-ziehungspraktiken. Angehörige unterer Sozialschichten legen demgegenüber mehr Wert auf gegenwartsnahe [eher kurzfristig wirksame] Techniken der Situationsbewältigung [wie etwa stressinduzierter Zigarettenkon-sum]. Sie klassifizieren auch häufiger als Angehörige anderer Sozialschichten Krankheiten als ‚Schicksals-schläge‘.“(Weber 1994: 197)

Neben herkunftsabhängigen Gesundheitseinstellungen verweist dieses Zitat auf sozial-schichtspezifische Zukunftsorientierungen, wie sie in ähnlicher Weise, obgleich mit stärkerer Betonung materieller Größen, auch die an Boudon anknüpfende Bildungsforschung in Bezug auf herkunftsspezifische Zeithorizonte bei der Planung von Bildungskarrieren thematisiert:

„Arbeiterschichten sind hierbei im Nachteil: Erstens erzwingt bei ihnen der Kostendruck einen kurzen Zeitho-rizont, wodurch sie von einer längeren Ausbildung an Universitäten abgelenkt werden. Zweitens schränken geringer eingeschätzte Erfolgswahrscheinlichkeiten den Zeithorizont auf kürzere und weniger anspruchsvolle Bildungswege ein.“ (R. Becker 2011: 114, sich auf Hillmert und Jacob 2013 beziehend).

Übertragen auf den Gesundheitskontext heißt das, dass neben herkunftsspezifischen Präferen-zen für kurzfristig wirksame wie potentiell gesundheitsabträgliche Stressbewältigungsformen vermutlich auch materielle Restriktionen (Geld; indirekt: Zeit), welche das Ausüben langfris-tig gesundheitswirksamer Entspannungstechniken behindern, eine erklärende Rolle spielen.

Von möglicherweise übergeordneter Bedeutsamkeit könnte sich in Fragen der Kindesgesund-heit jedoch das Motiv des Statuserhalts erweisen. Für diese These spricht die in oberen sozia-len Schichten eher überlegte (geplante) Familiengründung, welche in Erwartung des Eintritts der Schwangerschaft schon Wochen und teils Monate vor der Empfängnis mit der Umstellung der gesundheitlichen Lebensführung vorbereitet wird, mit dem Ziel, verhaltensbedingte Ge-fahren für das gesundheitliche Wohl des sich in utero entwickelnden Embryos bzw. heranrei-fenden Fötus von vornherein auszuschließen. In diesem Sinn beinhaltet die Verantwortung der (werdenden) Mutter jedes Risiko für das ungeborene Leben zu vermeiden, um dem

Nachwuchs einen bestmöglichen Start ins Leben zu ermöglichen. Obere Bildungsschichten entwickeln aufgrund umfangreicherer Wissensbestände zu Schwangerschaft und Geburt ver-mutlich realistischere Vorstellungen zu verhaltensgebundenen Komplikationen, welche die Entwicklung des ungeborenen Kindes gefährden (zur Schichtspezifik gesundheitsbezogener Wahrnehmungsschemata, Abel 2009 und Faltermaier 1994). Dass der Grundstein für den spä-teren Kompetenz-, Bildungs- und Statuserwerb bereits im Mutterleib gelegt wird, dürfte in den vorausschauenden Überlegungen zum frühen Verzicht auf Substanzkonsum oder der In-anspruchnahme der Schwangerenvorsorgeuntersuchungen, welche von werdenden Müttern aus oberen Bildungsschichten im Mittel frühzeitiger und in der Regel auch kontinuierlicher genutzt werden (Tietze et al. 1982), bewusst oder unbewusst eine Rolle spielen. Analog kann für die sozial selektive Nutzung der U-Untersuchungen für Kinder argumentiert werden.

Schließlich ist im Sinne sekundärer sozialer Herkunftseffekte denkbar, dass die Gesundheit von Kindern beim Eintritt in das Bildungssystem ein zentrales Entscheidungskriterium dar-stellt. Je nach sozialer Positionierung könnten Eltern schulpflichtiger bzw. schulpflichtig wer-dender Kinder die physische und psychische Entwicklungsbiographie des Kindes als Ent-scheidungskriterium für den Zeitpunkt des Schuleintritts heranziehen und bei der Frage Früh-, Regel- oder Späteinschulung differentielle Bewertungen vornehmen. Bei gleichem Entwick-lungsstatus, schlechtem wie guten, könnten in Abhängigkeit der Schichtzugehörigkeit unter-schiedlich ambitionierte Schuleingangsentscheidungen getroffen werden. Ressourcenstärkere Oberschichteltern könnten gegenüber ressourcenschwächeren Schichten eher die ambitionier-tere Früheinschulung anstreben und sich (je nach Grad der institutionellen Beschränkung des Elternwillens) auch eher über eine schulärztliche Empfehlung für eine Regeleinschulung hin-wegsetzen. Denn entscheidungstheoretisch implizieren Ressourcenvorteile bessere Möglich-keiten zur Entwicklungsförderung, welche wiederum das subjektiv wahrgenommene Risiko für das Auftreten von Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Transition in die Grundschule reduzieren. Oberschichteltern könnten also demnach das Risiko für schulanfängliche Schwie-rigkeiten als kalkulierbar bzw. beherrschbarer einschätzen. Ebenso denkbar ist, dass bei sub-optimaler Schulfähigkeit Eltern aus oberen Sozialschichten, im Vergleich zu Eltern aus unte-ren Schichten, eher für eine Spät- statt Regeleinschulung optieunte-ren, um ein Jahr wertvolle Zeit für den Ausgleich schulfähigkeitsbezogener Nachteile zu gewinnen, so dass der Nachwuchs mit optimalen Voraussetzungen die Schullaufbahn und das Elternprojekt Statuserhalt antritt.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Bildungs- und Gesundheitsunterschiede zwi-schen verschiedenen Bevölkerungsgruppen als Ergebnis des Wechselspiels primärer und se-kundärer sozialer Herkunftseffekte betrachtet werden können. Im Unterschied zu Bildung und Bildungsverhalten lässt sich gesundheitsschädigendes Verhalten jedoch mit Boudon weniger überzeugend rationaltheoretisch begründen, wie etwa mit Blick auf in unteren Schichten stär-ker ausgeprägtes Risikohandeln (Rauchen während der Schwangerschaft), das sich plausibler mit sozialisations- und habitustheoretischen Konzepten verstehen lässt. Weitere Kritikpunkte an Boudons Theorie beziehen sich zum einen darauf, dass keine tiefergehenden Erklärungen für die Entstehung schichtspezifischer Leistungsdisparitäten (primärer sozialer

Herkunftsef-Theoretische Bezüge und Befunde zu sozialen Chancenungleichheiten 22 fekt) angeboten werden (Maaz 2006: 54). Zum anderen blendet Boudon die Meso-Ebene und damit den institutionellen Ungleichheitsbeitrag des Bildungswesens, wie ihn Bourdieu und Passeron (1971) unterstellen, aus (Becker 2011: 113).

Begibt man sich nun mit Bourdieu auf Suche nach den frühen Ungleichheitsmechanismen setzt diese aufgrund der existenziellen Abhängigkeit des Nachwuchses von der Fürsorge und den Lebensbedingungen der Eltern sinnvollerweise zunächst beim Elternhaus an und ist so-dann auszuweiten auf das Unterrichtssystem, in dem Individual- und Familienmerkmale auf sozial differentielle Weise schulerfolgswirksam werden. Auf welche Weise Familie und Schule Lebenschancen strukturieren, wird nun im Folgenden mit Bourdieus gesellschaftstheo-retischem Ansatz anhand seiner Grundformel „Struktur-Habitus-Praxis“ dargestellt.