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2.3 Bourdieus gesellschaftstheoretischer Erklärungsansatz

2.3.3 Der Ungleichheitsbeitrag des Unterrichtssystems

Bourdieu zufolge tragen in modernen Gesellschaften die mit der Bildung von Kindern beauf-tragten Institutionen – entgegen der bildungspolitischen Hoffnung Chancengleichheit zu för-dern – zur Reproduktion kultureller Ungleichheitsstrukturen und, da Kulturkapital auf Märk-ten in Geld konvertierbar ist, sozioökonomischer VerteilungsungleichheiMärk-ten bei. So fungiert das Unterrichtssystem nicht nur als Kulturvermittler, sondern auch als Übermittler von sozia-len Privilegien, indem es „hinter dem Mantel der Neutralität“ (Bourdieu 1973: 93) mit einer schichtspezifischen Auslese dafür sorgt, dass das „kulturelle Kapital wieder zum kulturellen Kapital wandert“ (ebd. 96). Die Reproduktion kultureller Kapitalunterschiede zwischen den sozialen Klassen erfolgt durch institutionelles Unterlassen. So stellt die Schule nicht oder nicht in methodisch angemessener Weise die Instrumente zur Aneignung der kulturellen Lerninhalte bereit, setzt gleichwohl aber ihren individuellen Besitz voraus (Bourdieu 1973:

103). Den während der pädagogischen Kommunikation im Klassenraum eingeprägten und in Leistungskontrollen überprüften Lehrstoff können somit in der Regel nur jene Schülerinnen und Schüler voll und damit zur vollsten Zufriedenheit der Lehrkräfte erfassen, die im Vorfeld der Schule mit der „legitimen“ Kultur und entsprechender Praktiken vertraut gemacht wurden – also aus der „kultivierten“ oberen sozialen Klasse stammende Schüler. Aus dieser Perspek-tive wird das Unterrichtssystem zum Monopol derjenigen Familien, welche es aus eigener Kraft, das heißt „mit eigenen Mitteln“ schaffen, die zur Aneignung der herrschenden Kultur notwendigen Instrumente an ihren Nachwuchs weiterzugeben (Bourdieu 1973: 103).

Primär zuständig für die pädagogische Vorarbeit ist nach Bourdieu die Familie, welche in Eigenregie, zumeist unbewusst (Bourdieu 1983) und in Abhängigkeit der ökonomischen, kul-turellen und sozialen Kapitalausstattung mehr oder weniger früh und kontinuierlich lernrele-vante „Investitionen an Zeit, Mühe und Geld“ (Bourdieu 1973: 106) in die Akkulturation des Kindes tätigt. Schülerinnen und Schüler, die die relativ komplexen (Sprach-)„Codes“ (1973:

102) bzw. kulturellen Interpretationsschemata zur symbolischen Entschlüsselung von künstle-rischen, literarischen oder historischen Werken besitzen und beherrschen, demonstrieren im

Durchschnitt auch bessere Leistungen, was der Schulbetrieb mit guten Noten, günstigen Beur-teilungen, ausdrücklichen Empfehlungen für weiterführende Schulen sowie mit der Vergabe gesellschaftlich angesehener Bildungszertifikate entsprechend positiv sanktioniert.

Erfolg im Bildungssystem basiert also nach Bourdieu auf der Passung zwischen familiärer Herkunfts- und Unterrichtskultur, weshalb sich besonders jene Gruppe schulisch im Nachteil befindet, deren Familie die größte kulturelle Distanz zum Unterrichtssystem aufweist – in Klassengesellschaften demnach Kinder der Arbeiterklasse. Die Ungleichheitsreproduktion über das Bildungssystem erweist sich dabei als umso „vollkommener, je näher die Kultur, die es übermittelt, der herrschenden Kultur steht und je ähnlicher die Einprägungsweise, derer es sich bedient, der familiären Einprägungsweise ist.“(Bourdieu 1973: 103). In der Konsequenz zieht am Ende der Schulzeit nur eine Minderheit der Arbeiterfamilien eine positive Erfolgsbi-lanz, wofür ein sozial verzerrtes Bewertungsverhalten der Lehrerschaft mitverantwortlich ist.

Die Bildungschancen des Nachwuchses aus sozial unterprivilegierten Familien werden also auch unabhängig von den demonstrierten Leistungen und Fähigkeiten institutionell beein-trächtigt. Privilegierte Kinder aus sozial begünstigten Elternhäusern werden jedoch nicht mit Vorsatz bevorteilt. Vielmehr fließen in die Bewertung schulischer Leistungen, Begabungen und Ambitionen von Lehrern und Lehrerinnen, welche mehrheitlich selbst sozial begünstigen Klassen entstammen, „mehr oder weniger unbewusst und ungeplant [der Lebens- und Erfah-rungswelt höherer Schichten entsprechende] Kriterien, Wertorientierungen und sozialpsycho-logische Mechanismen [der Anpassung an Leistungserwartungen der Lehrkräfte] hinein, die sich aufsummieren und schließlich die Kinder aus der Mittelschicht tendenziell begünstigen.“

(Geißler 1994: 147). So unterliegen ungleich milde Notenvergaben und Empfehlungen für weiterführende Schulen einer Reihe schichtspezifischer Verzerrungen (für einen Überblick, Ditton 2005), so dass Arbeiterkinder, um im Bildungssystem erfolgreich zu sein, sogar „ein Übersoll an Leistungen erbringen [müssen]“ (Geißler 1994: 146).

Neben der an Leistungskriterien sowie leistungsfremden Verhaltenskriterien orientierten Fremdselektion weisen Bourdieu und Passeron (1971) auf einen weiteren Selektionsmecha-nismus hin: Den Prozess der Selbsteliminierung. So nehmen sich Arbeiterkinder selbst bzw.

auf Wunsch ihrer Familien früher aus dem Bildungssystem, indem sie sich selbst bei ausrei-chenden Leistungen für weiterführende Bildungswege eher gegen diese entscheiden, was teils weniger bildungsorientierten Dispositionen, teils aber auch den weniger ermutigenden Bil-dungserfahrungen mit den verzerrten „Verdikten der Prüfungsinstanzen“ (ebd. 180) geschul-det sein kann. Vor diesem Hintergrund trägt also das Unterrichtssystem durch ein offiziell demokratisches Ausleseverfahren, das auf meritokratischen Kriterien individueller Leistung, Anstrengung und Bildungseifer, welche allesamt untrennbar mit der sozialen Herkunft ver-bunden sind, basieren soll, faktisch jedoch einer klassenspezifischen Selektionslogik folgt, zur intergenerationalen Reproduktion von Bildungsungleichheiten bei, und zwar nicht allein in Frankreich, sondern insbesondere in Deutschland, wo sich die Schule angesichts des – im internationalen Vergleich – hohen Ausmaß sozialer Selektivität „trotz aller Reformversuche

Theoretische Bezüge und Befunde zu sozialen Chancenungleichheiten 32 [z.B. Einrichtung von Gesamtschulen] (…) auch heute noch weitgehend als ‚Mittelklasseinsti-tution‘ dar[stellt].“ (Geißler 1994: 148).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Bourdieus kultur- und sozialkapitaltheoreti-sche Annahmen zur Spezifizierung primärer sozialer Effekte der Herkunft auf den Schulerfolg tiefere Einblicke in kulturelle Transmissionsprozesse zwischen Eltern- und Kindgeneration ermöglichen (Sullivan 2001; Georg 2005). Auch in der Gesundheitsforschung gilt Bourdieus Reproduktionstheorie als fruchtbar, um zu verstehen, wie differentielle gesundheitliche Dis-positionen und Praxen die Entstehung sozialer Gradienten im Krankheits- und Sterbegesche-hen begünstigen (Abel 2009; Williams et al. 1995).

Neben diesen Meriten zeigt und klärt Bourdieu jedoch, so die hier kurz angerissene inter-nationale Kritik (für einen Überblick Georg 2005), nur begrenzt auf, wie sich Sozialisations-prozesse und die damit verknüpfte Habitusgenese im Detail vollziehen (Maaz 2006: 66). Die-ser zentrale Kritikpunkt macht sich jedoch nicht nur an theoretischen Aussparungen fest, son-dern auch an einer „ungenügende[n] Modellierung des unterstellten Wirkungsmechanismus“

(Georg 2005: 188, Hervorhebung im Original) durch die Berechnung einfacher Assoziati-onsmaße, die Bourdieu statistisch halfen, die vermuteten Relationen zwischen der sozialen Klassenstellung auf der einen Seite und den Schulleistungen der Kinder sowie hochkulturel-len Familienpraktiken auf der anderen empirisch zu unterfüttern: „Die dazwischenliegende Kausalkette (…) wurde von Bourdieu interpretativ geschlossen, was jedoch nicht als empiri-scher Nachweis im engeren Sinne angesehen werden kann“ (Georg 2005: 188).

Probleme, welche mit der empirischen Modellierung und Messung der einzelnen kausal-theoretischen Glieder verknüpft sind, finden sich aber nicht nur bei Bourdieu, sondern auch bei jenen, die die von Bourdieu vorgeschlagenen sozialen Reproduktionsmechanismen bele-gen oder widerlebele-gen möchten (für einen Überblick siehe Georg 2005 oder Maaz 2006). Ein weiterer aus dem bildungssoziologischen Bereich der Übergangsforschung stammende Kri-tikpunkt an Bourdieus reproduktionstheoretischen Ansatz bezieht sich berechtigter Weise darauf, dass sich dieser (gegenüber dem mikrosoziologischen Ansatz Boudons) nur begrenzt eignet, aufzuzeigen, wie in stratifizierten Bildungssystemen an institutionell festgelegten Ver-zweigungen herkunftsspezifische Bildungsentscheidungen getroffen werden, welche im Ag-gregat zu dem Phänomen einer sozial ungleichen Bildungsbeteiligung führen (Maaz 2006: 61;

vgl. Dollmann 2010).

Des Weiteren werden Bourdieus Ausführungen zum Ungleichheitsbeitrag des Unterrichts-systems eher kritisch bewertet, da hierfür harte empirische „Belege fehlen, die zeigen, dass die institutionelle Wertordnung, die geforderten Sprachcodes und die Verkehrsformen in der Schule, die vordergründig an den Normen der Mittelschicht orientiert sind, auf sozial weniger begünstigte Gruppen diskriminierend wirken“ (Maaz 2006: 66).

Insgesamt werden schichtspezifische Effekte der Institution Schule in der Forschungslitera-tur zu herkunftsspezifischen Bildungsungleichheiten somit uneinheitlich betrachtet. Auf der einen Seite steht die konflikttheoretische Position Bourdieus, gemäß welcher die Schule einen signifikanten Anteil bei der Reproduktion bzw. Verstärkung herkunftsspezifischer

Bildungs-ungleichheiten trägt, während auf der anderen Seite dem Bildungswesen eine „ungleichheits-minimierende Funktion“ (ebd.: 62) zugeschrieben wird (DiMaggio 1982).

Auch wenn dieser Widerspruch hier nicht aufgelöst werden kann, kann die unter anderem durch die PISA-Studien belegte Fortdauer der sozialen und ethnischen Differenzen im deut-schen Bildungswesen (Baumert et al. 2003; Georg 2005) sowie die Befunde zu sozial diffe-rentiellen Notenvergaben (Ditton 2005) Anlass für konflikttheoretische Problemperspektiven geben. Obgleich die Strukturmuster nicht unbedingt konflikttheoretisch gedeutet werden müs-sen, können sie zumindest angesehen werden als Beleg dafür, dass die Schule nach wie vor vor inklusiven Herausforderungen im Zusammenhang mit soziokultureller (Diefenbach 2011) und auch gesundheitlicher Heterogenität steht (Wolke und Meyer 1999).

Gerade für das Verständnis gesundheitsbezogener Nachteile und ihre potentiell negativen Folgen für den Bildungserfolg kann Bourdieus analytischer Zugang weiterhelfen. Insbesonde-re seine in den Mediationen (Bourdieu 2013) enthaltenen – obgleich zugegebenermaßen Insbesonde-recht abstrakten (Müller 2014: 38) – Überlegungen zum Erwerb des Habitus eröffnen den Zugang zu einem von der Bildungsforschung bislang unbetretenen interdisziplinären Pfad der interge-nerationalen Transmission von Lebenschancen zum Lebensbeginn. Das Potential der Repro-duktionstheorie Bourdieus ist somit bei Weitem nicht ausgeschöpft.

Im nachfolgenden Kapitel wird dieser auf frühbiographisch wirksame Umweltbedingungen abstellende körpersoziologische Reproduktionsmechanismus, den Bourdieu (2013) auf die (recht einfache) Gleichung Disposition = Exposition bringt, mithilfe des sozialepidemiologi-schen Lebenslaufansatzes weiter spezifiziert und plausibilisiert.